Prof. Dr. Franz Walter, Professor für Parteienforschung an der Universität Göttingen. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter: Abschied von der Toskana. Die SPD in der Ära Schröder, Wiesbaden 2004 (2. Auflage 2005).
Franz Walter ist am 21. September zu Gast bei der RLS-Veranstaltung "Nach der Wahl – vor der Parteiformierung?" Vielleicht geht es in menschlichen Gesellschaften ja wirklich in Zyklen zu. In den ersten dreißig Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges dominierte der sozial- und wohlfahrtsstaatliche Konsens. Dann folgten rund dreißig Jahre eher neoliberaler Meinungsführerschaft. Und nun mag sich vielleicht wieder peu a peu eine Zeit kapitalismuskritischer Mentalitäten aufbauen. Begreiflich sind solche Pendelausschläge schon. Der dominierende Charakter in einem Zyklus produziert durch seine Einseitigkeit Probleme und Defizite, auf die die nachfolgende Ära kontrafaktisch antwortet – und eben dadurch ebenfalls Übertreibungen erzeugt, die dann wiederum zu gegensätzlich gelagerten Einstellungen, Werten und politischen Präferenzen führen.
Der Sozialstaat hat zweifellos besonders in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu etatistischen Maßlosigkeiten und institutionellen Erstarrungen geführt. Das wurde zur Ausgangslage und Legitimation für all die seither dominant zirkulierenden Metaphern wie „Entbürokratisierung“, „Privatisierung“, „Eigenverantwortung“, „Entstaatlichung“, „Globalisierung“. Doch hat diese Periode zu einem ungeheuren Anstieg der sozialen Ungleichheit geführt. Die Zahlen und Beispiele sind niederschmetternd: 20 Prozent der Weltpopulation ist unterernährt; das oberste Einprozent der Weltbevölkerung verfügt über ebenso viel Einkommen wie die unteren 57 Prozent. Der Besitz der drei reichsten Menschen übertrifft das Bruttosozialprodukt der 48 ärmsten Länder. Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler nannte das kürzlich einen Exzess. Und der Exzess wird weitergehen. Seriöse Prognosen gehen davon aus, dass zur Mitte des 21. Jahrhunderts die Hälfte der großstädtischen Bevölkerung dieser Welt in Slums leben wird.
Auch das durchaus noch reiche Deutschland ist in diesem Prozess keine Oase einer sozialpazifizierten Gesellschaft geblieben. Etliche hunderttausend Bundesbürger drängen Tag für Tag in die Suppenküchen der Wohlfahrtsverbände. Über ein Zehntel der Deutschen lebt in ständiger Armut. Die oberen zwei Prozent der bundesrepublikanischen Haushalte verfügen über 30 Prozent des Gesamtvermögens; die unteren 50 Prozent müssen sich mit knapp fünf Prozent begnügen. Und die ökonomischen Eliten haben sich mehr und mehr von ihrer gesellschaftlichen Verantwortung dispensiert. Zum Ende der Adenauergesellschaft betrug der Anteil der Gewinnsteuern am steuerlichen Gesamtaufkommen noch mehr als ein Drittel; derzeit sind es kaum noch 15 Prozent.
Zugleich hatte sich während dieses Prozesses gleichsam eine Einheitsfront neuliberaler „Reformer“ unter allen Bundestagsparteien gebildet. Der Begriff „Reformen“ jedenfalls wurde bei denen, die dominierend wirtschaften, deuten, administrieren, nachgerade sakrosankt. Er steht seither axiomatisch für das fraglos Gute, das unzweifelhaft Notwendige, für den einzigen Weg zum Heil aus dem schrecklichen Jammertal der viel zitierten „deutschen Krankheit“. Allein mit dem devoten Bekenntnis zur globalisierungsgesellschaftlichen „Reform“ verschaffte man sich daher Zugehörigkeit zu denen, auf die es in diesem Land ankommt. Wer auch nur ein vorsichtiges Fragezeichen setzte, wurde schnell und scharf exkludiert, galt als Panzerschrankgewerkschafter, als sozialstaatlicher Ewiggestriger, in der mildesten Version: als Leugner der Wirklichkeit.
Wer die Reformen nicht goutierte – und das sind seit Jahren hartnäckig und störrisch große bis größte Teile dieser Gesellschaft – sah sich politisch auf außerparlamentarisches Terrain abgestellt. Im nationalen Parlament jedenfalls, im Berliner Reichstag, hatte er keine Repräsentanz mehr. Dort teilten spätestens seit dem Frühjahr 2003 alle Fraktionen im Kern eine identische Reformphilosophie, von den Grünen bis zur CSU, von den Sozialdemokraten bis zu den Liberalen. Ein bisschen polemisch gewiss, aber gar nicht sonderlich übertrieben durfte man formulieren: Eine solche politische Einstimmigkeit hatte man in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus allein am 4. August 1914 erlebt. Im übrigen aber gab es davor und danach, bis in das Jahr 2003 hinein, noch ausreichend politische Differenz, genügend elementaren Streit über verschiedene politische Lösungswege, auch über grundlegende gesellschaftliche Alternativen. Eben diese konstitutive Kontroverse zwischen verschiedenen Deutungen, Philosophien, Interessen und Entwürfe ist das Elixier der Politik, die eigentliche Begründung und Legitimation für den Parteienstaat und den Parlamentarismus. Parteien haben die Aufgabe, die unterschiedlichen Einstellungen, sozialen Lagen, werteorientierte Postulate der einzelnen Bevölkerungsteile aufzunehmen, zu bündeln, zu strukturieren und in eine zivilisierte, aber scharfe Auseinandersetzung miteinander in die Arena des Parlaments zu tragen. Darin liegt die integrative, infolgedessen friedensstiftende Funktion des parteinstaatlichen Parlamentarismus.
Aber diese Funktion wurde seit der Agenda 2010 nicht mehr wahrgenommen. Weit über die Hälfte der Deutschen hatte, wie man kontinuierlich unzähligen Befragungen entnehmen konnte, Einwände gegen eine rein markt- und rentabilitätsorientierte Revision der überlieferten sozialen Sicherungssysteme. Das mochte konservativ begründet sein, sozialsentimental, linksprogressiv, christlich-nächstenliebend oder einfach nur dumpf sicherheitsorientiert. Gleichviel, es war jedenfalls eine zweifelsohne legitime Grundmentalität, die schließlich in einigen Ländern dieser Welt nicht unerfolgreich zu eher etatistischen, transferorientierten Lösungen wohlfahrtlicher Aufgaben führte. Aber in Deutschland besaß diese Mentalität im Deutschen Bundestag zuletzt keine Repräsentanz mehr. Keine Partei dort nahm die wohlfahrtsstaatlichen Stimmung auf, artikulierte sie im Parlament, gabt ihr politische Richtung und Rationalität. Bis in den September 2002 haben Grüne und Sozialdemokraten noch anderes versprochen und wurden durch diese Mentalität schließlich immerhin auch ein zweites Mal in das Kanzleramt und in die Bundesministerien getragen. Nach dem Agenda- und Richtungswechsel der rot-grünen Regierung siedelte sich ein Teil dieser nun frustrierten Mentalität zunächst hoffungsvoll bei den Unionsparteien an. Doch in der neu-verbürgerlichten Union gab es dafür erst recht keinen sozialkulturellen Raum oder gar eine politische Vertretung. Und so wurde diese wohlfahrtliche Stimmung und Schichtung gleichsam in die außerparlamentarische Randzone weggestoßen.
Dieser Raum wurde zum Humus für die neue Linkspartei in Deutschland. Gleichsam aus dem Abseits, zwischen Schweinfurt und Kiel gar aus dem Nichts überschritt die Lafontaine-Gysi-Partei während der kühlen Juli- und Augusttage zunächst rasch die 10%-Grenze und ließ die alteingesessene FDP und auch die ja keineswegs unerfolgreiche grüne Regierungspartei zwischenzeitlich hinter sich. Dabei war sie vom Beginn an auf den heftigen Gegenwind in den Kolumnen der medialen Chefinterpreten des Politischen gestoßen. Lafontaine und Gysi wurden weithin als politisch verantwortungsscheue Egozentriker geziehen, ihre politische Argumentation als hoffnungslos vorgestrig gegeißelt und ihr agitatorischer Stil als zutiefst verwerflicher Populismus verdammt.
Mit dem Etikett des Populismus war die neue Linkspartei von Anfang an signifikant behaftet. Und natürlich verstand alle Welt den attestierten populistischen Charakter negativ. Populisten sind schließlich Aufrührer, Polarisierer, Vereinfacher; sie argumentieren mit Stereotypen, agieren politisch ohne stimmiges und realitätstaugliches Programm. Das alles mag in der Tat so sein. Aber eine solche Beschreibung ist denkbar trivial. Vor allem: sie erklärt wenig. Denn die bösen populistischen Buben kommen schließlich nicht, gleichsam wie Zieten aus dem Busche, in einer rundum guten Demokratie voraussetzungslos und ohne jeden Grund nach oben. Populisten haben vielmehr dann Erfolg, wenn in einer Gesellschaft der Wurm steckt, präziser: wenn die staatlichen Repräsentativorgane an Legitimation verloren haben, wenn die etabliert politische Klasse nicht mehr überzeugt, wenn sich ganze Gruppen von den entscheidenden politischen Netzwerken und Aushandlungssystemen ferngehalten fühlen. Kurzum: es hilft wenig, sich über Populisten larmoyant zu ereifern; man wird schon nach den Gründen und Schubkräften ihres Aufschwungs fragen müssen.
Gerade die etablierten Parteien sollten eigentlich über den engen Konnex von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und populistischen Protest hinreichend informiert sein. Denn diesem Zusammenhang haben sie allesamt ihren Aufstieg zu verdanken. Am Anfang der Parteien stand durchweg der „Appell an das Volk“. Der frühe Liberalismus war in seiner Verschmelzung mit dem Nationalismus natürlich originär populistisch. Das katholische Milieu agierte im Kulturkampf der 1870er Jahre mit genuin populistischen Methoden gegen die protestantisch-liberale Führungsschicht in Staat, Wirtschaft und an Universitäten. Für das hybride proletarische Welterlösungsversprechen der marxistischen Vorkriegs-SPD galt das gleiche. Die Konservativen gerieten in den 1890er Jahren durch die Koalition mit dem wüst sozialreaktionär agitierenden „Bund der Landwirte“ in einen hemmungslos populistisch lärmenden Verbund. Auch der rousseausche Plebiszitärdemokratismus der anfänglichen Grünen war durch und durch populistisch. Und in allen diesen historischen Fällen nährte sich der Populismus in seiner ursprünglich parteibildenden Konstitutionsphase aus rückwärts gespeiste Sentimentalitäten, aus lang überlieferten Glücksversprechen, die durch eine raue, neu konstellierte Gegenwart jäh frustriert wurden. Über eine konzise, realistische, zukunftsadäquate Programmatik dagegen verfügte keine der in ihrer Genese populistischen Parteien. Und natürlich zog der frühe Populismus, besonders in der heute staatstragenden Schröder-Müntefering-SPD, exzentrische Propheten, eifernde Apostel, intransigente Ideologen, überdies prinzipienlose Glücksritter regelmäßig an – eine ganz gewöhnliche Pubertätserscheinung in Parteibildungsprozessen der modernen Parlamentsgeschichte. Und in der Tat: Auch die heutige Linkspartei im Westen ist voll davon. Ob sie aus diesen Kinderkrankheiten herausfindet, ist keineswegs gewiss oder gar zwingend. Das linkssozialistische Parteienprojekt mithin kann durchaus kläglich scheitern.
Doch unterscheidet sich die Linkspartei des Jahres 2005 markant von früheren Parteibildungen, besonders von bisherigen Linksabspaltungen in der Geschichte. Die heutige Linkspartei ist nicht zu vergleichen etwa mit der berühmt-berüchtigten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), die 1917 entstand und dann einen riesigen Zulauf an Mitgliedern in den Industrierevieren des Deutschen Reiches verzeichnete. Denn die USPD vor allem der Jahre 1919/20 war eine Partei radikalisierter Jugendlicher und extremistischer junger Erwachsener. Aus der entwurzelten, politisch eher bindungslosen jungen Generation besonders der mitteldeutschen Arbeiterschaft zog die USPD ihr rasches, dynamisches Wachstum, auch ihre aggressiver Militanz, ihre enthemmte Agitationssprache, ihren fraglos krausen Utopismus – im Übrigen ebenfalls ihr schnelles und ruhmloses Ende. Die USPD war insofern ein ganz typisches Phänomen des sozialen Protestes. In aller Regel waren junge Menschen dort die Motoren des Neuen. Meist sprachen sie als Repräsentanten geburtenstarker Jahrgänge, die um ihre Zukunft fürchteten.
Die neue Linkspartei auf dem Territorium der Altbundesrepublik aber ist gänzlich anders. Auf ihren Parteiversammlungen mag man zwar den einen oder anderen jungen Menschen treffen, doch dominieren eindeutig die 40 bis 55jährigen, die Kohorte der Geburtsjahrgänge 1950 bis 1965 also. Eben das hat bei den kommentierenden Journalisten in den letzten Monaten besonders viel Spott und Häme hervorgerufen. Die neue Linkspartei im Westen Deutschlands gilt als Partei der Abgehalfterten, eines überkommenen 70er-Jahre-Denkens, kurz: als Formation der ewig Gestrigen eines anachronistischen Sozialstaats. Und deshalb wird der neuen Partei von den hurtigen Talkern der TV-Republik auch schlechterdings keine Zukunft eingeräumt.
Doch ist das eine Perspektive, die wohl für gestern und vorgestern zutraf, aber nicht mehr für die nächsten 50 Jahre stimmen muss. Die Zukunftschancen einer Linkspartei liegen gerade darin, dass sie eben nicht primär als Partei eines ungestümen jungendlichen Radikalismus agiert. In früheren Gesellschaften war Jugend ohne Zweifel Motor, Ferment, Katalysator, war die schon numerisch mehrheitlich treibende Kraft der sozialen Entwicklung. Doch leben wir, erstmals in der Geschichte, in einer ergrauenden Gesellschaft. Und in der ergrauenden Gesellschaft des ersten Drittels des 21. Jahrhunderts werden die Kohorten der neuen Linkspartei die Majoritätsgruppe der Republik bilden. Die 1950er und 1960er Geburtsjahrgänge waren die Babyboomer der westdeutschen Gesellschaft. Bei Wahlen kommt es primär auf sie und das auch noch in den nächsten Jahrzehnten an. Sie - und nicht die schon zahlenmäßig marginalen jungen Altersgruppen - werden im Zentrum der ergrauenden Gesellschaft, der sozialen und politischen Handlungsweisen stehen. Die Zeiten einer gesellschaftlichen dominanten jugendlichen politischen Kultur werden für ein halbes Jahrhundert vorbei sein. In einer ergrauenden Gesellschaft ist der politische Held nicht mehr der kühne Jüngling, der mit überschlagender Stimme die Utopie der Zukunft ausmalt, der mit wehendem Mantel wie im Rausch einer neuen Gesellschaft entgegeneilt. In einer ergrauenden Gesellschaft wird sich das soziale und politische Veto gedämpft artikulieren: traditionalistischer, wahrender - sozialkonservativer.
Gerade also ein solcher Konservatismus anstelle des früheren Veränderungsfurors könnte – wenn man so will: paradoxerweise - einer Linkspartei nutzen. Im Grund braucht sie sich gar nicht verlegen gegen den Vorwurf zu wehren, eine restaurative Partei der 1970er-Jahre-Wohlfahrtsstaatlichkeit zu sein. Ihre Kernanhänger und Kernpotentiale im Westen Deutschlands, die geburtenstarken Jahrgänge, sind sämtlich durch die 1970er Jahre zutiefst geprägt worden. Und sie haben wunderschöne Erinnerungen an diese Zeit. Denn: Die meisten großen Emanzipationswellen haben ihren Anfang in diesen Jahren genommen. Die sozialkulturelle Differenz zwischen Stadt und Land hat sich seither erheblich nivelliert. Die akademischen Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen/Frauen haben sich im Zuge der 1970er Sozialstaatsreformen historisch einzigartig vermehrt. Die enormen Klassen- und Bildungsunterschiede zuvor zwischen Katholiken und Protestanten sind mittlerweile weitgehend ausgeglichen. Zahlreiche Kinder aus Facharbeiterfamilien haben die wohlfahrtsstaatlich aufgestellten Leitern des sozialen Aufstiegs genutzt. Das alles ist die Welt eines bedeutenden Teils der neuen bundesdeutschen linken Mitte. Und es ist der biographische Erfahrungsraum der allermeisten Funktionäre der neuen Linkspartei im Westen Deutschlands, die so trotzig an der erlernten Wohlfahrtsstaatlichkeit und ihrer individuellen Emanzipation während ihrer eigenen Jugend- und Sozialisationszeit festhalten.
Weiter noch: Einer der größten, heute allerdings merkwürdigerweise desavouierten Erfolge der deutschen Wohlfahrtsstaatlichkeit war die soziale Absicherung des Alters. Die Menschen zuvor hatten es immer anders gekannt. Alter bedeutete über all die Jahrhunderte stets bittere Armut, elementare Abhängigkeit, existenzielles Risiko. Die wohlfahrtsstaatliche Absicherung des Alters indessen erlaubt den Menschen nun auch für die Jahre diesseits des Produktivismus ein freiheitliches und selbstbewusstes Leben zu führen. Die Wohlfahrtsstaatlichkeit schuf die Voraussetzung – und dies zum ersten Mal in der Geschichte der Menschen -, dass sich die Bürger nach dem Erwerbsleben souverän für einen Neuanfang entscheiden können, dass sie Projekte versuchen, die in ihrem ersten Lebensentwurf nicht enthalten waren, dass sie sich bewusst neue Erfahrungen zutrauen, für die im vorangegangen Lebensabschnitt noch kein Platz war. Die Wohlfahrtsstaatlichkeit hat diese Optionsgesellschaft überhaupt erst möglich gemacht – auch und gerade für einen großen Teil der älteren Menschen. Eine Linkspartei, deren Aktivisten im Zentrum der ergrauenden Gesellschaft stehen, könnte daher den Kern dieser auch künftig durchaus populären Wohlfahrtsstaatlichkeit gegen einen zu überspitzt ökonomistisch-juvenilen Neuliberalismus (rigoros eigenverantwortlicher Kapitalbildung für das Alter) verteidigen.
Überraschend jedenfalls wäre eine solche Entwicklung nicht. Dergleichen hat man – weggleich sehr viel stärker frauendominiert als in Deutschland - in etlichen europäischen Ländern längst beobachten können, vor allem in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten. Die Gesellschaften dort haben schon seit drei bis vier Jahrzehnten mit linkssozialistischen Sozialstaatsparteien einer vor allem öffentlich bediensteten Mitte zu tun. Die Linksparteien sind keineswegs – wie oft unempirisch vermutet - Protestformationen der Marginalisierten und Rückständigen in den modernen postindustriellen Gesellschaften. In den Reihen der Linkssozialisten befinden sich vielmehr überwiegend Hochgebildete, gut qualifizierte Sozial- und Humandienstleister mittlerweile eher fortgeschrittenen Alters, durchaus auch überraschend viele Selbständige. Aufgeregte Furchtsamkeiten löst der Linkssozialismus in den nord- und südeuropäischen Ländern längst nicht mehr aus. Die sozialdemokratischen Parteien in Skandinavien gehen mit ihm kühl und berechnend Tolerierungs-, zuweilen auch Koalitionsbündnisse ein.
Nicht anders mag es auch in Deutschland nach dem Abgang von Lafontaine und Schröder kommen. Schon für die Wahlen 2005 ist nicht auszuschließen, dass Oskar Lafontaine zum – wenn auch unfreiwilligen - Retter des gouvernementalen Fortbestands der Sozialdemokratie wird. Dank der rhetorischen und gewiss auch demagogischen Ausstrahlung Lafontaines wird die neue Linkspartei in Deutschland sicher und souverän die 5-% Hürde nehmen. Doch ist die SPD in einem solchen Fall keineswegs, wie merkwürdigerweise gerade bei Sozialdemokraten selbst oft befürchtet, das erste Opfer des neulinken Erfolges. Die Sozialdemokraten könnten vielmehr in einem solchen Fall ihre marktgesellschaftliche Agendapolitik der letzten Jahre guten Gewissens weiterentwickeln. Die SPD müsste sich nicht mehr mit der Ambivalenz beschweren, einerseits ein bisschen politische Arbeiterwohlfahrt und Retter traditioneller Wohlfahrtsstaatlichkeit zu spielen, anderseits aber doch auch als moderne Agentur ressourcenstarker neuer Eliten in der modernen Wissensgesellschaft wahrgenommen zu werden. Für die Apologeten der überlieferten Wohlfahrtsstaatlichkeit und für die die Kritiker des globalisierten Neokapitalismus wäre dann vielmehr allein die Lafontaine-Gysi-Partei zuständig. Diese könnte mit sozialpopulistischer Verve die Konversion der Frustrierten und Verbitterten zur Union verhindern bzw. rückgängig machen; sie könnte die neuen, von der SPD enttäuschten Nichtwähler elektoral abermals für die Linke einspannen. Eine Linkspartei, die als eine solche Sammlungsbewegung in den Bundestag einzieht, mag – wie seit Anfang August zum Schrecken der CDU/CSU-Strategen deutlich wird - ein ernsthaftes Hindernis für die Mehrheit der schwarz-gelben Allianz sein. Entstanden aus Protest gegen die Schröder-SPD würde sie die müde gewordenen Sozialdemokraten wieder zurück ins politische Regierungsspiel bringen und weiter in die gesellschaftliche Mitte der Republik sowie des parlamentarischen Spektrums drängen.
Erstaunen kann eine solche, gleichsam skandinavische Entwicklung im Grunde nicht. Die Integration der Volksparteien lässt schließlich nach; das Parteienspektrum fächert sich aus; neue Koalitionsmuster müssen sich im Vielparteiensystem zwangsläufig herausbilden. Wenn die Gesellschaft sich rasant transformiert, dann kann sich das konventionelle Parteien- und Koalitionssystem eben nicht kommod konservieren. Gerade forschen Modernisierern, die den Bürgern unablässig Wandel und Veränderung anempfehlen, dürfte das nicht fremd sein. Gerade kühne Modernisierer sollten sich also daher mit der parlamentarischen Existenz einer Linkspartei selbstbewusst abfinden können.