Publikation Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie - Globalisierung Der Sozialismus im 21. Jahrhundert – wie wird er sein?

Seminarbericht vom Europäischen Sozialforum (ESF) 2006 in Athen. Von Lutz Brangsch.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Lutz Brangsch,

Erschienen

Mai 2006

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Seminarbericht vom Europäischen Sozialforum (ESF) 2006 in Athen. Von Lutz Brangsch.

Gleich mehrfach findet sich im Programm des Sozialforums die Formulierung vom »Sozialismus im 21. Jahrhundert« in den Veranstaltungsankündigungen und in Trägerschaft sehr unterschiedlicher Organisationen. Sollte dies tatsächlich bedeuten, dass es zu einer neuen und breiten Diskussion gesellschaftlicher Perspektiven kommt? Diese Frage kann auch nach diesen Veranstaltungen nicht beantwortet werden. Folgt man den Angeboten an den Ständen der Organisationen, so scheint es eher so, dass das, was schon immer gesagt wurde, nun verpackt in einer neuen Losung präsentiert wird.

Diese gewisse Ratlosigkeit hinsichtlich handhabbarer Konzepte, die tatsächlich die Frage nach der Qualität einer neuen Gesellschaft unter neuen Bedingungen angehen, spiegelte sich auch in einer von der rls und dem Netzwerk transform! unterstützten Veranstaltung am zweiten Tag des Forums wider. Unter dem Titel »Sozialismus, Kommunismus und die menschliche Emanzipation im 21. Jahrhundert« diskutierten WissenschaftlerInnen aus Griechenland, Russland, Italien, Frankreich und Deutschland Fragen des Umgangs mit der Vergangenheit, Konsequenzen aus den Erfahrungen des Realsozialismus und der Arbeiterbewegung in ihrer Breite und mögliche Eckpunkte eines gesellschaftlichen Wandels.

Haris Golemnis von der Nikos-Poulantzas-Gesellschaft sprach in seinen einleitenden Bemerkungen von der Notwendigkeit der Neubegründung der eigenen Konzepte bei gleichzeitiger Beantwortung »alter« Fragen, die sich unter den Bedingungen einer neuen Phase kapitalistischer Entwicklung nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ergibt. Zu diesen »alten Fragen« zählen für ihn: Die Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus in einem Land, die Frage nach dem Weg eines sozialistischen Umgestaltung - Reform und/oder Revolution, die Rolle des gewaltsamen Umsturzes - die Rolle des Staates, von Parteien und Bewegungen. Auch ginge es darum, die neuen Erfahrungen in Lateinamerika einer gründlichen Analyse zu unterziehen.

Die Beiträge der DiskussionsteilnehmerInnen konzentrierten sich freilich vor allem auf die Bewertung der Erfahrungen des Realsozialismus. Die scheinbare Einigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit, aus den Fehlern und den Verbrechen im Sozialismus zu lernen wurde allerdings durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in Frage gestellt.

Dies geschieht etwa bei der Frage nach dem Zusammenhang von Fehler/Verbrechen und Errungenschaften des Sozialismus: Stehen sie nebeneinander, sind sie miteinander verbunden oder müssen sie als Momente der Totalität eines historisch konkreten gescheiterten Gesellschaftsprojektes verstanden werden? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht akademischer Natur, sie berührt praktische Kernfragen des Konzeptes einer linken Bewegung. Sieht man sie nebeneinander stehend, so scheint das Scheitern des Gesellschaftssystems und der Bewegung vor allem als eine Reihe von Fehlentscheidungen von Personen - hätten nur die richtigen Leute im Politbüro gesessen, wäre auch alles gut gegangen. Auch die zweite Sichtweise, bei der Fehler und Errungenschaften sich gegenseitig bedingen, erfasst die Widersprüche nur verkürzt. Hier wird ebenfalls der Eindruck erweckt, als ob nur kleine Umsteuerungen zu völlig anderen Ergebnissen hätten führen können. In der Diskussion wurde dies deutlich, indem die Eigentumsfrage als zentrale Frage herausgehoben und dabei der Privatisierung abstrakt die Vergesellschaftung als Gegenstrategie entgegengestellt wurde. Dem wurde entgegengehalten, dass sowohl die Erfahrungen des Realsozialismus als auch die aus dem Umgang mit öffentlichem Eigentum in der Gegenwart (man denke an den Berliner Bankenskandal) zeigten, dass Bewahrung öffentlichen bzw. gesellschaftlichen Eigentums mehr braucht als den einfachen Willen, etwas unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Man muss fähig sein, diese öffentliche Kontrolle auch zu organisieren und Menschen müssen die Möglichkeit der Einflussnahme nutzen können und wollen.

Allein die Vielfalt der in diesem einfachen Zusammenhang wirkenden Faktoren legt die Vermutung nah, dass die Sichtweise auf das Scheitern des Sozialismus als Prozess in seiner Totalität immer noch die weitreichendsten Ergebnisse bringt. Nicht einfach Fehler/Verbrechen und Errungenschaften nebeneinander gestellt sehen, sondern Aufstieg und Fall des Realsozialismus als sich gegenseitig bedingende Prozesse zu verstehen, an denen niemand nicht beteiligt seien konnte, in denen nichts einfach »gut« oder »schlecht« ist, könnte ein Ansatz sein, der den Blick für die Breite der Konsequenzen des Scheiterns öffnet. Vor allem würde dies dazu anregen, die in den Organisationen liegenden Ursachen mit größerer Ernsthaftigkeit als praktisches und immer wieder aktuelles Problem zu betrachten: insbesondere die fehlende innere Demokratie, die konsequente Demokratie in der Gesellschaft letztlich unmöglich machte. Linke können das Scheitern des Sozialismus nicht analysieren, ohne dieses Scheitern auch als eigenes Scheitern zu verstehen. Das ist schwierig, spielte doch der im Thema des Seminars benutzte Begriff des Humanismus im 21. Jahrhundert in der Diskussion kaum eine Rolle.

Unter diesem Gesichtspunkt wird auch deutlich, dass Sozialismus eben nicht nur als gesellschaftspolitisches Konzept, sondern geradezu als Vorbedingung des Politischen als ein Wertehaushalt verstanden werden muss. Stellt man freilich Fehler und Errungenschaften »nur« nebeneinander oder erklärt sie auch »nur« miteinander zusammenhängend, kommt man eben zu einer verkürzten Sicht, die letztlich Fragen von Verantwortung und der Einheit von Sozialismus und Humanismus ausblendet. Kritikfähigkeit, so eine der Aussagen, sei ein entscheidendes Bestandteil neuen Denkens und Ansatz für revolutionäre Reformen.

Unter diesem Gesichtspunkt wurden eine Reihe gesellschaftlicher Prozesse und sozialer Bewegungen hervorgehoben, die in früheren Jahren von größeren Teilen der Linken ausgegrenzt wurden, heute aber als Traditionen und Ansatzpunkte linker Politik betrachtet werden müssen: so der Feminismus, die Umweltbewegung, die indigenen Bewegungen. Offen blieb freilich, welche Konsequenzen sich daraus ergeben.

Was bleibt also für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Wir wissen viel darüber, wie er nicht sein sollte, wir wissen, dass er emanzipatorisch und demokratisch sein sollte. Wir wissen, dass er mit den Organisationen, wie sie sind, nicht zu erreichen sein wird. Viel mehr wissen wir nicht – außer, dass noch ein großer Schub an kritischer Utopiefähigkeit nötig sein wird. Darum sollte man jede Diskussion, die sich als Diskussion über Zukunft versteht, begrüßen - gerade auf den Sozialforen, die ja ein Ort des Nachdenkens und Lernens sein sollen. Halten wir uns dabei in unseren Diskussionen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Sozialismus mit einem angemessenen Maß an Selbstkritik- und Utopiefähigkeit gleichermaßen an Marx:

„Jedenfalls geht der Demokrat ebenso makellos aus der schmählichsten Niederlage heraus, wie er unschuldig in sie hineingegangen ist, mit der neugewonnen Überzeugung, dass er siegen muß, nicht dass er selbst und seine Partei den alten Standpunkt aufzugeben, sondern umgekehrt, dass die Verhältnisse ihm entgegenzureifen haben… Proletarische Revolutionen…kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche…» (Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte; MEW Bd.8 S. 145ff.)