„Die Gleichstellung der Geschlechter gehört zu den Grundfesten einer demokratischen Gesellschaft. Sie erfordert nicht nur den rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, sondern auch die aktive Förderung der Geschlechter, wo immer überkommene Rollenbilder eine gleichwertige Teilhabe an Beruf und Gesellschaft verhindern.“ So heißt es im Entwurf des Programms der Linkspartei zu den Bundestagswahlen im September. Als er am 17. Juli 2005, auf dem letzten Parteitag der „alten“ PDS, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, war ich Tausende Kilometer und offensichtlich ein halbes Jahrtausend von Berlin entfernt, im Irak, mitten in einer zivilisatorischen Katastrophe für die irakischen Frauen. Das Gerede der britischen und US-amerikanischen Besatzungspolitiker von einem demokratisierten Irak lässt nicht nach, aber die Situation der irakischen Frauen ist der offiziellen westlichen Politik kaum ein kritisches Wort wert.
Auf meiner Reise traf ich Samira, eine junge, sogar jugendlich wirkende, vielleicht 30jährige Lehrerin aus der Ortschaft al Khalis in der irakischen Provinz Diala. Sie spricht mit den Gesten europäischer Mädchen, wie ich sie aus Brüssel oder Berlin kenne. Samira lacht gern und oft, dann wirkt ihr Gesicht noch offener als ohnehin schon. Was sie jedoch erzählte, ist bedrückend und bestätigt, was ich bei meinen Begegnungen im Irak oft gehört habe. Samira ist Vorsitzende der Frauenorganisation von al Khalis. Zu den Lokalwahlen kandidierte sie als Parteilose für die Islamische Partei (der Sunniten). Aber am Wahltag fand sich plötzlich ihr Name nicht mehr auf den Listen in den Stimmlokalen. Ihr Einspruch wurde ebenso wie der anderer Kandidaten mit der Begründung abgewiesen, auf den bestätigten Wahllisten habe er ja noch gestanden und man könne nun wegen dieser „Einzelfälle“ nicht die Wahlen wiederholen. Letztlich verlor Samira ihre Funktion in der Stadtverwaltung.
Noch schlimmere Erfahrungen musste auch Dr. Suha Al-Azaye, Vorsitzende einer nationalen Frauenorganisation und stellvertretende Generalsekretärin der Irakischen Demokratischen Vereinigung, machen. Als Mitglied der Kommission zur Ausarbeitung der Verfassung forderte sie in einer Sitzung des Gremiums die Aufnahme von Frauenrechten in das künftige Grundgesetz Iraks. Die Antwort ihrer Kollegen in der Runde war ebenso eindeutig wie erschreckend: Die Frauenrechte seien bereits ausreichend in den islamischen Gesetzen der Scharia geregelt. „Das war das erste Mal, dass Sie dazu gesprochen haben. Ein zweites Mal wird es nicht geben“, sagte ihr unwidersprochen ein islamistisches Mitglied der Verfassungskommission. Dennoch hat Frau Suha Al-Azaye ihren Optimismus und Kampfeswillen nicht verloren. Erst Ende Juli hat sie gemeinsam mit Sympathisanten und Mitstreiterinnen einen Frauenprotest in Bagdad organisiert.
Gerade im Süden Iraks, der in den westlichen Medien gern als sicher und stabil bezeichnet wird, bauen fundamentalistische Milizen und deren Mordkommandos ihre Macht aus. In Basra beherrschen sie nach Angaben des Polizeichefs bereits drei Viertel der Stadt. Ihre reaktionäre Frauenpolitik haben die Extremisten längst weitgehend durchgesetzt. Mehrfach forderten meine sunnitischen Gesprächspartner, dass die doppelte Okkupation des Irak – die offene durch die Besatzungstruppen sowie die latente durch fundamentalistische Gruppen und Milizen – sofort beendet werden müsse. Die Spaltung des Landes ist eine reale Gefahr.
In naher Zukunft ist ein Ende von Besatzung und Fundamentalismus allerdings nicht abzusehen. Damit wächst der Widerstand, zugleich aber werden auch Gewalt und Terror weiter gespeist. Die Situation vor allem rund um Bagdad ist katastrophal. Die Bombenanschläge häufen sich. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass es noch schlimmer sein könnte als im letzten Sommer. Doch nun scheint auch eine weitere Eskalation nicht ausgeschlossen. Nicht zuletzt trägt auch die dramatische wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung dazu bei: Junge Männer aus armen Verhältnissen verkaufen sich als Selbstmordattentäter, um der Schwester, der Mutter oder der ganzen Familie zu helfen. Bis zu 15.000 Dollar erhalten sie von den Extremisten dafür und sehen sich selbst ganz und gar nicht als Kriminelle oder Terroristen, sondern als Unterstützer für das Überleben ihrer Angehörigen, zudem oft als Märtyrer. Auch das macht den Widerstand und Terror so unkalkulierbar. Die US-Truppen erklärten die Reduzierung der Anschläge und Angriffe auf die Besatzungskräfte von aktuell 80 auf 45 pro Tag zu ihrem Ziel. Das würde der Zahl vor den Wahlen entsprechen. Für die Verringerung des täglichen Terrors, dem die Irakerinnen und Iraker aus unterschiedlichsten Richtungen ausgesetzt sind, gibt es bezeichnenderweise nicht einmal ein solches Ziel.
Kolumne für Disput, 10. August 2005