Langfassung des Beitrags von Dr. Klaus Lederer auf dem Gesellschaftspolitischen Forum "Linke in Regierungen zwischen Anspruch und realem Handeln" in der Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin, 4. Februar 2006.
Um die für dieses Panel gestellte Frage gleich vorweg zu beantworten: Selbstverständlich ist eine Kooperation möglich. Wenn beide beteiligten Seiten das wollen, warum sollte man nicht miteinander kooperieren? Auf dieser Abstraktionsebene ist das Thema damit eigentlich erschöpfend behandelt; alles Weitere ist dann wohl eine Frage der konkreten Praxis. Ungern würde ich jedoch bei diesem Allgemeinplatz stehen bleiben und mache mich deshalb auf die Suche nach der „Frage hinter der Frage“: Warum kriegt man eine solche Frage gestellt?
Besser passt da doch schon das, was der Einladung zum heutigen Forum vorangestellt ist:
In welchem Verhältnis steht der Kampf um die Hegemonie der Linken in der Gesellschaft und die Schaffung neuer Kräfteverhältnisse und Bündnisse zur Arbeit in Parlamenten und vor allem in Regierungen? Unter welchen Bedingungen und in welcher Form ist Regierungsbeteiligung als sozialistische Politik möglich? Welche Anforderungen an Kooperation und Aufgabenverteilung ergeben sich daraus? Welche Konflikte müssen wie ausgetragen werden?
Es ist völlig klar, dass ich die genannten Fragen als Vertreter einer Partei thematisiere, die sich gegenwärtig in einer Landesregierung befindet, dafür – aus Gewerkschaften, Initiativen und auch von der Berliner WASG – arg kritisiert wird. Opposition statt Koalition – das wird hier in Berlin inzwischen von der WASG zum Dreh- & Angelpunkt für Neubildung und Wahlantritt gemacht. Nichtsdestotrotz steht meine Partei vor der Frage: Wie soll es hier in Berlin nach der September-Wahl konkret weitergehen und welche Funktion haben wir dabei? Deshalb sehe ich mich gezwungen, etwas auszuholen, wenn wir uns den Dilemmata des politischen Alltags zuwenden.
I.
Eingangs will ich festhalten, dass unsere Debatte – so erbittert und scharf sie auch immer wieder geführt werden mag – weder eine besonders neue Debatte noch eine solche ist, die Linke in unserem Begriffsverständnis für sich gepachtet hat. Mitte der Neunziger Jahre hat Michail Nelken in der Zeitschrift disput darauf hingewiesen, dass diese „Gretchenfrage sozialistischer Politik als Ziel-Weg-Mittel-Dialektik eine Grundfrage moderner Politik überhaupt“ ist. Jeder Bürgerverein, jede Elternvertretung, jede Gewerkschaft kennt diese Kontroverse. Überall, wo gemeinsame abstrakte Werte und Ziele formuliert werden, taucht beim Streit um deren Durchsetzung die Frage auf, wie man – angesichts vieler widersprüchlicher und gegenläufiger Ziele, Werte & vor allem materieller Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft – strategische Autonomie bewahren, „Kurs halten“, erkennbar bleiben, seine Identität sichern, seine Basis erhalten bzw. ausbauen & hinter dem eigenen Agieren möglichst stabil versammeln, also „integrieren“, kann. Ohne eine solche Integrationskraft, ohne diese Erkennbarkeit (in Abgrenzung von anderen) kann keine politische Formation bestehen und sich weiterentwickeln, geschweige denn in gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eingreifen.
Je bunter, unübersichtlicher, wirrer sich die Gesellschaft für die einzelnen Individuen als Träger politischer Formation darstellt, desto schwieriger ist es, eine solche integrative Wirkung innerhalb einer Formation zu erzeugen und zu erhalten. Es muss dennoch immer wieder gelingen, sonst ist die Formation in ihrer Existenz bedroht oder löst sich auf. Denken wir beispielsweise daran, dass sich Agenda-2010-Politik & sozialdemokratisch-vulgärmarxistische Anti-Heuschrecken-Rhetorik praktisch miteinander vereinbaren ließen und es für Letztere sogar noch öffentliches Lob gab. Mit dem beschriebenen Integrationsproblem sehen sich mehr oder weniger alle politischen Lager konfrontiert – allerdings nicht nur die „institutionalisierten“, wie etwa die politischen Parteien, sondern auch die „emanzipatorischen Kräfte“ & selbstorganisierten Strukturen der „Zivilgesellschaft“.
Auf der anderen Seite ist eine politische Formation nicht zuallererst zum Zwecke ihrer Selbstreproduktion und Selbstvergewisserung da. Dies gilt im Besonderen für die Linke, die einerseits den ehrgeizigen politischen Anspruch der grundlegenden Gesellschaftsveränderung verfolgt, für binnenfixierte Selbstvergewisserung andererseits aber eine geradezu historische Schwäche hatte und hat. In ihrer politischen Wirkung wird die Linke nämlich wie jede andere politische Kraft an den Ergebnissen gemessen, die ihr Agieren zuwege bringt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei, welches Bild sie von sich selbst hat: von ihrer Kraft, Wirksamkeit und den dadurch kurz-, mittel oder langfristig erzielbaren Resultaten. Ist man größenwahnsinnig, realistisch oder tiefstaplerisch? Denn mit dieser Selbsteinschätzung legen wir die Grundlage für die gesellschaftlichen Erwartungen an unser eigenes Handeln & unsere eigenen politischen Fähigkeiten und Kräfte. Jede durch uns geschürte Illusion holt uns ganz schnell selbst wieder ein…
II.
Hier offenbart sich eines der größten strategischen Probleme, dem die parteilich organisierte Linke ausgesetzt ist. Einerseits konstituiert sie die einigende Feststellung, dass ein kapitalistisch organisiertes System zur Lösung der grundlegenden Existenzfragen der Menschheit strukturell nicht in der Lage ist. Daraus folgt, dass seine radikale Veränderung drängend ist. Auf der anderen Seite erweist sich diese erforderliche radikale Veränderung aktuell & kurzfristig als objektiv unmöglich. Schlüssige und konsistente Vorstellungen über die Form und den Weg eines Umbaus liegen nicht auf dem Tisch. Anknüpfungspunkte für gesellschaftliche Veränderung sind allenfalls nebulös. Ein weiteres Problem besteht darin, dass gesellschaftliche Veränderung aufgrund der Transnationalisierung ökonomischer und politischer Reproduktionsprozesse notwendig einen globalen Bezug haben muss, die Bewegung im parlamentarischen System aber schon faktisch auf die Ebene des Nationalstaats orientiert ist. Die Linke befindet sich also in der Situation, in der sie ihre legitimatorische Kraft aktuell nur sehr schwer aus der Verheißung der Erfüllung ihrer programmatischen Ansprüche beziehen kann. Auf den Punkt gebracht drückt sich dies in der Bemerkung Johannes Agnolis aus, die Utopie der Gesellschaft der Freien und Gleichen könne nicht als Gesetzesvorlage weder oppositioneller noch regierender Fraktionen in den Bundestag eingebracht werden.
Dass zwischen Anspruch und Umsetzbarkeit sozialistischer Politik ein Widerspruch existiert, der strategischen Streit erzeugt, ist ebenfalls nicht neu. Als Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein 1914 um die Perspektiven der Sozialdemokratie stritten, ging es auch um die Einlösung der eigenen gesellschaftsverändernden Ansprüche. Rosa Luxemburg hatte erkannt, dass man sich den Wirkungsmechanismen der gesellschaftlichen Dynamik nicht durch Willensakt entziehen kann. Sozialistische Politik ziele nicht nur auf die Auswechselung der „leitenden Agenten“ des Staates, sondern auf den Umbau der organisatorischen Struktur des Staatsapparates von Grund auf. Der Staatsapparat ist nicht nur einfach Staat, sondern es ist der kapitalistische Staat, also spezifische Konfiguration von Klassenherrschaft. Sich in Regierungen zu begeben hieße die strategische Unabhängigkeit aufzugeben und sich an der Reproduktion des Herrschaftsapparates der bürgerlichen Gesellschaft legitimierend zu beteiligen. Diese unversöhnliche Positionsbestimmung gegen über jedem „Reformismus“ kann jedoch nur einer Zeit entspringen, die guten Glaubens auf die Alternative der Revolution verweisen konnte.
Aber es ist nicht nur die revolutionäre Utopie abhanden gekommen. Die Verhältnisse sind einerseits komplizierter geworden, undurchschaubarer – andererseits tritt der durch permanente Dynamik und Veränderung in letzter Instanz tendenziell bestimmende Mechanismus der Gesellschaftsreproduktion klarer zutage. Im globalen Maßstab. Nun wird deutlich, was es bedeutet, dass eine Gesellschaft in ein Wirtschaftssystem eingebettet ist, sich das wirtschaftliche System der Reproduktion gegenüber den sozialen und politischen Reproduktionsmechanismen fortlaufend verselbständigt und Letztere sich unterordnet. Es wird erkennbar, was strukturelle Produktion von Ungleichheit bedeutet – nicht mehr nur zwischen den Nationalstaaten, dem Norden und Süden, sondern durch zunehmende soziale und kulturelle Fragmentierung & Polarisierung innerhalb der Nationalstaaten.
Was daraus für die hiesige Linke folgt, insbesondere wenn sie in Form einer bundesdeutschen Partei organisiert ist, ist strategisch nicht ausreichend verarbeitet. Dies fängt an mit der Frage nach den Adressaten der eigenen Veränderungsforderungen. An einen Mechanismus kann man nicht appellieren. Die nationalstaatlichen politischen Systeme sind nach wie vor die primären Träger von Politik. Durch die Transnationalisierung der Ökonomie und der globalen Probleme ist Politik jedoch stärker internationalisiert als je zuvor. Gemeint ist: das Netz der internationalen Institutionen, in denen sich globale Interessen widerspiegeln, ist dicht, die Fähigkeit, in Bezug auf das eigene Territorium eine eigene, zielgerichtete, konsistente Finanz- und Wirtschaftspolitik zu verfolgen, hat erheblich abgenommen. Die Durchsetzung eigener Vorstellungen erfolgt nach den jeweiligen Fähigkeiten zur globalen Machtpolitik. Global umspannende bürokratische Apparate reproduzieren fast vollständig frei von jeder Art demokratischer Rückbindung, vernetzt mit den nationalstaatlichen Institutionen und Interessenverbänden, die globale ökonomische und politische Ordnung bzw. interessengeleitete Unordnung. Es geht weiter mit den offenen Fragen: In welche Richtung soll die gesellschaftliche Veränderung konkret gehen? Welche positiven Vorstellungen haben wir von den unmittelbar anstehenden Schritten gesellschaftlichen Umbaus? Wer und was soll die Triebkraft und Basis dieser Veränderung sein? Hier ist die Einigkeit vorausgesetzt, dass eine Parlamentspartei oder eine Regierung nicht ohne die Mobilisierung gesellschaftlicher Rückendeckung prinzipiellere Veränderungen des Reproduktionsregimes durchsetzen kann… Wem und was muss unser Widerstand gelten? Was blockiert und was befördert mittel- oder eher langfristige Perspektiven von erstrebter und erstrebenswerter Gesellschaftsveränderung?
Dabei hilft es, sich vor Augen zu führen, dass Anpassung und Integration nicht eine exklusive Bedrohung für linke Parteiapparate, Parlamentsfraktionen und Regierungsmitglieder sind. Nichts ist wandlungsfähiger als unsere Gesellschaft, nichts anpassungsfähiger als die kapitalistische Reproduktion. Schlaue Menschen haben diese Integrationskraft und Innovationsfähigkeit – je nach politischem Standpunkt, mitunter sogar zeitgleich – bewundert und beklagt. Für die „widerständige“, „oppositionelle“ Linke ist dieser Aspekt des gesellschaftlichen Reproduktionsmechanismus sehr wesentlich. Alles und jedes, was sich am Ist-Zustand reibt, wird „eingekauft“, absorbiert, eingepasst in die große „Teufelsmühle“ (Karl Polanyi) der Kapitalreproduktion und Inwertsetzung. So mancher linke „Märtyrer“ endete als Konterfei auf dem T-Shirt als Kassenschlager einer Modefirma. So manche Protestbewegung bewirkte einen neuen „kreativen Schub“ des Akkumulationsregimes und wurde damit einhergehend flachgeschliffen und vereinnahmt. Kulturelle Wellen, die eine Antiposition zum Bestehenden zum Ausdruck brachten, wurden „hip“ und hüllen musikalisch fünfzig Jahre später das Herbstfest der Kleingartengemeinschaft in einen zarten Klang.
Und trotzdem ist in diesem historischen Vorgang – dialektisch folgerichtig – nicht nur das Eine verändert („abgeschliffen“, subsumiert) worden, sondern auch das Andere („der Kapitalismus“, die Gesellschaft), zu welchem sich dieses Eine widersprüchlich in Beziehung gesetzt hat. Hier ist der Zeitpunkt, auf eine Binsenweisheit zu verweisen. Kapitalismus, als Chiffre für alle gesellschaftlichen Vorgänge verstanden, ist eben nicht gleich Kapitalismus. Alles Mühen, aller Kampf mag das ökonomische Grundprinzip der Gesellschaft nicht geändert haben. Denn hier gelten nach wie vor der Mechanismus und das Primat der maximalen Kapitalreproduktion. Aber es hat die Gesellschaft insgesamt verändert. Denn die lässt sich nicht auf Kapitalreproduktion reduzieren, sie ist die Summe aller – also auch der außer-ökonomischen – Beziehungen. Und damit haben sich auch die Bedingungen geändert, unter denen wir an ihrer weiteren Veränderung arbeiten. Manche Widersprüche relativierten sich, neue traten hinzu. Unterscheiden wir also zunächst zwischen dem zerstörerischen Mechanismus der Inwertsetzung, den sozialen, politischen, rechtlichen, kulturellen Bedingungen und Mechanismen der Gesellschaft, die ihn sichern und seine Reproduktion ermöglichen, und jenen, die ihn begrenzen und hindern. Manche Behinderung der Inwertsetzung wird unter veränderten Bedingungen ihre schärfste Vorhut. Sie alle sind durch Menschen gemacht, aber bekanntlich nicht aus ihren freien Stücken, sondern gemäß ihrer Rolle und Standortbestimmung im gesellschaftlichen Ensemble. Und sie sind nicht einfach anzuhalten, umzudrehen oder beiseite zu schieben. Hier hat sich jene dynamische und widerspruchsvolle Realität entwickelt, die für die Linke der Anknüpfungs- und Ausgangspunkt jeder politischen Überlegung sein muss. Aber das muss sie dann auch – und angesichts der fortgesetzten Folgen des Wirkens dieser Mechanismen kann das für die Menschheit überlebenswichtig sein. Zu welchen Allianzen und Bündnissen sie zu diesem Zweck gezwungen sein wird, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Jedenfalls hat sie kein Ticket „objektiver Notwendigkeit“ darauf, „die Forschrittsinstanz“, die Trägerin progressiver Entwicklung, zu sein.
Deshalb kommen wir zurück auf den Ausgangspunkt linken Denkens in seiner praktischsten und ursprünglichsten Form. Wir nehmen Wertvorstellungen und Grundsätze sozialen Denkens ernst, wie Solidarität, Emanzipation und soziale Sicherheit, und machen es uns zur Aufgabe, an ihnen orientiert konkret und jetzt in die gesellschaftlichen Zustände einzugreifen. Von der radikalen praktischen Kritik der Verhältnisse ausgehend, die sozialer Entwicklung entgegenstehen, suchen wir nach Anknüpfungspunkten für ihre Veränderung. Das ist nicht nur die Methode Learning-by-Doing, sondern ihre verschärfte Variante von Versuch und Irrtum. Ein strategisches Sitzpolster ist das nicht gerade.
III.
Für die Linke kann – spätestens als Lehre des vergangenen Jahrhunderts – nur eines der Anknüpfungspunkt für ihre Politik sein: die Anerkennung der herrschenden (vorgefundenen) politischen Verhältnisse, einschließlich aller Funktions-, Reproduktions- und Integrationsmechanismen, das heißt: die Spielregeln, „Sachzwänge“ und Rahmenbedingungen, die der gesellschaftliche Prozess den Akteuren auferlegt, als einzig gegebene Grundlage für ihre politische Wirkungsbestimmung. Über die bezeichneten Mechanismen kann man sich hinweg denken, dann bewegt man sich im Bereich der Utopie. Man kann sich aber nicht über sie hinweg setzen. Denn niemand schwebt über dem Boden. Jede Lebensregung, jede soziale Interaktion hinterlässt ihre Spuren, führt zu Störung und Rejustierung, Reproduktion oder Metamorphose der gesellschaftlichen Abläufe und Dynamiken. Jede Unterlassung hat ebenfalls ihre Konsequenzen, da sie die Reproduktions-Dynamik entlang ihrer aktuellen, konkreten Verlaufsform unverändert und ungehindert durchmarschieren lässt.
Seit die Bedingungen derart widersprüchlicher geworden sind, seit sich das „Machtzentrum“ des bürgerlichen Staats als Projektionsfläche für „linke Forderungen“ fragmentiert hat & seit die Beschreibung einer Gesellschaftsspaltung in Arbeiter und melonetragende, zigarrenrauchende Kapitalisten nicht mehr genügt, um unseren Gesellschaftszustand auch nur noch halbwegs überzeugend zu vermitteln, geraten die klassischen Muster der gesellschaftlichen Frontstellungen und Konfliktlinien zwischen die Mühlsteine. Wo ist rechts, wo ist links? Was ist ein (Neo-) Liberaler, was ein Konservativer und was ist eine Sozialistin? Wie kommt es dazu, dass manch Konservative reden wie Sozialistinnen und Sozialisten und manche den Eindruck haben, es sei bei Sozialistinnen und Sozialisten inhaltlich manchmal „wie bei den Neoliberalen“?
Unter den Bedingungen des beginnenden 21. Jahrtausends hat auch die Linke ein Problem, identitätsstiftende Formeln zu verbreiten. Und dann entsteht Verunsicherung und Sorge um die politische Perspektive der eigenen Identitätslinie oder der eigenen politischen Formation. Bald ertönt der Ruf nach Konsequenz, Klarheit, Geradlinigkeit, Aufrichtigkeit. Und damit einhergehend wird – am eigentlichen Problem vorbei – die „Abweichung“ gebrandmarkt und die Widersprüchlichkeit politischer Aktion negiert. Beifall gibt es für „deutliche Worte“, nicht für gründliche Analysen. Allerdings hängt die politische Funktionsbestimmung nicht vom eigenen Willen ab, und noch so markige Kritiken und ideologische Nebelbomben können die Hilflosigkeit und Wut nur schwer überdecken, die aus fehlenden Ideen zum Umgang mit den aktuellen Problemen resultiert. Wir sind gefordert, uns den Widersprüchen der Gesellschaft zu widmen und den Versuch zu unternehmen, uns in ihnen bewusst zu bewegen und dabei möglichst großen Einfluss und Veränderungskraft zu generieren. Denn ganz allein dafür sind wir letztlich da.
Können wir uns auf diese Beschreibung verständigen, bekommen wir einen Eindruck davon, wie schwierig es ist, sich der Frage nach „richtiger“ sozialistischer Politik zu nähern und auf welche Probleme, Widersprüche und offene Fragen wie Ungewissheiten wir stoßen werden. Von diesem Zeitpunkt an sollte es verboten sein, ein Meinungsmonopol für sich zu pachten, anhand dessen sich politische Strategie als „richtig“ und „falsch“ kennzeichnen ließe. Es sollte aber genauso verboten sein, den Blick von den realen Handlungsbedingungen abzuwenden und sich der Befassung mit ihnen zu entziehen, seien sie auch noch so kompliziert zu durchschauen und befördern sie auch noch so viel Frust, Unsicherheit und Verzweiflung angesichts der Zustände in unserer Gesellschaft. Hic rhodus, hic salta! hat Marx auf Hegel folgend postuliert. Hier ist Rhodos, hier springe!
IV.
Zur Realität der politischen Wirkungsbestimmung einer Linken gehört der bundesdeutsche bürgerliche Parteienstaat genauso wie das föderale System einschließlich der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung. Dieser Wirklichkeit und den mit ihr verbundenen Problemen und institutionellen Logiken müssen wir uns widmen, wenn wir mehr Sinnbringendes über die Kooperation von „außerparlamentarischen Bewegungen“ und „linken Akteuren, besonders in Regierungsverantwortung“ in Erfahrung bringen wollen.
Zunächst stellt sich die Frage danach, was außerparlamentarische Bewegung meint. Wir reden darüber meist so locker und bezeichnen damit Alles außer der Parlamentslinken. Dabei ist die Welt viel bunter. Wir haben Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte, Bürgerinitiativen, Betroffenenvertretungen, Beauftragte, Vereine, Selbstorganisierung, thematische Projektarbeit, Hilfsorganisationen und soziale Netzwerke, NGO´s, Akteure im Kultur- und Wissenschaftsbereich, Eventbewegungen, Szenen und Milieus. Das alles in einen Topf zu hauen, vernebelt den Blick und setzt Illusionen an die Stelle einer nüchternen Bestandsaufnahme. Ein Personalrat bewegt sich unter ganz anderen Bedingungen und ist in ganz andere Interessen- und Beziehungsgeflechte eingebunden als eine Künstlerin oder ein Künstler. Die einen machen Politik hauptberuflich, die anderen gelegentlich ihrer Funktion und Mandatierung, andere wiederum engagieren sich recht spontan und in einem sehr abgegrenzten Wirkungsfeld. Einige haben globale Anknüpfungspunkte und machen Lobbying, andere mischen sich in die kommunale Selbstverwaltung ein und verfolgen höchst lokale Interessen. Dann organisieren sich zeitweise Bündnisse mit einer gewissen öffentlichen Signalwirkung anhand einzelner politischer Gegenstände. Ihre Haltbarkeit geht jedoch selten über den nicht von ihnen selbst bestimmten Zeitraum hinaus, in dem die geführte Auseinandersetzung eine nennenswerte mediale und politische Resonanz findet. Dann verlieren sie in den Augen vieler Beteiligter ihre Funktion auf Basis des gefundenen allgemeinen Konsens. Sie werden schwächer und bilden mitunter am Ende nur noch eine Karikatur ihrer selbst, denken wir an die Hartz IV-Proteste. Wir können nicht unterstellen, dass all das eine gleichgerichtete und zusammenhängende organisierte außerparlamentarische Bewegung ausmacht.
Formationen sind nicht gleich Formationen. Sich für eine bestimmte Form des politischen Engagements zu entscheiden heißt auch, vorgefundene Formen der politischen Handlungslogik in Kauf nehmen zu müssen. Das heißt nun wiederum nicht, dass sich diese vorgefundenen Formen nicht auch ändern ließen oder sich ändern würden. Aber wir können sie nicht einfach umbauen nach unserem Bilde. Auch hierzu ist Mitte der Neunziger Jahre einiges gesagt worden, und zwar von Harald Wolf: „Der bürgerliche Staat ist kein Fahrrad, auf das man sich einfach setzen und in beliebige Richtung losradeln kann.“
Eine Gewerkschaft beispielsweise bewegt sich innerhalb der überkommenen Traditionen bundesdeutscher gewerkschaftlicher Bewegung und Arbeit. Sie verfügt nicht über das Recht zum und die Tradition des politischen Generalstreiks, aber über die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie. Auf der anderen Seite ist sie ihren Mitgliedern und deren Interessen verpflichtet. Sie hat also vor allem eine Lobbyfunktion für die abhängig Beschäftigten und ihre sozialen Interessen. Ihre Notwendigkeit zur Rücksicht auf andere gesellschaftliche Interessen beschränkt sich auf die Antizipation der Möglichkeiten ihres politischen Gegenübers, um ihren Mitgliedern realistische Durchsetzungsstrategien präsentieren zu können und am Ende erfolgreiche Lohnabschlüsse zu erzielen. Das ist ihre Hauptfunktion. Wird sie dieser nicht mehr gerecht, erübrigt sie sich. Daraus folgt, dass eine Gewerkschaft sich nach ihrer eigenen Funktion bei Positionierungen, die die Neujustierung bestimmter gesellschaftlicher Beziehungen (z. B. Leistungsgesetze) etwa in der Bundesregierung betreffen, im Zweifel für die Interessen „ihrer“ Beschäftigten einsetzen wird, selbst wenn diese mit anderen legitimen sozialen Interessen, beispielsweise von Arbeitslosen, in Gegensatz stehen. Und sei es nur deshalb, weil sie innerhalb einer spezifischen Konfliktsituation von anderen Akteuren faktisch und politisch bewusst in einen solchen Gegensatz gebracht, nämlich gegeneinander ausgespielt, wurden. Das schließt nicht aus, dass innerhalb der Gewerkschaften progressive, kritische Dialoge geführt werden, dass Gewerkschaften sich zu allgemeinpolitischen Fragen „von links“ äußern. Aber dafür sind die Mitglieder ihnen nicht beigetreten. Schon die Probleme der IG BAU, sich klar antirassistisch aus der Deckung zu wagen, liegen angesichts der Sicht vieler ihrer Mitglieder auf die Dumpingstrategien von Unternehmern und Subunternehmen auf der Hand. Wir kennen das. Auch eine Polizeigewerkschaft ist nicht zwangsläufig ein progressives Element. Keinesfalls sind Gewerkschaften Transmissionsriemen der Arbeiteravantgarde o. ä. oder ihre Positionen per se progressiv u& daher eins zu eins in den Parlamentsbetrieb einzuspeisen – das wurde alles schon diskutiert. Da die Notwendigkeit des Ausgleichs gegenläufiger (aber aus linker Perspektive etwa berechtigter) Interessen sich für eine Gewerkschaft nicht aus der Perspektive des Interessenausgleichs stellt, lässt sich das Integrationsproblem nach innen in Hinblick darauf relativ leicht lösen. Dass Gewerkschaften aus anderen Gründen Probleme mit der eigenen Legitimationsbasis haben, ist bekannt.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: eine Bürgerinitiative. Wer sich z. B. bei rapide abstürzenden Schülerzahlen für den Erhalt eines nahe gelegenen Gymnasiums einsetzt, ist nicht gezwungen, sich zum Schicksal des oder der anderen bedrohten Gymnasien zu verhalten. Dennoch liegt es auf der Hand, dass die Entscheidung zugunsten des einen auch Konsequenzen für das andere hat. Ein eher korporatistisches Arrangement bilden die Studierendenvertretungen im Kontext der universitären Selbstverwaltung. Auch das hat Einfluss auf die Formulierung ihrer Politik und die Form der Interessen, die sie gesellschaftlich geltend macht. Ein letztes Beispiel: eine NGO wird sich einen Aspekt der komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit zum Arbeitsgegenstand erheben und andere – ganz im Sinne Luhmannscher Komplexitätsreduktion – außen vor lassen. Da alles mit allem zusammenhängt... Schließlich ist es so, dass die Vertretung von kollektiven gleichgerichteten Interessen in einem Ausschnitt der gesellschaftlichen Realität verbunden ist mit propagandistischen, lobbyistischen Methoden. Das ist etwas anderes als die Verarbeitung vieler gegenläufiger Interessen im politischen Ausgleichsprozess.
Um falschen Eindrücken vorzubeugen: Es geht hier weder um die Bewertung noch um ein Ranking der verschiedenen Formen politischer Einflussnahme. Sie sind alle gleichermaßen notwendig wie legitim. Worauf es einzig und allein ankommt ist zu differenzieren zwischen den Formen und den damit verbundenen zwangsläufigen oder doch zumindest tendenziellen Funktionslogiken, denen man in ihnen und mit ihnen ausgesetzt ist bzw. sich aussetzt. Über diese sollten wir uns, um uns nichts vorzumachen, aber auch, um sie bewusst reflektieren zu können, bewusst werden.
Damit sind wir schließlich beim Formationstypus „Partei“. Was macht eine politische Partei in der bundesdeutschen Gegenwart aus? Sie ist keine marxistisch-leninistische Kampforganisation der Proletarier und sie ist auch keine Tribüne für die Artikulation der Interessen der Entrechteten – jedenfalls nicht in erster Linie. Ihr prinzipieller Integrationsauftrag ist schon programmatisch in Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz beschrieben: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Die bundesdeutsche Partei ist eine institutionalisierte Interessenvermittlungsorganisation, deren Merkmale der Wahlantritt, das Ringen um Wählerstimmenmaximierung und – jedenfalls wird dies allgemein als ihre Funktion vorausgesetzt – ggf. die Befugnis und unter bestimmten Umständen auch der faktische politische Zwang zur Besetzung von Spitzenämtern (Rosa Luxemburgs „leitenden Agenten der Staatsapparate“) der jeweiligen politischen Ebene für die Dauer der Legislatur sind. Parteien werden damit tendenziell in eine Funktionslogik gezwungen, die sich an der Dauer einer Wahlperiode orientiert, die einer (ebenfalls nicht demokratisch und herrschaftsfrei organisierten) Medienbeobachtung mit dem Recht zur Inhalts- und Performancebewertung unterliegt. Alle vier oder fünf Jahre wird in geheimen Wahlen die Bewertung des öffentlich wahrnehmbaren parteipolitischen Agierens vorgenommen. Diesem Druck kann sich keine Partei entziehen. Um bei diesen Abstimmungen erkennbar und abgehoben zu sein vom politischen Konkurrenten, müssen Alleinstellungsmerkmale betont werden und der eigenen Klientel möglichst klare, identifizierbare und identitätsstiftende programmatische Angebote gemacht werden: der „Zwang zur einfachen Botschaft“ und zur Verheißung. Die politische Realität ist aber gekennzeichnet von Schnelllebigkeit, Unübersichtlichkeit und der mangelnden Fähigkeit, mehr zu tun als ein Problem in seinen Symptomen abmildern oder Teilursachen angehen oder gar nur auf ein solches symbolisch reagieren zu können. Sie ist gekennzeichnet von der Suche nach (sachfremden) Kompromissen, Übereinkünften, Mehrheiten zur Durchsetzung eines Teiles der eigenen Zielstellungen. Dies erschwert die Ausprägung des häufig geforderten „unverwechselbaren Profils“.
Damit nicht genug. Grundsätzlich wird von einer Partei eine thematisch omnipotente politische Positionierung erwartet: sie muss „zu allem was sagen“ können. Als Vermittlungsinstanz zwischen „Volkswillen“ und „Staatsapparat“ muss sie Vorstellungen aufbieten, wie die „Programmierung“ der Bürokratien zu allen gesellschaftlich relevanten, weil „bewegenden“, Themen qua Gesetz, Haushaltsplan und personelle Besetzung der Spitzenebene vonstatten gehen soll. Dahinter steht das von der Realität widerlegte frühbürgerlich-demokratische Idealbild, im Staat würde über das Allgemeine (und zwar sämtliches und abschließend) entschieden, während alles Übrige dem Freiraum der Individuen anheim stehe. Aber dieses Idealbild der bürgerlichen Demokratie ist so allmächtig wie die neoliberale Ideologie – und folglich gibt es für viele Menschen auch kein Systemversagen, sondern das Versagen der politischen Klasse. Aber jenseits dessen steht jede Partei vor dem Problem, dass Regierungstätigkeit (die von ihr, entsprechende Mehrheiten und Partner vorausgesetzt, erwartet wird) – als Nagelprobe der in Opposition behaupteten „machbaren Alternativen“ – niemals in der geradlinigen „Übersetzung“ von außerparlamentarisch artikulierten Interessen und Position besteht. Hier sind Entscheidungen zu Problemen, Fragen, Themenfeldern zu treffen, die man sich nicht mehr selbst aussucht, sondern die einem – als Ergebnisse der täglichen politischen Dynamik – vorgesetzt werden.
Die politische Agenda wird nicht selbst gestrickt, sondern sie ist weitgehend vorgegeben. Gleiches gilt für die Frage der Regierungsbeteiligung: Wir haben es oft nicht selbst in der Hand, ob wir in eine Regierungskonstellation gehen. Deshalb ist diese Eingangsfrage auch so abstrakt nicht zu besprechen. Es gibt Umstände, wie es etwa 2000/2001 in Berlin war (Bankenskandal und Versagen der großen Koalition, faktischer Ausfall der CDU im Koalitionsarrangement), in der wir uns dieser Konsequenz faktisch nicht entziehen können. Genauso kann man eine Koalition nicht einfach verlassen, weil man Regierungshandeln abstrakt zur politischen Gestaltungsoption zweiter Klasse erklärt hat. Man muss schon eine sehr gute und überzeugende politische Erklärung dafür haben, um zu vermitteln, warum man eine rechnerische Mehrheit nicht (mehr oder erneut) in eine Regierungsmehrheit verwandeln will. Und man muss erklären, warum man meint, dass es mit anderen „besser“ werde, was auch immer das dann meint. Dies kann gelingen, aber ob, ist nicht allein dem eigenen politischen Einflussbereich überlassen, sondern Ergebnis einer spezifischen temporären Konfliktkonstellation, die sich selten voraussagen lässt. Ein solches Verhalten einer linken Partei mag man sich deshalb theoretisch denken. In der Realität würden es viele Wählerinnen und Wähler mit Unverständnis und der Unterstellung begleiten, die eigenen politischen Vorstellungen seien etwas für die Glasvitrine, nicht für die praktische Umsetzung. Wir sehen: der Drücke und Zwänge sind vielerlei.
Ein großer Erfolg ist es, wenn man innerhalb von Kräftekonstellationen und Widersprüchen in der Lage ist, selbst eine Frage zum Gegenstand der politischen Agenda zu machen. Dies setzt aber einiges an politischem Geschick, strategischem wie taktischem Bewusstsein und politischer Substanz voraus, die eine Partei nicht an sich hat, sondern entwickeln muss. Dazu muss sie über einige Voraussetzungen verfügen, die hier auszuführen zu weit führen würde, die es aber dringend zu diskutieren gilt. Entscheidend ist, dass es nicht nur um ein Problem geht, welches allein sie bewegt, sondern das eine öffentliche Auseinandersetzung mit Rückendeckung zulässt. Schließlich sind Abwägungen zwischen verschiedenen Interessen und Anliegen zu treffen, die sich nicht zwangsläufig im Dualismus „progressiv-konservativ“ oder „links-rechts“ oder „sozial“ versus „unsozial“ ausdrücken lassen. Diese Abwägungen sind komplexer Struktur und die einzige Forderung, die es aber um so nachdrücklicher zu erheben gilt ist, dass diese Abwägungen einer politischen Begründung folgen und die Ergebnisse – vor dem Hintergrund des oben beschriebenen – vermittelbar sind. Ob sie tatsächlich vermittelt werden, hängt von mehr Umständen ab, als ich in diesem Beitrag noch zumutbar vermitteln kann.
Über die Fähigkeiten und Grenzen von Parteipolitik können wir also nur diskutieren, wenn wir die Rolle und Funktion von Parteien im deutschen Parteienstaat mit in den Blick nehmen. Aus dem gegenwärtigen Funktionstypus von Parteien ergibt sich – und zwar gleich, ob sie sich konkret in einer Regierungs- oder Oppositionsposition befinden – die Notwendigkeit, Probleme nicht allein aus der Interessenvertretungs-, sondern auch aus der Interessenausgleichsperspektive zu betrachten und zu diskutieren. Denn ob eine Interessenvertretung Mehrheiten hinter sich bringen kann, ist für ihre Funktionsbestimmung und Legitimation nicht ausschlaggebend. Für eine Partei, gleich welcher politischer Richtung, ist dies in weit größerem Maß der Fall, denn wenn sie – wir lassen Gründe, Bedingungen, alternative Handlungsoptionen hier einmal außer Betracht – in eine Regierungskonstellation gerät, ist sie im Zwang zur Schaffung von Mehrheiten und zur Sicherung einer ausreichenden Legitimationsbasis zur Verwirklichung ihrer politischen Ziele. Sie ist eingebunden in die föderale Struktur der Disziplinierung von kleinen und oppositionellen parteipolitischen Akteuren. Bereits die Mechanismen der Parteienkonkurrenz im Wahlkampf erzeugen einen Druck, sich zum Ausgleich von unterstützen Interessen zu verhalten, denn dass „nicht alle alles kriegen“ können, ist bis in den letzten Zipfel der Gesellschaft bekannt. Aus dieser Rolle der Partei ergeben sich einerseits Chancen, denn der politische Prozess ist tatsächlich nicht die eindimensionale Übersetzung von Kapitalinteressen in das für alle gültige Gesetz. Auf der anderen Seite entstehen andere Bindungen und wirken Disziplinierungsmechanismen, die oft & viel diskutiert & beschrieben worden sind.
Eine Partei ist auf ganz spezifische Weise in die Auseinandersetzungen und den Ausgleich von Interessen eingebunden, nämlich im Kristallisationsfeld der politisch-institutionellen Interessenvermittlung, vereinfachend: im „Staat“, der zumindest tendenziell der Reproduktion der Verhältnisse dient. Dies kann man kritisieren, bedauern – aber man wird es als eine Determinante des eigenen politischen Handelns zur Kenntnis nehmen müssen. Wir sind, wie Frieder Otto Wolff es konstatiert hat, der Tatsache ausgesetzt, dass „unter den Bedingungen dieses parlamentarischen Parteienstaates auch die radikalste Opposition ´innerhalb´ der politischen Diskurse, Mechanismen und Apparate agieren muss, um überhaupt die Chance zu erwerben, jemals über den gegenwärtigen politischen Inhalt, den diese Apparate usw. reproduzieren, hinauskommen zu können.“ Abstrakt ist dieses Problem so oder so nicht zu lösen. Ertragreicher dürfte es sein, die Konstellationen und Situationen konkret zu diskutieren, in denen man sich dieser Funktionslogik (teilweise) entziehen kann und in denen man ihr völlig ausgesetzt ist. Wer sie jedoch grundsätzlich „ablehnt“, sich mit ihr nicht befassen will, sollte sich überlegen, ob der eigene Wahlantritt zur Durchsetzung von Politik eine geschickte Strategie ist.
V.
Unrealistisch dürfte es deshalb sein, aus der prinzipiellen Gleichartigkeit von Werten und Zielen auf sehr abstrakter Ebene zu schließen, es sei nur eine Frage von Wille und Kraft, um die „große, einheitliche Bewegung“ zu „schmieden“, in der Partei und sonstige Akteure in einem organisiert den Kraftakt der radikalen Gesellschaftsveränderung anpacken. Hier gibt es, wie sich gezeigt hat, ganz praktische Einwände und Gründe.
Linke Parteien und außerparlamentarische Akteure sind dennoch dringend aufeinander angewiesen. Zum einen können sich linke Parteien nur vor dem Mechanismus der Integration auf Kosten der Fähigkeit zur politischen Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen bewahren, wenn ihre Akteurinnen und Akteure sich permanent Rechenschaft darüber ablegen, wohin ihre Reise geht. Hierzu brauchen sie Reflexion aus dem gesellschaftlichen Raum. Dies erfordert einen qualifizierten Diskurs und Kenntnis von den gesellschaftlichen Zuständen nicht nur aus der Interessenvermittlungsperspektive. Parteiapparate neigen aus verschiedenen Gründen zur Verkrustung und zum Konservatismus, Parteistrukturen neigen zur Erzeugung von Konformitätsdruck nach innen, um nach außen geschlossen handeln und Kräfte bündeln zu können.
Eine linke Partei hat also nur eine Chance, wenn sie sich – an der Dynamik der Reproduktionsprozesse der Gesellschaft orientiert – permanent in Frage stellt und verändert. Sie muss kulturell wie mitgliedschaftlich offen verfasst sein, sie muss Freiräume bieten, in denen genau die Fragen diskutiert werden, die für ihr Fortbestehen existenziell sind: Welche konkreten Vorstellungen und Angebote haben wir, die realitätstauglich sind und an den konkreten Lebensbedingungen der Menschen etwas ändern? Wie legen wir über unser Handeln öffentlich Rechenschaft ab? Wie entwickeln wir Politik? Wie entwickeln wir fortlaufend mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit unsere Programmatik und sorgen für eine gewisse Erkennbarkeit der programmatischen Identität? Wie entwickeln wir kritisch-solidarische Diskurse? Wie strahlen wir die Bereitschaft und Fähigkeit zur grundlegenden Veränderung der Gesellschaft aus, obgleich dies doch gegenwärtig so unmöglich erscheint, ohne uns selbst über die Realität zu belügen? Auch das sind alles keine Fragen des Willens oder des Bekenntnisses, sondern der Fähigkeiten und Potenzen zur Politik.
Linke Parteien haben gewiss keine Chance, wenn sie ihr Personal vor allem anhand des klassischen Modells der Parteikarriere mittels hierarchischen Aufstiegs gewinnen und entwickeln. Nicht nur, dass damit jeder kritische Impetus im Gewirr der Loyalitäten und Abhängigkeiten erstickt wird. Die Parteikarriere ist auch kein geeignetes Feld zur Gewinnung von Souveränität, Offenheit, politischer Erfahrung im nichtparlamentarischen Bereich. Dies wird aber gebraucht. Eine linke Partei ist deshalb darauf angewiesen, aus dem nichtparlamentarischen politischen Spektren und Milieus qualifiziertes Personal zu gewinnen, und sie sollte dies auch so sagen. Sie muss sich also auf linke, progressive, offene, moderne gesellschaftliche Strukturen stützen können, gesellschaftszugewandt sein, nicht in Nischen verharren. Dies liegt in gegenseitigem Interesse, denn es erweitert den Blick und die Perspektiven.
Außerparlamentarische Akteure können in einer solchen Kooperation nämlich auch etwas lernen: Welche Spielräume sich aus der Perspektive „gutwilliger“ Regierungen im jeweiligen institutionellen und politischen Arrangement nutzen lassen und welche nicht, wenn es um die Umsetzung ihrer eigenen Forderungen und politischen Ziele geht. Denn auch sie sind gezwungen, sich über die oben gestellten Fragen Gedanken zu machen, wenn sie wirkungsvoll und einflussgenerierend Politik betreiben wollen.
Voraussetzung ist, dass sich die Beteiligten über die jeweiligen Handlungsbedingungen verständigen und sich der Konsequenzen dessen bewusst werden. Dann ist auch leichter zu bestimmen, wo Kooperation sinnvoll ist und wo der Protest – etwa in einer Koalitionskonstellation – sinnvoll und hilfreich ist, um die eigene Position durchsetzungsmächtiger zu machen. Dies erfordert eine gewisse Verlässlichkeit und Belastbarkeit des gegenseitigen Dialogs, Vertrauen anstelle der permanenten Suche nach und Anklage von vermeintlichem Einknick- und Verratsverhalten. Auf der anderen Seite muss eine linke Partei mitdenken, welche Folgen ihr Handeln für die Bewegungsbedingungen außerparlamentarischer Akteure hat. Sie ist jedoch nicht automatisch für alles verantwortlich, was im außerparlamentarischen Bereich passiert und vor allem: nicht passiert.
Grundlage und gleichzeitig Maß des Handelns der Seite, die ich hier repräsentiere, sollte aus meiner Sicht deshalb sein: Die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ist nicht zuallererst eine Frage des Gestus und des guten Vorsatzes (obwohl es natürlich auch die simple politikfreie individuell erstrebte soziale Absicherung von Akteuren gibt). Da linke Politik nicht über gesellschaftliche Hegemonie verfügt, sondern sich aus einer gesellschaftlichen Minderheit speist, muss sie mühsam um eine Erringung partieller Mehrheiten ringen. Dies geht weder über das Mantra des „Mehr ist nicht drin!“ noch über die Forderung, erst mit einem Wahlergebnis von 50+X % „einzusteigen“ (ganz abgesehen davon würden dadurch die meisten „Sachzwänge“ nicht obsolet werden). Gefragt ist die Entwicklung sondern der Ausnutzung von Rissen in den herrschenden politischen Lagern (oder gar innerhalb der Apparate, denn auch sie kristallisieren und spiegeln, wie Poulantzas zurecht hervorgehoben hat, die gesellschaftlichen Gegensätze in sich), von Widersprüchen, die nach Auflösung – so oder aber auch so – schreien. Die Suche nach Verbündeten, dauerhaft oder zeitweise, die Beförderung von Diskursen, die Richtungen möglicher Gesellschaftsveränderung anzeigen (sind wir uns da tatsächlich alle so einig?), die Suche nach konkreten politischen Projekten, die zumindest in ihrer Zielrichtung über die Logiken der gegenwärtigen Mechanismen hinausweisen – all das sind Ansprüche an linkes parteipolitisches Handeln in Opposition wie Regierung.
Eine qualifizierte Kooperation zwischen Linkspartei und außerparlamentarischen Milieus und Netzwerken kann die Chancen für die Durchsetzung sozialistischer Vorstellungen und Ansätze im politischen Raum erhöhen, auch im Kapitalismus. Allerdings sind hierfür nach wie vor einige Hausarbeiten erforderlich. Dabei sind alle interessierten beteiligten Seiten gefordert. Mein Plädoyer richtet sich auf Nüchternheit, Problembewusstsein und realistischen Blick. Dies sind die besten Voraussetzungen, um hier voran zu kommen.
Was ich begrüße ist die geforderte Führung einer Debatte um Kernfragen heutigen linken Agierens. Was sind die aktuellen, prägnant vermittelbaren Anliegen linker Akteurinnen und Akteure? Oskar Lafontaines Rede auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz bezeichnet Orientierungskriterien: Der Kampf für regulative Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse und Erhaltung öffentlicher Infrastruktur, Demokratisierung und sozialer Schutz. Dies halte ich für gute Anknüpfungspunkte, wenn sie als diskursive „Baustellen“, nicht wie teilweise charakteristisch, reflexhaft als Maginot-Linien verstanden werden. Denn wir dürfen nicht den Blick für die Details hinter den Schlagworten verlieren, gewissermaßen Gefangene und Opfer eigener ideologischer Prämissen werden. Und wir dürfen uns nicht vormachen, dass es gelingen könnte, völlig souverän und autonom von anderen gesellschaftlichen Kräften zu agieren. Auch das wäre politischer Selbstbetrug. Jede Autonomie der Linken von den hegemonialen Kräften und bestehenden Kräfteverhältnissen kann nur eine sehr relative sein.
Um Verständnis bitte ich dafür, dass ich manche Argumentationslinie hier nur andeuten konnte. Diese holzschnittartige Darstellung ist der Tatsache geschuldet, dass es mir nicht so sehr um jede Feinheit, sondern um eine politisch-methodische Herangehensweise an das Problem ging.