Eindrücke während einer tropischen „Winterreise“ nach Porto Alegre, Montevideo und Santiago de Chile (Juli-August 2004)
Besuche bei den Partnern der RLS im Süden Brasiliens, in Uruguay und Chile machen komplexe Reisen erforderlich. Wir verließen Sao Paulo bei durchschnittlichen Tagestemperaturen von bis zu 20º Grad Celsius, nachts kühlten die Temperaturen auf 9º bis 15º Grad Celsius ab. Wer da meint, dass es „im Süden“ immer warm und gemütlich ist, sieht sich in den Monaten Juli - August in diesen Gefilden gründlich enttäuscht: Es ist tropischer Winter.
Unsere Hoffnung auf wärmeres Wetter wurde uns bei der Ankunft in Porto Alegre erfüllt: Mittagstemperaturen von 32º. Wir waren froh, bis es gegen Abend zu gewittern begann und auch hier die Temperaturen auf 15º Grad absanken. Da es nirgendwo Heizungen gibt, empfindet man diese Temperaturen bei der hohen Feuchtigkeit wirklich als kalt.
Porto Alegre – ein Markenzeichen der PT, Symbol des Weltsozialforums
In den Gesprächen mit Partnern in Porto Alegre wurde uns allerdings klar, dass es in der Politik heiß hergeht.
Im Oktober dieses Jahres finden in Brasilien Kommunalwahlen statt. Ihr Ausgang wird einen wesentlichen Einfluss auf die Umstände haben, unter denen das Weltsozialforum stattfinden wird. Das wollten wir nun in den Gesprächen mit unseren Partnern ergründen.
Seit 1989 hat die Stadt Porte Alegre einen Bürgermeister der brasilianischen Arbeiterpartei (PT). Zwar wechselten die Personen, aber die von ihnen realisierte Politik führte immer zur Wiederwahl der PT. Nicht zuletzt war dies das Ergebnis einer politischen Innovation: der Einführung des partizipativen Haushaltes. Im Verlaufe der Jahre erlangten die Bürger der Stadt immer mehr Möglichkeiten, das Budget der Stadt selbst – und mitzubestimmen. Porto Alegre wurde zu einer Schule direkter Demokratie.
Heute kann der gemeinsame Kandidat der Frente Popular, Raul Pont, darauf verweisen, dass sich im Jahre 2003 die Ausgaben der Stadt für das Gesundheits-, Bildungswesen, für die Sozialsysteme und für den Wohnungsbau im Vergleich zu 1989 faktisch verfünffacht haben. Daran war Pont in den zurückliegenden Jahren direkt beteiligt. Erst als stellvertretender Bürgermeister gemeinsam mit Tarso Genro und von 1996 bis 2000 als Bürgermeister der Stadt.
Porto Alegre hat mit diesem Modell der direkten Beteiligung der Bürger international große Anerkennung erfahren. Nicht zuletzt deshalb wurde die Stadt zum Austragungsort des Weltsozialforums, was im Januar 2005 dort seine fünfte Auflage erfährt.
Alle Voraussagen sprechen heute dafür, dass es für die in Brasilien regierende PT schwer wird, in den Wahlen 2006 die Erfolge der vergangenen Entscheidungen auf Bundes- und kommunaler Ebene zu wiederholen. In den Gesprächen mit den Partnern wurden Befürchtungen laut, dass es auch in Porto Alegre schwer werden wird.
Grund dafür ist die wachsende Ablehnung der Wirtschaftspolitik der Regierung Lula, die im Gegensatz zu ihren Vorwahlversprechungen die Interessen des Marktes vor die Lösung der sozialen Fragen im Lande stellt.
Raul Pont selbst sieht den Wahlen allerdings gelassen entgegen. Sein Optimismus basiert auf der Überzeugung, dass die Bürger richtig zu entscheiden wissen. Pont ist als versierter Kommunalpolitiker bekannt, was er in den vergangenen Jahren unter Beweis gestellt hat. Außerdem meint er, dass die PT im Staat Rio Grande do Sul und deshalb auch in der Stadt gefestigter sei als in anderen Teilen des Landes, sprich, sie ist linker. Sollte sich hinter dieser Meinung eine kritische Haltung gegenüber der Bundesregierung verstecken, bleibt im Falle eines Wahlsieges abzuwarten, wie sich dann sein Verhältnis als Bürgermeister einer Stadt wie Porto Alegre zu Präsident Lula gestalten wird.
Jedenfalls, so auch Pont im persönlichen Gespräch, hat die PT die Fehler, die sie vor der Gouverneurswahl 2002 gemacht hat, nicht wiederholt. Differenzen in der PT über den geeigneten Kandidaten hatten zum Verlust der Staatenregierung geführt. Diesmal habe sich die PT in der internen Wahl eindeutig für seine Kandidatur entschieden und damit auch der Öffentlichkeit ein deutliches Zeichen für Kontinuität in der Stadt gegeben.
Im Unterschied zu anderen großen Städten, in denen die PT Allianzen mit ansonsten oppositionellen Parteien eingeht, steht die PT in Porto Alegre allein. Sie profitiert davon, dass die Opposition vor Ort sehr gespalten ist.
Gewinnt Pont in Porto Alegre, würden damit positive Auswirkungen auf die Bundeswahlen 2006 für die PT im Bundesstaat Rio Grande do Sul geschaffen. Und nicht zuletzt für das Forum, dem bei einem Sieg der Opposition Schwierigkeiten entstehen würden.
Die letzten Umfragergebnisse sehen Pont und die PT im Aufwind: Fast 32% der Befragten sehen ihn vorn, gegen den Zweitplatzierten, der knapp 17% aufweisen kann.
Die Zukunft des Prozesses der demokratischen Partizipation wird während der Wahlen im Oktober entschieden. Die PT in Puerto Alegre könnte mit einem Sieg für das ganze Land ein Zeichen positiver Entscheidungen zu setzen.
Hat die Frente Amplio bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Uruguay die Nase vorn?
Von Porto Alegre nach Montevideo ist es nur ein Katzensprung. Wir sahen uns in der Hoffnung getäuscht, am La Plata bessere Temperaturen anzutreffen. Trotz Sonne erwärmten sich die Tagestemperaturen nicht über 18º Celsius. Die Menschen in der Stadt trugen Schals, Jacken und dicke Mützen. In einem kommunalen Zentrum, das wir am Rande der Stadt besuchten, im Stadtteil Cerro, war in der Mitte des Raumes eine Kamin installiert, um wenigsten etwas Wärme durch ein offenes Holzfeuer zu verbreiten.
Wir rückten nahe ans Feuer und unterhielten uns mit einigen neugewählten Consejales (Vertretern der Nachbarschaftsräte).
Das Jahr 2004, das mit den Wahlen der Nachbarschaftsräte im Mai begann, wird im Oktober mit den Wahlen für das Parlament und den Präsidenten fortgesetzt. Im Mai 2005 schließen sich dann die Gemeindewahlen an.
Die Nachbarschaftsräte sind eine politische Innovation, die die Montevideo regierende linke Frente Amplio während ihrer Amtszeit eingeführt hat. Seit 1989 regiert sie in der uruguayischen Hauptstadt und leitete eine Phase der Demokratisierung und Dezentralisierung der Stadtverwaltung ein. Die Nachbarschaftsräte agieren als Beiräte der lokalen Gemeindevertretungen, setzen sich aus gewählten Vertretern der Zivilgesellschaft zusammen und sind wichtige Akteure des Dezentralisierungsprozesses. Zunehmend mehr Vollmachten gab die linke Stadtverwaltung den Nachbarschaftsräten in die Hand.
In der schweren Wirtschaftkrise, die das Land 2001-2002 durchmachte, waren die Nachbarschaftsräte Initiatoren direkter Nachbarschaftshilfe. Sie organisierten und verteilten gemeinsam mit den Gemeindevertretungen Nahrungsmittel in örtlichen Lokalen (merenderos), waren Initiatoren der Gemeinschaftsküchen (ollas populares) und der Einrichtung von Gemeinschaftsgärten (huertas comunitarias). Politisch ging die Krise allerdings auch an den Nachbarschaftsräten nicht spurlos vorbei.
Die zunehmende Verarmung der Bevölkerung, das sprunghafte Wachstum von Elendsvierteln, die irregulären Siedlungen in Montevideo (jeder 5. Einwohner der Stadt lebt heute dort) und die wachsende Zahl von Emigranten (jährlich verlassen ca. 35.000 Menschen Uruguay) führten zu einer vehementen Veränderung der Sozialstruktur des Landes. Aus der ehemaligen „Schweiz Südamerikas“ wurde das lateinamerikanisierte Uruguay: Wachstum der Arbeitslosigkeit auf 15-18%, rapides Absinken der Löhne und Gehälter, Anstieg der Inflationsrate auf ca. 10% und damit eine außerordentlich Abwertung des uruguayischen Peso, Schließung von Betrieben.
Unsere Gesprächspartner, die sich am Holzfeuer zusammengefunden hatten, sprachen vor allem über ihre persönlichen Erfahrungen. In der Mehrzahl waren es Menschen, deren soziale Existenz zerstört wurde und die heute mit ihren Familien in den favela-artigen Siedlungen Montevideos leben. Um Arbeit zu finden, müssen sie lange Fußmärsche unternehmen, da sie nicht einmal das Geld für die öffentlichen Verkehrsmittel haben. Haben sie eine Arbeit in Aussicht, verschweigen sie ihren gegenwärtigen Wohnort.
Die neugewählten Räte suchen nach Hilfe und Unterstützung. Unser Partner, die des Casa Bertolt Brecht in Montevideo, unterstützt vor allem durch die Vermittlung von Erfahrungen. Ihr Streben geht danach, möglichst viele Menschen zu gewinnen, sich für die Gemeinschaftsarbeit zu engagieren.
Im Stadtteil Cerro, in dem unser Projekt realisiert wird, brachte das Engagement erste Ergebnisse. Mehr als 50 Personen waren bereit in den Wahlen zu kandidieren. Vor allem wurde erreicht, dass mehr Jugendliche sich an der Arbeit der Räte beteiligen.
Für die kommenden Nationalwahlen ist damit für die Frente Amplio eine gute Ausgangsposition geschaffen. Und die Frente braucht echte Unterstützung.
Waren die Aussichten für einen Wahlsieg der Frente Amplio Ende 2003 noch sehr gut, so wird nun befürchtet, dass es zu einem sehr knappen Wahlausgang kommen kann. Die Regierungskoalition von Colorados und Blancos ist im vergangenen Jahr zwar auseinander gefallen, aber wirtschaftliche Indikatoren haben sich verbessert. Die Blancos (die Nationalpartei) greifen zudem Losungen der Frente populistisch auf und verwenden sie in ihrem Wahlkampf.
Unter anderem haben die Blancos ihr Ausscheiden aus der Koalition damit begründet, nicht weiterhin die neoliberale Politik Präsident´ Battles unterstützen zu können. Der aus den Parteivorwahlen hervorgegangene Kandidat der Nationalpartei, Larrañaga, kommt aus dem linken Flügel dieser Partei. Für ihn könnten Wähler stimmen, die nicht allzu viel Vertrauen in die Regierungsfähigkeit der Frente setzen.
Schließlich kommt hinzu, dass die Nationalpartei in der Kampagne gegen die Privatisierung des Wassers nur auf der Seite der Privatisierungsgegner steht.
Noch im März 2003 hatte die Regierung Battle eine Gesetzesvorlage eingebracht, die eine Privatisierung des Wassers und der Wasserentsorgung vorsah.
Es hat sich eine breite Front von sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Organisationen gebildet, die Wasser als Allgemeingut betrachtet und als für jedermann zugänglich verteidigen. Die „Kommission zur Verteidigung des Wassers und des Lebens“ ruft dazu auf, am 31.10.2004, dem Wahltag, im Referendum gegen die Privatisierung zu stimmen.
Die uruguayische Gesellschaft hat Erfahrungen mit Referenden. Erst im Dezember 2003 hatten sich 62% der Bevölkerung gegen die Privatisierung der nationalen Erdölgesellschaft ANCAP ausgesprochen.
Die mehr als zwanzig in der Frente Amplio im „Progressiven Bund“ zusammengeschlossenen Parteien gehen davon aus, dass ihre Wähler sich eindeutig gegen eine Privatisierung des Wassers aussprechen. Das nährt gleichzeitig die Hoffnung auf einen Wahlsieg ihres Kandidaten Tabaré Vàzquez. Vázquez, der von 1989 bis 1994 Oberbürgermeister Montevideos war, hat sich in dieser Zeit eine breite Anerkennung erworben. In Montevideo wurde durch die Frente Amplio das Projekt einer Demokratisierung von unten, u.a. durch eine breite Dezentralisierung initiiert.
In einem Land, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung in der Hauptstadt lebt, ist der Gegensatz zum Land jedoch stark ausgeprägt. Bisherige Nationalwahlen wurden von einer konservativen Mehrheit auf dem Lande entschieden. Für die Frente kommt es nun in den kommenden Wochen darauf an, überzeugend nachzuweisen, dass sie auch auf nationaler Ebene mit ihren Demokratisierungsbestrebungen und ihrer Sozialpolitik regierungsfähig ist.
Einem Sieg der Frente Amplio im Süden des lateinamerikanischen Kontinents käme im gegenwärtigen politischen Moment einige Bedeutung zu. Die Frente als Regierungspartei würde gemeinsam mit Brasilien und Argentinien zur Stärkung des MERCOSUR (dem gemeinsamen Markt zwischen diesen Ländern) beitragen. Demokratisierungsprozesse, wie sie in diesen Ländern vor sich gehen, würden gestärkt werden. Nicht zuletzt wäre ein Nein gegen die Versuche das Wasser zu privatisieren, ein Beitrag im Widerstand der Völker dieser Region gegen den Ausverkauf ihrer Ressourcen.
Im Widerstand gegen neoliberale Politik, in der Auseinandersetzung mit Hunger und Armut und in der Verteidigung demokratischer Errungenschaften hat sich ein dichtes Netz sozialer Verflechtung entwickelt, was für den Oktober 2004 die Hoffnung nährt, einen Wandel vollziehen zu können.
Chile kämpft um sein Kupfer und gegen die Armut
Die dicke Wolkendecke über den Anden verhieß nichts Gutes. Eine dunstige Nebelschicht über der Stadt kündigte an, dass auch in Santiago die Sonne kaum eine Chance haben würde. Tatsächlich – auch hier Temperaturen, die sich um 15 bis 20 Grad Celsius bewegten. Nieselnder Regen schließlich veranlasste uns, europäische Winterjacken anzuziehen.
Für unsere chilenischen Freunde sind Winter dieser Art etwas völlig Normales.
Wir konnten uns erst erwärmen, als wir gemeinsam mit ihnen eine Gewerkschaftsschule aufsuchten und uns anhörten, worüber gesprochen wurde.
Die Themen, die viele Chilenen bewegen, sind das Kupfer, Exdiktator Pinochet und die Kommunalwahlen im Oktober.
Chile ist reich an Kupfervorräten. Es wird geschätzt, dass in Chile 40-45% der Weltvorräte vorhanden sind. Und das bei einer Bevölkerung, die nur 0,25% der Weltbevölkerung ausmacht. In den letzten 20 Jahren haben sich transnationale Unternehmen ca. 2/3 der Kupferproduktion aneignen können und profitieren gegenwärtig vom hohen Kupferpreis auf den Weltmärkten. Eine Untersuchungskommission des chilenischen Senates hat festgestellt, dass von den zehn größten Mineralunternehmen, deren Produktion 59% des BSP ausmacht, nur ca. 127 Mio US$ Steuern gezahlt wurden, wohingegen von anderen Unternehmen (u.a. die nationale Kupferkooperation CODELCO), die 33,2% des BSP umfassen, mehr als 186 Mio US$ Steuern gezahlt wurden. Ausländische Unternehmen können die von der Militärdiktatur eingeführte Gesetzgebung nutzen, indem sie keine Direktinvestitionen vornehmen, sondern sog. „assoziierte Kredite“ aufnehmen, die nur mit 4% Steuern belegt werden. Direktinvestitionen aber mit 35%. Es wird geschätzt, dass 65% der ausländischen Investitionen nicht als Direktinvestitionen deklariert werden. Auf diese Weise werden erhebliche Gewinne ins Ausland verbracht.
Gegen diese – von der Regierung der „Concertación“ (Koalition von Parteien, die nach Ablösung der Militärdiktatur gebildet wurde) – zugelassene Praxis formiert sich zunehmender Widerstand. Das Nationale Komitee der Verteidigung und Wiedererlangung des Kupfers (Comité Nacional de Defensa y Recuperación del Cobre) fordert die Wiederherstellung der völligen Souveränität über die Bodenschätze und die Renationalisierung der Kupferproduktion. 1971 wurde von der Allende-Regierung das Gesetz zur Nationalisierung des Kupfers durchgesetzt, was die Pinochet-Diktatur 1980 komplett änderte. Gewerkschaften, soziale Bewegungen, breite Bevölkerungsteile, Politiker und Intellektuelle unterstützen das Komitee. In Chile wird gegenwärtig eine intensive öffentliche Debatte über das Thema geführt.
Angesichts der bevorstehenden Wahlen im Oktober sah sich die Christdemokratie (DC) als Teil der Regierungskoalition gezwungen, im Parlament einen Gesetzesentwurf einzubringen, der vorsieht, dass transnationale Unternehmen Royalties in Höhe von 5% zu zahlen haben. Dagegen fordert das Komitee die Zahlung von Royalties mindestens in Höhe von 10%, die Abschaffung der Gesetze aus der Zeit der Diktatur, den Einsatz der Überschüsse aus dem hohen Weltmarktpreis für soziale Zwecke und die Wiederaufnahme der Produktion von Feinkupfer im Lande.
Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich noch weiter geöffnet: 20% der chilenischen Bevölkerung nehmen 60% aller Einkünfte für sich in Anspruch, wogegen 20% über nicht mehr als 3,6% verfügen. Der chilenische Peso wurde um 15% abgewertet, es kam zu einer Verteuerung vieler Dienstleistungen und der Grundnahrungsmittel. Die Kaufkraft der Bevölkerung ist auf das Niveau des Jahres 1998 zurückgegangen. Offizielle Ziffern geben eine Arbeitslosenrate von 9 -10% an, wogegen die reale Quote bei ca. 20% geschätzt wird.
Kleine und mittlere Betriebe, die etwa 70% der Arbeitsplätze erbringen, befinden sich in einer permanenten Krise, da 25-30% ihres Gewinns an Banken als Zinsen abgeführt werden müssen.
In diese angespannte innenpolitische Situation platzte die Nachricht von den illegalen Konten des Augusto Pinochet. Die Washington Post veröffentlichte Zahlen, wonach Pinochet über ein Vermögen von 50 bis 100 Mio. US$ verfügt. Vermutet wird, dass der Ex-Diktator in Drogenaktivitäten, Waffenhandel und Korruption verwickelt ist.
Chilenen, die verfolgt und gefoltert wurden, Familienangehörige, deren Väter, Söhne und Töchter verschleppt und ermordet wurden, haben Jahre hindurch die Aufhebung der Immunität Pinochets verlangt. Jetzt - nach Bekanntwerden dieser Tatsachen – hat das Oberste Gericht des Landes die Immunität des 88-Jährigen aufgehoben. Damit wird es möglich, Pinochet vor Gericht zu stellen.
Als Besucher des Landes wurden wir mit einer Realität konfrontiert, die Ausdruck wachsender politischer Aktivitäten ist und in der unterschiedlichste Faktoren eine Rolle spielen. Es entsteht der Eindruck, dass in Chile die Sprachlosigkeit der Nachdiktatursjahre überwunden wurde und neue Akteure im politischen Leben des Landes entstehen.
Dazu zählen vor allem die Gewerkschaft CUT, die Nationale Konvention der Demokratischen und Sozialen Kräfte (PODEMOS), studentische, intellektuelle und zivilgesellschaftliche Organisationen, die eine echte Demokratisierung des Landes anstreben und die Souveränität über die Naturreichtümer, die Bekämpfung der Armut und die Beseitigung des Vertrages über die Freihandelszone (TCL) mit den USA fordern. Besonders die CUT hat sich in von der neoliberalen Politik der Regierung Lagos abgewandt und fordert die Abschaffung der Gesetze zur Flexibilisierung der Arbeit und die Wiederherstellung des Rechts auf Arbeit.
Im Hinblick auf die im Oktober stattfindenden Kommunalwahlen haben es linke und alternative Kräfte in Chile sehr schwer. Das Zweiparteiengesetz schließt faktisch andere Parteien als die der Regierung und der Opposition aus dem Wahlprozess aus. Faktisch stehen sich im Land diese beiden Blöcke gegenüber. Die PODEMOS beschloss im Juni diesen Jahres eine Wahlplattform, die auf die Wahl von linken und alternativen Abgeordneten orientiert ist. Das Ziel besteht darin, auf kommunaler Ebene Positionen zu erringen, die politische und soziale Veränderungen zum Ziel haben.
In Chile haben sich wie auch in anderen Länder des Kontinents Volksbewegungen entwickelt, die sich dem Ausverkauf nationaler Ressourcen zunehmend widersetzen. Wie auch in Uruguay sind die bevorstehenden Wahlen ein Höhepunkt im Kampf gegen Privatisierung und Marktdominanz.
Unsere Reise schlossen wir mit der Überzeugung ab, dass nach dem tropischen Winter politisch heißere Zeiten folgen werden.