Publikation Bildungspolitik - Ungleichheit / Soziale Kämpfe Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in Deutschland und in der Tschechischen Republik

Deutsch-Tschechischer Workshop des Studienwerks der RLS am 8.2.02 in Berlin. von Sigrid Pfeiffer (Hrsg.), Manuskripte 44 der RLS

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Reihe

Manuskripte

Autor

Sigrid Pfeiffer,

Erschienen

September 2003

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Deutsch-Tschechischer Workshop des Studienwerks der RLS am 8.2.02 in Berlin. von Sigrid Pfeiffer (Hrsg.),

Manuskripte 44 der RLS

Inhalt

Vorwort

ANDRÉ BRIE: EU-Beschäftigungspolitik, Osterweiterung und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Grenzregionen

MILOSLAV RANSDORF: Umstrukturierung der Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitk in der Tschechischen Republik

ZDENEK ZBORIL: Politische Parteien und öffentliches Meinungsbild hinsichtlich des EU-Beitritts der Tschechischen Republik

KLAUS SÜHL: Innovatives Programm für ein Land in Arbeit

GUNDULA RÖHNSCH: Straßenleben Jugendlicher in Deutschland – mögliche Ursachen, Erscheinungsformen und Hilfsansätze

KLAUS LEDERER: Zu den Auswirkungen des EG-Vertragsrechts auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Kommunen

ANDRE BRIE/ANGELA MARQUARDT: Zukunft der Erwerbsarbeit

Autoren

Vorwort

Europa wächst zusammen. Chancen und Risiken halten sich die Waage. Oder überwiegen die Risiken? Ich meine, die Chancen überwiegen. Es ist angenehm, länderübergreifend ohne Pass reisen zu können. Andere Kulturen können als Bereicherung empfunden werden und begeistern mich bei jedem Schritt im Nachbarland. Jedoch wird allerorten ein allgemeines Informationsdefizit beklagt. Bürgerinnen und Bürger sind kaum an Entscheidungsprozessen beteiligt. Wir im Studienwerk der Rosa Luxemburg Stiftung gehen davon aus, dass der Vereinigungsprozess nicht zu stoppen ist.

Er befindet sich in voller Fahrt. Und um nicht auf den fahrenden Zug aufspringen zu müssen, hat das Studienwerk bereits im Jahr 2001 mit ihren Stipendiatinnen und Stipendiaten eine Ferienakademie zu Fragen der Kommunalpolitik in Tschechien veranstaltet. An die im Vorjahr in der Tschechischen Republik angebahnten Kontakte zu Politikerinnen und Politikern konnten wir 2002 anknüpfen. Vor allem mit Hilfe tschechischer Stipendiatinnen und Stipendiaten und Alumnis gelang es, einen vielschichtigen eintägigen Workshop in Berlin zur Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik vor dem Hintergrund der Osterweiterung zu organisieren. Für die gute Zusammenarbeit, insbesondere mit unserem ehemaligen tschechischen Stipendiaten, Dr. Jiri Holub, bedanken wir uns recht herzlich.

Obwohl im Bericht der EU-Kommission zum Stand der Beitrittskandidaten die guten Noten für die Tschechische Republik überwiegen, gibt es Grund genug zu gesunder Skepsis. Spätestens seit Nizza hat sich die Forderung nach umfassenden Reformen der EU unter Berücksichtigung der politischen, ökonomischen und sozialen Fragen der Beitrittskandidaten verschärft.

Eines der größten Probleme ist die Arbeitslosigkeit, nicht nur in den Kandidatenländern. Eine Arbeitslosenquote von 8,4 Prozent und eine Inflationsrate von 3,9 Prozent in Tschechien veranlassten das Studienwerk der RLS, gemeinsam mit Stipendiatinnen und Stipendiaten einen deutsch-tschechischen Workshop in Berlin mit deutschen und tschechischen Politikerinnen und Politikern zum Thema Arbeitsmarktpolitik zu organisieren.

Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ist auch in Deutschland ein Dauerbrenner. Die deutsche Wirtschaft ist einer der größten Gewinner des Beitritts mittel- und osteuropäischer Staaten. Doch für die ostdeutschen Grenzregionen springt wenig heraus. Westdeutsche Regionen sind kapitalstark und gut gerüstet, ostdeutsche kapitalschwache Unternehmen können den Standortvorteil der geografischen Nähe zu den Beitrittsländern kaum nutzen. Zu oft überwiegt der Kampf um das eigene Überleben.

Am 8.Februar 2002 veranstalteten wir in Berlin den Workshop "Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik vor dem Hintergrund des EU-Beitritts der Tschechischen Republik". Bringt EU-Osterweiterung Arbeitsplätze – so stellte sich die Hauptfrage des Workshops.

Der Workshop bot Gelegenheit, brennende Probleme der Integration zu diskutieren. Insbesondere jene Stipendiaten, die bereits kommunalpolitisch als Abgeordnete arbeiten, konnten sich zu beschäftigungspolitischen Fragen einbringen. Ergänzt und vertieft wurden Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt, vertreten durch die arbeitsmarktpolitische Sprecherin Sabine Dierlich, sowie aus Mecklenburg-Vorpommern, vertreten durch den Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Bau und Landesentwicklung Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Klaus Sühl.

Dr. André Brie, Abgeordneter der GUE/NGL-Fraktion im Europaparlament, stellte die europäische Beschäftigungspolitik im Zusammenhang mit dem EU-Gipfel in Barcelona dar. Er analysierte die aktuelle Beschäftigungspolitik der EU und zog Parallelen unter den Bedingungen der EU-Erweiterung, zum einen für Deutschland, speziell die ostdeutschen Grenzgebiete, zum anderen für die Tschechische Republik und weitere Beitrittskandidaten. André Brie deckte Defizite der EU-Politik auf, skizzierte mögliche Alternativen und eine machbare, grenzüberschreitende beschäftigungspolitische Zusammenarbeit an der bisherigen Ostgrenze der EU.

Im Gegenzug stellte Dr. Miloslav Ransdorf spezifische Probleme der Arbeitsmarktpolitik in Tschechien dar. Der stellvertretende Vorsitzende der tschechischen KP verwies darauf, dass in dem historisch kurzen Zeitraum von etwa fünf Jahren 85 Prozent der Staatsbetriebe in private Hand überführt worden seien. Darin liege eine der Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit, die in einigen Städten und Gebieten 30 bis 40 Prozent betrage. Die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter habe seit 1990 den Beruf gewechselt, im Gegensatz zur BRD ohne Hilfe des Staates. Da die Dispositionsrechte in Eigentumsrechte übergegangen seien, müsse Tschechien dringend Hausaufgaben in Sachen Steuer- und Finanzpolitik machen; die anstehende Verwaltungsreform stecke noch in den Kinderschuhen. Hier sei Erfahrungsaustausch mit Deutschland unabdingbar.

Unsere tschechischen Freunde hatten von der Karls-Universität Prag Dr. Zdenek Zboril, Chefredakteur der Monatszeitschrift "Internationale Politik", mitgebracht. Nach einer Umfrage, so Dr. Zboril, glaubten 70 Prozent der Bevölkerung, ihr Lebensstandard könne sich nach dem Beitritt zur EU verbessern. 38 Prozent glaubten, die soziale Sicherheit bleibe erhalten. Für eine große Unsicherheit sorge die verbreitete Befürchtung, es gäbe zu wenig Informationen über den EU-Beitritt. Die Folge sei auch ein Emotionsfrust gerade bei der Jugend, die doch eigentlich zu den Gestaltern des Beitritts gehören sollte.

Stipendiatinnen und Stipendiaten und Alumnis brachten sich im Workshop mit eigenen Beiträgen ein. Die Promotionsstipendiaten der RLS bewiesen, dass sie die durch ein Stipendium geförderte Zeit effektiv genutzt hatten.

Gundula Röhnsch z. B. forscht zu möglichen Ursachen, Erscheinungsformen und Hilfsansätzen von Straßenjugendlichen in Deutschland. Ihre Darlegungen bestachen durch Detailtreue und Objektivität. Solcher Art Forschung existiert in Tschechien nicht, bedauerten unsere tschechischen Partner.

Gleichwohl bestehen ähnliche Probleme in unmittelbarer Schärfe. Deshalb wurde Gundula Röhnsch kurzerhand eingeladen, am Goethe-Institut zu referieren.

Zur Workfare-Politik in Deutschland, zur Transformation sozialstaatlicher Regulation von Lohnarbeit und Existenzsicherung, sprach Christian Brütt. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen standen vor allem die Auswertung der Praxis der "Hilfe zur Arbeit" einzelner Länder und Kommunen sowie die Diskussion des Lohnabstandsgebotes und die Anwendung des § 25 BSHG, Kürzungen der Sozialhilfe.

Mit seiner Studie "Der Einsatz kommunaler Vermögenswerte zur Sicherung der strategischen Handlungsfähigkeit und zum Abbau struktureller  Haushaltsdefizite" hatte Klaus Lederer, Abgeordneter im Berliner Stadtbezirk Pankow und Promotionsstipendiat der RLS, bereits in der Öffentlichkeit für Aufsehen gesorgt. Auf dem Workshop referierte er vor allem zu Auswirkungen des EU-Rechtes auf die Erfüllung kommunaler Aufgaben im Wirtschaftssektor, der sogenannten Daseinsvorsorge.

Eindeutiges Fazit des Workshops: Eine sozial gerechte und ausgewogene Politik der Regierungen der europäischen Länder und der EU-Kommission wird ausschlaggebend sein, ob soziale Verwerfungen beiderseits der jetzigen Grenzen zu Deutschland vermieden werden können. Europa – das muss als Synonym für mehr und bessere Arbeitsplätze, mehr soziale Sicherheit und Stabilität auf dem Kontinent stehen.

Sigrid Pfeiffer