Publikation Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie »Panta rhei«. Veränderungen im Umfeld sozialistischer Politik

Utopie Kreativ Heft 109-110 November-Dezember 1999

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Reihe

Zeitschrift «Utopie Kreativ» (Archiv)

Autor

Dietmar Wittich,

Erschienen

November 1999

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UTOPIE kreativ, H. 109/110 (November/Dezember 1999), S. 71-82

Michael Chrapa – Jg. 1950; freiberuflicher Soziologe, Vorsitzender der Forschungs-gemeinschaft für Konflikt- und Sozialstudien (FOKUS e.V.), Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Merseburg, zuletzt in »UTOPIE kreativ« erschienen: »›Soziale Nachhaltigkeit‹ – ein neuer Strategiebegriff? Zur Formierung zukunftsfähiger Ideen für linke Kräfte« (Heft 94; August 1998).

 

Dietmar Wittich – Jg. 1943, Dr. phil., Soziologe, Geschäftsführer der Social Data GmbH Berlin, Mitautor von »Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus. Ein Kommentar«, dietz berlin 1997; gegenwärtig im Druck: »Sozialisation und Entfremdung in zwei Gesellschaften«, in: Das Argument 232; »Krieg als Zäsur?« in: Berliner Debatte. Initial, H. 5/6 1999; »Destabilisierte Gesellschaft«, in: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 40/1999.

 

Im Vorfeld der Wahlen der Jahre 1998 und 1999, bei ihrer Begleitung und in ihrer Nachbereitung wurden von den Autoren umfangreiche Analysen für die Bundesrepublik insgesamt sowie für einzelne Bundesländer erarbeitet. Damit liegt ein reichhaltiges Material vor, das den Ablauf der politischen Veränderungen in diesem Zeitraum dokumentiert. Um die Ergebnisse dieser Analysen zu überprüfen, wurden zusätzlich umfangreiche aggregierte Datensätze für die Wochen vor den Bundestagswahlen und für den Herbst 1999 von einem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut gekauft und für die Ausarbeitung des folgenden Textes untersucht. Mit diesen Thesen wird begonnen, die Ergebnisse dieser Analysen zusammenzufassen, die Gesamtvorgänge zu rekonstruieren und insbesondere der Frage nachzugehen, was die zu konstatierenden Veränderungen für sozialistische Politik und ihre Perspektiven bedeuten.

Erstens: Gesellschaftliche und politische Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland bewirken eine hohe politische Unzufriedenheit in der Gesellschaft.

Die politische Stabilität der alten Bundesrepublik beruhte im wesentlichen darauf, daß es in der Gesellschaft eine »breite Mitte« mit – wie es schien – gesichertem Wohlstand gab. Dies vor allem hat bewirkt, daß politische Kräfteverhältnisse sich über längere Zeiträume relativ stabil darstellten, Veränderungen waren dabei zwar nicht ausgeschlossen, aber Verschiebungen schienen sich nur allmählich vollziehen zu können. Es existierte eine relativ stabile »Lager-Konstellation« von »konservativ-liberal« einerseits und »rosa-grün« andererseits. Die staatliche Vereinigung durch den Beitritt der ostdeutschen Länder hat Positionsverlusten von CDU/ CSU und F.D.P. entgegengewirkt und deren hegemoniale Stellung im politischen Raum der Gesellschaft zunächst noch einmal für nahezu ein Jahrzehnt befestigt. Die einzige Veränderung, die die deutsche Einheit im politischen Gefüge brachte, bestand darin, daß in den ostdeutschen Ländern mit der PDS eine politische Kraft hinzukam. Dies erschien insbesondere den Eliten der alten Bundesrepublik als eine zwar ärgerliche, aber schnell vergängliche Tatsache.

Im Zusammenhang mit technologischen und sozialökonomischen Veränderungen hatten bereits vor 1989 Veränderungen im Wohlstandsgefüge eingesetzt (steigende Arbeitslosigkeit und Armut, Strukturveränderungen in den Mittelschichten vor allem im Bereich von Dienstleistungen, Stagnation bei Reallöhnen, Renten und Sozialleistungen bei gleichzeitigem Anstieg der Unternehmensgewinne), die aber an der gewohnten Stabilität zunächst wenig zu verändern schienen. Die seit 1982 hegemoniale neoliberale Politik hat diese Veränderungen nicht verursacht, aber durch die von ihr favorisierte Umverteilung von unten nach oben in ihren sozialen Wirkungen verstärkt.

Mit dem Beitritt der ostdeutschen Länder wurde zwar die Konfliktachse »Arm-Reich« durch die Achse »Ost-West« ergänzt, aber die sozialen Wirkungen der Einheit wurden mehrheitlich von den Ostdeutschen als Steigerung von Wohlstand und Lebenqualität wahrgenommen, was zunächst zur Reproduktion von Stabilität beitrug.

Der Gang der Einheit wurde von der herrschenden Fraktion der politischen Elite als Bestätigung ihrer Politik und als Legitimation für ihre Weiterführung wahrgenommen. Die Reaktion auf die mit der Einheit verbundenen Veränderungen trug eine Reihe folgenreicher Züge: Erstens ging die Initiative für die weiteren gesellschaftlichen Prozesse in Ostdeutschland – einschließlich der »Macht der Deutungen« – an die Eliten des Westens über, die zuvor vor allem Zuschauer waren. Deren Gesellschaftsbild und deren Interessen bildeten fortan die dominierenden Orientierungen. Die eigentlichen Akteure, die ostdeutsche Bevölkerung, wurde zum Objekt. Zweitens wurde die DDR-Wirtschaft schlagartig mit dem Weltmarkt konfrontiert. Die Unsicherheit, ob neue Märkte erschlossen werden können, wurde durch das Wegbrechen der Ostmärkte und die Aufhebung des relativen Schutzes in der Wirtschaftszone des »transferablen Rubels« verstärkt. Das Prinzip Hoffnung hieß Qualifikationspotential. Drittens verwandelte die Einführung der D-Mark das Staatseigentum an Produktionsmitteln in Kapital – mit der Treuhandanstalt als übermächtigem Verwaltungsrat und einzigem Kapitaleigner zugleich – und sie verwandelte die Masse der Berufstätigen aus Staatsangestellten in Lohnarbeiter. Viertens wurden die »Gewinne der Einheit« und die »Lasten der Einheit« außerordentlich ungleich verteilt. Mit der Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft wurde eine radikale Umverteilung von Eigentum eingeleitet, die Masse der Eigentumstitel ging an große Unternehmensgruppen im Westen, denen zugleich noch riesige Subventionen ausgereicht wurden. Mit den Kosten der Einheit wurden im wesentlichen die »kleinen« Leute in West wie Ost belastet.

In den neunziger Jahren haben sich jene Tendenzen in der technologischen und sozialökonomischen Entwicklung verstärkt fortgesetzt, die bereits seit längerem die gesellschaftliche Entwicklung im Westen prägen. Damit gehen – noch intensiviert durch die neoliberale Gesellschaftspolitik – gravierende soziale Wirkungen einher. Der übergreifende Trend ist dabei eine zunehmende soziale Polarisierung in der Gesellschaft. Zum einen gibt es eine Zunahme von Armut. Zum anderen gibt es Veränderungen in der zuvor stabilisierenden breiten Mitte. Mit der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation hat sich in den Mittelschichten die Konkurrenz erheblich verstärkt, dabei gibt es Verlierer und soziale Abstiege in großer Zahl. Die sozialen Risiken haben sich in der Gesellschaft stark ausgeweitet, sie reichen nunmehr weit in die Mittelschichten hinein, die zuvor davon weitgehend ausgenommen schienen, die jetzt auch von dem verschärften Spannungsfeld zwischen Lebensplanung und Zukunftsangst erfaßt sind. Zugleich vollzieht sich in den Mittelschichten ein struktureller Umbau. Infolge solcher Prozesse, wie der Vergesellschaftung neuer Kulturtechniken, mit der Ausbreitung von Elementen der Informationsgesellschaft, der Modernisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen und der Zunahme von Scheinselbstständigkeit infolge von Unternehmensstrategien, die zur Ausgliederung produktiver Dienstleistungen drängen, bilden sich in den Mittelschichten neue Segmente heraus. In Ostdeutschland haben sich vergleichbare Mittelschichten bisher in wesentlich geringerem Umfang formieren können. Diese sind zudem sozial noch stärker gefährdet als die entsprechenden Gruppen im Westen. Die »Neue Mitte«, die als Kampfbegriff erfunden wurde, hat in diesen neuen Mittelschichten, die sich vor allem aus »modernen« Intellektuellen rekrutieren, gesellschaftliche Realität gefunden.

Hinzu kommen in Ostdeutschland Spezifika der gesellschaftlichen Entwicklung. Hier lassen sich seit dem Vollzug der staatlichen Einheit bisher drei Phasen unterscheiden: eine erste »Phase der Euphorie«, sie reichte bis 1993, eine kurze zweite »Phase der Irritation« und eine dritte »Phase zunehmender Unzufriedenheit«. Insgesamt ist in der Bevölkerung in Ost und West seit Mitte der neunziger Jahre die gesellschaftliche Situation als Stagnation und Zunahme sozialer Widersprüche wahrgenommen worden. Im Vorfeld der Bundestagswahlen von 1998 waren die politische Unzufriedenheit und die Wünsche nach gesellschaftlichen Veränderungen so stark gestiegen, daß die bis dahin regierende neoliberale Fraktion der politischen Elite die Hegemoniefähigkeit verlor. Die Wahlen ermöglichten einen Regierungswechsel, von dem vor allem auch ein Politikwechsel erwartet wurde. Die neue rosa-grüne Koalition, die »Innovation und soziale Gerechtigkeit« in Aussicht gestellt hatte, steuerte zunächst tatsächlich – wenn auch zögerlich und inkonsequent – einen Reformkurs. Im Frühjahr des Jahres 1999 folgte dem Politikwechsel ein erneuter Politikwechsel; zum einen eine Umorientierung der Gesellschaftspolitik auf vermeintliche Standortsicherung und damit auf die »Interessen der Wirtschaft«, vor allem des Finanzkapitals, zum anderen durch die Beteiligung am Krieg der Nato gegen Jugoslawien ohne Mandat durch die UNO eine erhebliche Veränderung in der Außen- und Sicherheitspolitik. In der Öffentlichkeit wird diese Politik weder als innovativ noch als sozial gerecht wahrgenommen. Die politische Unzufriedenheit ist außerordentlich schnell wieder angestiegen und erreicht gegenwärtig ein höheres Niveau als ein Jahr zuvor.

Diese Entwicklungen bilden den Hintergrund für die Veränderungen in den politischen Kräfteverhältnissen.

Zweitens: In der Bundesrepublik unterliegen die politischen Kräfteverhältnisse einem raschen Wandel, dabei zeichnet sich eine Entkopplung von parteipolitischen Strukturen und Grundstrukturen politischer Vorstellungen in der Bevölkerung ab.

Bei den Bundestagswahlen 1998 waren drei Merkmale bestimmend. Der Wunsch, die gesellschaftspolitische Stagnation zu überwinden, bewirkte eine erhebliche Mobilisierung. Es kam zu massiven Wählerwanderungen von der CDU/CSU und von vorherigen Nichtwählerinnen und Nichtwählern zur SPD und den Grünen. Die PDS konnte ihr Wählerpotential deutlich ausweiten und sich als Faktor in den politischen Strukturen der Bundesrepublik befestigen. Inzwischen haben, wie sich bei der Europawahl und den nachfolgenden Landtagswahlen gezeigt hat, die regierenden Parteien einen erheblichen Akzeptanzverlust hinnehmen müssen. Wiederum gibt es erhebliche Wählerwanderungen. Sie verlaufen jetzt von der SPD und den Grünen zum einen zu den Nichtwählern, zum anderen zur CDU/CSU und in Ostdeutschland zudem noch zur PDS. In den Ländern Brandenburg, Thüringen und Sachsen hat die SPD erhebliche Verluste hinnehmen müssen. In Brandenburg hat sie die absolute Mehrheit verloren, in Sachsen und Thüringen ist sie erstmals hinter der PDS geblieben. Gegenüber 1998 hat die SPD allein in Berlin 391 000 ihrer zuvor 741 000 Wähler verloren, den Grünen blieben von 222 000 auch nur 155 000. Für die CDU stimmten 637 000 Wähler, gegenüber 463 000 bei den vorhergehenden Wahlen. Drastischer können sich die Irritationen, die Verunsicherungen und die Unzufriedenheiten nicht äußern als in diesen massenhaften Bewegungen von Wählerinnen und Wählern.

Zeitlich erfolgte der Umschlag in der Akzeptanz im Frühjahr 1999. Dabei handelte es sich sicherlich nicht nur um eine zeitliche Parallelität zum einen zum Kurswechsel der Regierung und zum anderen zur deutschen Kriegsbeteiligung in Jugoslawien. Die öffentliche Meinung reagierte auf einen Strategiewechsel, mit dem die Positionen Deutschlands im vermeintlichen Standortwettbewerb durch intensiviertes Andienen an das internationale Finanzkapital bei gleichzeitigen Reduzierungen im sozialen Bereich verbessert werden sollten. Zugleich gab es zu diesem Zeitpunkt in der deutschen Öffentlichkeit eine schweigende Mehrheit, die dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien ohne UN-Mandat und der deutschen Beteiligung daran nicht zustimmte. Dabei handelte es sich nicht um mehrheitliche Gegnerschaft, sondern um Verweigerung der Akzeptanz. Besonders groß war die Ablehnung in den Umfeldern von SPD und Grünen und in Ostdeutschland insgesamt. In den Rechtfertigungsversuchen von Politikerinnen und Politikern dieser Parteien kam diese schweigende Mehrheit jedoch überhaupt nicht vor. Das hat die Kommunikation zwischen diesen Parteien und ihren vorherigen Anhängerschaften erheblich gestört.

Im Ergebnis dieser Entwicklungen zeigten sich zwei Tendenzen: Einmal kam es zur Auflösung der Stammwählerschaften bei den traditionellen Parteien und zum anderen zur Polarisierung in der politischen Landschaft mit unterschiedlichen Parteienstrukturen in Ost und West. Traditionell lagen die Anteile der Stammwählerschaften in der alten Bundesrepublik meist zwischen 75 und 80 Prozent. Das zeugte von einer relativ stabilen Bindung. Eine derartige feste Bindung hat sich in Ostdeutschland entgegen den Erwartungen von vornherein nicht herausgebildet. In den massenhaften Pendelbewegungen zwischen den Wählerschaften von CDU/CSU, SPD und Grünen sowie den Nichtwählern sind die Anteile der Stammwählerinnen und -wähler auf unter 50 Prozent gefallen. Das bedeutet, daß sich die Bindungen zwischen diesen Parteien und ihren Wählerinnen und Wählern tendenziell auflösen. Gegenwärtig gibt es eine Entkopplung von parteipolitischen Strukturen und Grundströmungen in den politischen Meinungen und Vorstellungen der Bevölkerung. Es muß zum jetzigen Zeitpunkt offen bleiben, ob es sich dabei um eine vorübergehende Erscheinung handelt. Die regierenden Parteien haben jedoch auf jeden Fall erhebliche Teile ihrer Basis verloren und allgemein einen erheblichen Akzeptanzverlust hinnehmen müssen. Das Umschwenken auf eine andere Regierungsstrategie ändert nichts am Reformbedarf dieser Gesellschaft. Jedoch wurde die Reformfähigkeit der Gesellschaft einschneidend beschädigt. Die gegenwärtigen Konstellationen machen die Frage nach Akteuren von Reformpolitik so offen, wie sie in der Geschichte der Bundesrepublik bisher kaum war. Das ist zugleich eine Herausforderung für sozialistische Politik.

In der Bundesrepublik vollzieht sich derzeit ein Umbau der Parteienlandschaft und eine deutliche politische Polarisierung, die jeweils ihre Besonderheiten in West und Ost aufweist. In Westdeutschland sind F.D.P. und Grüne im Wettbewerb um die eine überlebensfähige liberale Partei abgetaucht. In den ostdeutschen Ländern haben sie die Arbeit an der eigenen Überflüssigmachung wohl bereits abgeschlossen. Soweit die westdeutschen Länder betroffen sind, verläuft die Polarisierung zwischen CDU/CSU und SPD, die nun nahezu gleichartige neoliberale Umbaustrategien verfolgen, einerseits und dem wachsenden Anteil der Nichtwähler andererseits. Die Position des parteipolitischen Widerparts ist gegenwärtig nicht besetzt. Wenn hier die PDS ihre Wählerpotentiale auch leicht ausbauen kann, so sind ihre Positionen bisher zu schwach, um diese Funktion wirksam wahrnehmen zu können. Auch das ist eine Herausforderung und eine Chance für sozialistische Politik. In Ostdeutschland arbeitet die SPD offenbar hartnäckig daran, sich überflüssig zu machen. Die Polarisierung reduziert sich tendenziell auf den Gegensatz von westlich-bürgerlicher CDU und östlich-emanzipatorischer PDS. Damit hat sich in der politischen Landschaft der Bundesrepublik eine deutliche Ost-West-Spaltung mit erheblichen Unterschieden in den politischen Kulturen herausgebildet. Auch in dieser Hinsicht scheinen die Perspektiven offen.

Drittens: In den letzten Jahren konnte die PDS ihre Wählerpotentiale ausweiten, damit geht ein Umbau ihres Umfeldes vonstatten.

Zwar hebt sich die PDS hinsichtlich eines relativ hohen Anteils an Stammwählern von den anderen Parteien deutlich ab – bei den Bundestagswahlen von 1998 lag dieser Anteil bei ca. zwei Dritteln. In Zahlen ausgedrückt heißt das, daß von den 2,08 Millionen Wählerinnen und Wählern von 1994 etwa 1,25 Millionen die PDS wiedergewählt haben, 830 000 haben dies nicht wieder getan (berücksichtigt sind hier auch Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung). Auf der anderen Seite sind jedoch auch 1,27 Millionen Wählerinnen und Wähler hinzugekommen, die zuvor die PDS nicht gewählt haben. Gegenüber 1994 konnte somit die PDS ihr Wählerpotential auf 121 Prozent ausweiten. Zwar konnte sie es bei der Europawahl bei weitem nicht mobilisieren, wenn auch leicht stärker als die übrigen Parteien, was in der deutlichen Verbesserung ihres Anteils auf 5,8 Prozent seinen Niederschlag fand. Die Landtagswahlen lassen erkennen, daß sich seither das Wählerpotential weiter leicht ausbaut. Es handelt sich aber nicht einfach um eine Vergrößerung. Mit der Tatsache, daß mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler neu gewonnen wurden, ist verbunden, daß sich im Umfeld der PDS strukturelle Veränderungen vollziehen.

Traditionell hat die PDS ein starkes Wählerpotential in den älteren Generationen in Ostdeutschland, sie haben ihr Berufsleben hinter sich oder stehen an der Schwelle zum Rentenalter. Sie sind sehr häufig gut gebildet und hoch qualifiziert. Dieses Potential bildete in den Vorjahren den Kern des Umfeldes der SED-Nachfolgepartei. Diesen Wählerinnen und Wählern verdankt die PDS, daß sie ihren Platz in der politischen Landschaft der Bundesrepublik einnehmen konnte. Ihre Biographien sind eng mit der DDR-Gesellschaft und ihrer Geschichte verbunden. Für die Bindung dieser Gruppe erscheint ein sensibler Umgang mit der Geschichte, kein unkritisches, aber ein achtungsvolles Verhältnis zum Alltag in der DDR, von großer Bedeutung. Zugleich hat diese Gruppe eigene soziale Probleme: Alters- und Langzeitarbeitslosigkeit, Altersarmut, Wohnungs- und Mietfragen, Sicherung der Renten, Fragen der gesundheitlichen Betreuung und Fragen der öffentlichen Sicherheit. Außerdem sorgen sie sich um die Zukunft ihrer Kinder und Enkel.

Die Anforderungen an sozialistische Politik, die dieses Wählersegment stellt, sind in sich sehr differenziert und reichen vom Verhältnis zur Geschichte über sozial- und gesundheitspolitische Fragen bis hin zur Zukunftsgestaltung. Dieses Segment ist nach wie vor von Bedeutung, aber es hat an relativem Gewicht verloren.

Bei den neuen Wählergruppen gibt es einen relativ großen Frauenanteil. Bereits vor den Wahlen war klar, daß die PDS ihr Wahlziel nur erreichen kann, wenn es ihr in stärkerem Maße gelingt, Frauen aus dem Nichtwählerpotential zu mobilisieren. Als Schwerpunkte und damit als wichtige Zielgruppen galten arbeitslose Frauen, alleinerziehende Frauen und Frauen mit gesellschaftskritischen, »linken« politischen Einstellungen. Das ist ihr in den ostdeutschen Bundesländern offenbar gelungen. Dabei wird eine Rolle gespielt haben, daß die politischen Konzepte anderer Parteien für Teile dieser Frauengruppe kein hinreichend attraktives Angebot darstellten und sich so der Wunsch nach gesellschaftlichen Veränderungen in einer Hinwendung zur PDS niederschlug. Diese neuen Wählerinnen der PDS kommen überwiegend aus jungen bis mittleren Altersgruppen. Sie sind überdurchschnittlich gebildet und beruflich qualifiziert. Eine Rolle wird zudem Auswahl und Präsentation von Kandidatinnen gespielt haben.

Die beobachtete Intensität der Wählerwanderung gerade bei Frauen verdeutlicht die Aufgabe, mehr Frauen als bisher dauerhaft in die Stammwählerschaft einzubinden. Dafür kann eine aktive Gleichstellungspolitik ein notwendiger, wenn auch wahrscheinlich kein hinreichender Faktor sein. Ein generelles Engagement für Solidarität, für soziale Gerechtigkeit, verbunden mit konkreten Projekten zur sozialen Sicherheit, sowie ein aktives Wirken für Entwicklungsperspektiven und -chancen für die nachwachsenden Generationen können politische Mittel sein, die Positionen sozialistischer Politik bei Frauen zu befestigen und auszubauen. Diese Frauengruppe hat wesentliche Anteile an zwei relativ neuen Segmenten im Umfeld der PDS. Ein Segment speist sich aus dem alternativen Jugendmilieu. Ein weiteres rekrutiert sich aus »modernen« Intellektuellen.

Die PDS hat nunmehr auch starke Positionen in der jungen Generation. Besonders bemerkenswert ist ihr großer Anteil bei Erstwählerinnen und Erstwählern, den sie bei den Bundestagswahlen von 1998 erreicht hat. Die Verankerung der PDS in der jungen Generation ist jedoch nicht auf alle Segmente gleich verteilt. Sie hat ihren Schwerpunkt in einer besonderen Teilgruppe, in der schulischen und studentischen Jugend. Daß sie daneben auch bei Lehrlingen (vor allem im Westen) und bei jungen Arbeitern und Angestellten Zuwächse erreichen konnte, ist ein deutlicher Hinweis, daß sie mit ihren Politikangeboten auch stärker in diese Segmente vorstoßen kann. Bezogen auf diese Gruppen gelingt es der PDS, ihre Politikangebote und Politikstile erfolgreich zu deren Gesellschaftsbildern und Lebensplanungen ins Verhältnis zu setzen. Auch für diese Segmente dürfte gelten, daß gruppenspezifische politische Projekte auf den Gebieten von Bildungspolitik, Ausbildungsfragen, Startchancen ins Berufsleben oder Wahlrechtsfragen durchaus Bindungen an linkssozialistische Politik bewirken. Allerdings dürften die Erwartungen breiter sein. Für die junge Wählerschaft, die zu jenen gehört, die dabei sind, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, dürften Skepsis und Ablehnung gegenüber dem gegenwärtigen Lauf der Dinge und damit verbundene Erwartungen an alternative gesellschaftspolitische Projekte eine Rolle spielen. Sozialistische Politik für alternative Zukunftsentwürfe und als Einladung zur Zukunftsgestaltung – das könnten dafür Stichwörter sein.

Insgesamt konnte die PDS ihre Positionen bei Berufstätigen, bei Arbeitslosen und Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern ausbauen. Sie hat jedoch besondere Stärken bei qualifizierten Angestellten, darunter vor allem akademisch gebildeten Angestellten in allen gesellschaftlichen Bereichen. Sie hat – und das ist außergewöhnlich für eine linkssozialistische Partei – relativ starke Positionen bei Führungskräften und kleinen Selbständigen. Damit ist die PDS zugleich in die neuen Mittelschichten vorgedrungen. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil es sich hier nicht nur um Adressaten für linksozialistische Politik handelt, sondern zugleich um aktive und wirkungsfähige Kommunikatoren.

Diese neuen Gruppen im Umfeld gibt es quantitativ am stärksten in Ostdeutschland, sie entsprechen jedoch in ihrer Zusammensetzung ziemlich genau der bisherigen Wählerschaft im Westen.

In der PDS gibt es nicht erst seit heute eine strukturelle Differenz zwischen der Mitgliedschaft und ihren politischen Akteuren, den Amts- und Mandatsträgern. Die Veränderungen im Umfeld der PDS deuten darauf hin, daß dazu nun auch noch eine strukturelle Differenz zwischen der Partei selbst und ihrem Umfeld kommt. Es muß davon ausgegangen werden, daß damit auch erhebliche kulturelle Unterschiede verbunden sind. Ihre Wahlentscheidung ist wohl vor allem als Vertrauensvorschuß zu charakterisieren, den es politisch einzulösen gilt.

Während das traditionelle Segment sich durch eine bemerkenswerte Treue auszeichnet, kann dies von den neuen Segmenten nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Insbesondere letztere erwarten wohl vor allem spezifische sozialistische Politikangebote, die der modernen Gesellschaft angemessen sind und die zugleich alternative Entwicklungsperspektiven in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen.

Viertens: Regionale Momente des Wahlverhaltens wirken in mehrfacher Hinsicht. Neben gravierenden Ost-West-Unterschieden bleibt eine gewisse Länderspezifik erhalten. Ein starker regionaler Einfluß ist über die jeweilige Ausformung lokaler »politischer Milieus« gegeben.

Die Ergebnisse der Berliner Wahlen haben in besonderer Art das Weiterwirken von Ost-West-Unterschieden im allgemeinen Wahlverhalten gezeigt, aber gleichzeitig markiert, daß Zugewinne für die PDS letztlich auch auf einem Anwachsen sozialer Widersprüche in beiden »Bundesgebietsteilen« beruhen. Offensichtlich ist zudem eine in historischen Maßstäben schnell verlaufende Differenzierung in der Parteienlandschaft, was – als Besonderheit des Ostens – das tendenzielle Absinken bestimmter Parteien in Richtung faktischer Bedeutungslosigkeit einschließt.

Für regionale Tendenzen auf der Länderebene gilt, daß im allgemeinen Spektrum der Parteien Besonderheiten erhalten bleiben (z.B. die Reproduktion der »Nord-Süd-Differenz« als »Rot-Schwarz-Unterschied« im Osten). Für die PDS ist eine allgemeine Stärkung bei schrittweisem Abbau großregionaler Unterschiede (»Nord-Süd-Gefälle«) zu konstatieren. Die Resultate der Bundestagswahlen haben gezeigt, daß ein übergreifender Einfluß von »Strukturvariablen« allein (wirtschaftliche Schwerpunkte, »Ausländeranteil« o.ä.) keine gravierende Wirkung auf das Wahlverhalten in den Ländern hat.1

Wichtige Erkenntnisse sind über die Betrachtung der Wahlkreisregionen zu erschließen. Allem Anschein nach haben sich »mikropolitische Bereiche« herausgebildet, in denen aufgrund des unterschiedlichen Handelns von Parteien sehr differente Kräfteverhältnisse entstehen können. Dies gilt eben nicht nur für Kommunal-, sondern auch für Bundestags- und Landtagswahlen. Daraus ließe sich schlußfolgern, daß auf solche (kleinräumig-regionalen) Gestaltungsmöglichkeiten künftig politisch gezielter eingegangen werden sollte. Ernst zu nehmen wäre deshalb der kürzlich im Landesverband Sachsen formulierte Vorschlag: »Deshalb haben wir auch die Aufgabe, Ansätze zu finden, wie wir auch in Sachsen, wo die PDS aller Voraussicht nach Opposition bleibt, Veränderungen zu bewirken. Das kann heißen, Veränderungen in solchen Kommunen und Kreisen, wo es die Mehrheitsverhältnisse hergeben, direkt durchzusetzen und dann mit der Kraft des gesamten Landesverbandes zu popularisieren …«2

Fünftens: Die Entwicklung des »Kräfteverhältnisses« innerhalb der Wählerpotentiale ist über größere Zeitabschnitte anhand der Ausprägung politischer Grundeinstellungen ablesbar. Diese Einstellungen sind wertgestützt und werden gegenwärtig vor allem durch die Basisprozesse der »sozialen Spaltung der Gesellschaft«, die weiter wirkende »Ost-West-Differenz« und durch die vorstellbaren Möglichkeiten von eingreifendem politischem Handeln beeinflußt.

Zahlreiche empirische Fakten belegen, daß etwa seit 1994/95 ein Wandel in mehreren bedeutsamen Einstellungskomplexen eingetreten ist. Dies betrifft in beachtlichem Maße das Problem- und Konfliktbewußtsein großer Bevölkerungsgruppen3. An die Spitze der wahrgenommenen Konfliktlagen sind soziale Widersprüche (exemplarisch: »arm-reich«, »Arbeitgeber-Arbeitnehmer«, die von 70 bis 80 Prozent der Befragen benannt werden) in verschiedenen Ausformungen getreten. Bemerkenswert ist hier, daß sich eine solche Entwicklung bislang ungebrochen fortsetzt und daß dieser Trend – gleichsam in Form einer »Angleichung« – zunehmend auch im Westen Deutschlands zum Tragen kommt. Dies bedeutet letztlich, daß die »soziale Frage« tatsächlich von vielen Menschen reflektiert wird und so ein fortwirkendes mentales Muster entsteht, das auch andere Prozesse der politischen Wahrnehmung beeinflußt.

Der weiterhin beachtlich reflektierte »Ost-West-Gegensatz« ist zum einen Teil des sozialen Konfliktfeldes. Er beruht zum anderen auf Gemengelagen von überkommenen kulturellen Unterschieden und den nach 1989/90 »geschaffenen« Verhältnissen, in denen die »Ost-West-Interaktion« zum Tragen kommt. Für absehbar längere Zeiträume wird auch dieser Konflikt ein übergreifendes Einstellungsmuster bilden.

All diese Einstellungsbesonderheiten wirkten und wirken in beachtlichem Umfang bei der PDS-Anhängerschaft, bei den NichtwählerInnen und bei Gruppen, die potentiell für ein Votum zugunsten der PDS in Frage kommen (z.B. Frauen in »besonderen Lebenslagen«). Die Nichtwählerschaft und die potentiell erreichbaren Gruppen befinden sich in ihren Einstellungen in der Regel »zwischen« der PDS und der SPD (im Westen auch zwischen PDS und Bündnis‘90/Grüne). Aktuelle und künftige Veränderungen des Wählerverhaltens in bezug auf die genannten Parteien wären vor allem damit erklärbar, ob und wie die jeweiligen Parteien mit ihrer Politik den skizzierten Einstellungsmustern entsprechen.

Die starke Ausprägung der auf Probleme zentrierten Einstellungen läßt den Schluß zu, daß wir Zeuge eines Wertewandels von beachtlicher Dimension sind, über den die theoretisch-politische Reflexion nur zögerlich in Gang kommt4. Das Mobilitätswachtums und die Segmentierung und Individualisierung wirken im Kontext sozialer Spaltung in Richtung verstärkter »Entsicherung«, so daß besonders die »Werte«, die mit erhöhter »Sicherheit« (in bezug auf Positionen, Ressourcen u.a.) verknüpft sind, in der wahrgenommenen Hierachieskala rasch ansteigen. Dieser Fakt dürfte ebenfalls langfristig Einfluß auf die Effizienz politischer Strategien haben und sollte deshalb weiter analytisch-theoretisch untersucht werden.

Zu Unrecht wenig Beachtung finden Einstellungen, die sich auf die Wirksamkeit erlebter Demokratie beziehen. Seit Mitte der neunziger Jahre gab es hier ein starkes Unzufriedenheitspotential, das (in Ost und West) mindestens 40 Prozent der Wahlberechtigten ausmachte. Die artikulierten Wünsche blieben nicht selten wenig ausgeformt (und mitunter eher »dumpf«), waren/sind aber dennoch unzweifelhaft vorhanden.

Die PDS stände hier vor der Herausforderung, sich durch politische Schritte und durch Öffentlichkeitsarbeit auf diese Lage der Probleme einzustellen, was nicht zuletzt im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus an Bedeutung gewinnt.

Sechstens: Unterschiedliche Parteienimages spielen sowohl in den Wahlkämpfen als auch im praktisch-politischen Alltag eine gewichtige Rolle. Wie sich zeigt, reagiert die Bevölkerung sehr schnell auf »Imagebrüche«, d.h. auf Verhaltensweisen, die von zugeschriebenen Mustern abweichen. Die PDS kann ihr Image schrittweise ausbauen und sollte in diesem Kontext an der Ausprägung eines besonderen »Politikstils« arbeiten.

Auch zu dieser Thematik liefern die Resultate der Berliner Wahlen wichtige Erkenntnisse. Es zeigt sich, daß bestimmte Kompetenzen gleichsam ein »magisches Dreieck« bilden, an dem die Bewertungen der Erscheinungsbilder (Images) und der Vergleich mit dem praktischen Verhalten der Parteien festgemacht sind.5 Hier kommen insbesondere die Ausstrahlungen einer Partei in bezug auf »Stärke«/ »Durchsetzungskraft« (einschließlich ihrer »Personalkompetenz«), die Befähigung in Sachen »Wirtschaftspolitik« und ihr Engagement auf den Problemfeldern der »sozialen Frage« zum Tragen.

Insofern überraschen die Zugewinne der CDU und ihr Wahlsieg in Berlin nicht, denn sie arbeitet aktiv am Profil einer starken und handlungsbereiten Partei, die seit längerer Zeit im Denken großer Teile der Wählerschaft die Vertretung lebenswichtiger »Kernkompetenzen« für sich in Anspruch nahm und nimmt. Als besonders zu betonender Fakt kommt hinzu, daß die CDU nach der Niederlage bei der Bundestagswahl doch beachtliche »Lernfähigkeit« bewies, in ihrer Weise auf bestimmte soziale Erwartungen der Menschen einging und dies mit Formen des Dialogs mit der Öffentlichkeit (z.B. Straßenaktionen) verband.

Die PDS erhält seit längerem und sogar in steigendem Maße die Image-Zuschreibungen, in denen das Eintreten für den »Osten«, für »soziale Gerechtigkeit« und für »sozial Schwache« hervorsticht. Ferner gilt, daß man ihr die Vertretung von Interessen besonderer Gruppen wie Frauen und Jugendlichen in recht starkem Maße zutraut. Auch das »Personen-Image« der PDS ist insgesamt im Steigen begriffen. Bei all diesen Kompetenzen befindet sich die PDS in unmittelbarer Konkurrenz mit der SPD. Die Erfolge der PDS in Berlin und die Niederlage der SPD sind insbesondere damit verknüpft, daß die praktische Positionierung der SPD seit geraumer Zeit im deutlichen Widerspruch vor allem zu den noch Anfang 1999 vorhandenen sozialen Imagewerten dieser Partei stand.

Notwendig wird es sein, die unterschiedlichen Sichtweisen auf mehrere der für die PDS »typischen« Erscheinungsbilder in der kritischen Diskussion weiter zu beleuchten. Dies betrifft beispielsweise die Frage, ob das »Ost-« und das »Sozialimage« der PDS nicht gleichsam »Relikte aus ihren Gründerjahren« darstellen, die bald durch andere Zuschreibungen zu ersetzen wären. Angesichts der belegbaren »systemischen Reproduktion« der benannten Problemlagen und ihrer massenhaft im Alltagsbewußtsein verankerten Wahrnehmung muß – nicht zuletzt mit Blick auf die Entwicklung der SPD – von einer solchen Option dringend abgeraten werden. Der für die PDS akzeptable Weg kann nur in der schwierigen Verbindung von »Modernität« und »Sozialem« (einschließlich der »Gleichheitsfrage«, die sich auch auf das Ost-West-Verhältnis erstreckt) bestehen. Zudem belegen aktuelle Untersuchungen im Bundesland Sachsen-Anhalt6, daß die PDS von seiten großer Bevölkerungsteile auch dann Zustimmung erhalten kann, wenn sie gezwungen ist, Kompromisse beim Streit um soziale Belange einzugehen. (Die PDS figuriert hier im Bewußtsein von Wählerschaften u.a. als die Partei, von der man annimmt, daß sie – zumindest gegenwärtig – »noch das Beste für die ›kleinen Leute‹ aushandelt«.)

Kompliziert stellt sich das Erscheinungsbild der PDS bei der »Interessenvertretung von Frauen und Jugendlichen« dar. In bezug auf die »Zielgruppe Frauen« gelang es, Mobilisierungseffekte zu erreichen, die bei der Bundestagswahl 1998 entscheidend zu Buche schlugen. Bei den Wahlen im Herbst 1999 zeigte sich andererseits, daß – wie bereits 1998 angemahnt7 – das Jugendimage der PDS nicht allein im Wahlkampf ausgeprägt werden kann, sondern über langfristige Schritte im Alltag zu festigen ist.

Leider wenig beleuchtet ist ein Erscheinungsbild der PDS, das etwa darin besteht, daß man ihr die Entwicklung demokratischer Aktionen »von unten« zutraut8. Angesichts der über Einstellungen gefestigten und weit verbreiteten Wünsche vieler Menschen (vgl. These 5), wäre hier von einem durch die PDS noch unzureichend genutzten politischen Feld zu sprechen.

In diesem Zusammenhang ebenfalls gering thematisiert ist das Problem des »Politikstils« – hier verstanden als charakteristisches Muster von politischem Verhalten, in das Werte, politische Moral und Entscheidungs- sowie Lern- und Kommunikationsfähigkeiten eingeschlossen sind. Die PDS hat durchaus die Chance, einen besonderen »Politikstil« zu entwickeln bzw. auszubauen. Damit würde sie sich nicht nur positiv von anderen, etablierten Parteien unterscheiden, sondern auf diesem Wege auch einen originären Beitrag zur »Wiedergewinnung der Politik« leisten können.

Einige Schlußfolgerungen

Erstens: Die gesellschaftliche Situation, daß es in der Bundesrepublik Deutschland einen anhaltend hohen Reformbedarf gibt, der in der Bevölkerung mehrheitlich als Bedarf an sozialen Reformen wahrgenommen wird, und daß die gegenwärtig regierende Koalition sich von Reformstrategien abgewendet (bei gleichzeitigen Versuchen, den Begriff »Reform« umzudefinieren) und folglich einen erheblichen Akzeptanzverlust zu verzeichnen hat, eröffnet Chancen für sozialistische Politik.

Zweitens: Gegenwärtig sind die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland erheblich in Bewegung. Die umfangreichen Wählerwanderungen zwischen den Parteien und die Veränderungen im Wahlverhalten, die sich in hoher Bereitschaft zu wechselnden Entscheidungen niederschlagen, zeugen von Verunsicherungen in erheblichen Teilen der Bevölkerung. Zum einen drückt sich das in einem sinkenden öffentlichen Ansehen von Politikern aus. In diesen Schwankungen erscheint die PDS als relativ stabil und die Situation bietet gute Chancen zu einem weiteren Ausbau ihrer Positionen. Zum anderen gibt es dabei aber auch offene Fragen. Dazu gehören die nach den Wirkungen von Regierungsbeteiligung und/oder Tolerierung. Schließlich existiert die Herausforderung, den Platz in der politischen Struktur mit eigenen Beiträgen zu befestigen.

Drittens: Der Ausbau der Positionen in der letzten Zeit ist mit strukturellen Veränderungen im Umfeld der PDS verbunden. Die strukturellen Ähnlichkeiten, die es dabei zwischen Ost und West gibt, zeigen Entwicklungsmöglichkeiten im Westen auf. Gerade die Berliner Wahlen haben gezeigt, daß es der PDS gleichzeitig möglich ist, ihre starken Positionen im Osten weiter auszubauen und im Westen deutlich an Boden zu gewinnen.

Viertens: Die benannten wichtigen sozialen Grundprozesse (»Segmentierung«/»Polarisierung«, »Ost-West-Differenz«, »Entsicherung«) werden auch künftig die Einstellungen und das politische Verhalten vieler Menschen prägen. Im Zusammenhang mit den Veränderungen in der »Parteienlandschaft« und den Anhängerschaften sowie im Kontext der zu erwartenden Instabilität des Regierungsbündnisses wäre damit zu rechnen, daß die politischen Erwartungen an die PDS steigen. Ohne zu spekulieren ist festzuhalten, daß die Wählerpotentiale der PDS (in Ost und West) weiterhin im ganzen noch nicht ausgeschöpft sind.

In einem »best-case-szenario« wurde schon 1997 hierzu ein bundesweiter Wert von ca. acht Prozent ermittelt.9

Fünftens: Wie zahlreiche Fakten belegen, ist die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, mittels Stimmabgabe aktiv zu werden, immer dann hoch, wenn (zumindest subjektiv angenommen) Aussichten auf Veränderungen besteht. Unter diesem Aspekt sollten die Forderungen nach neuen bzw. verstärkten plebiszitären Elementen (in klarer Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten) durch die PDS unbeirrt aufgegriffen und vertieft werden. Als Beispiel kann folgende gedankliche Hypothese gelten: Gäbe es die Möglichkeit, über »Ost-Angelegenheiten« direkt abzustimmen, wäre die Wahlbeteiligung (im Osten) gewaltig. Ein großer Teil der Wahlgewinne der PDS beruht auf dem Effekt, daß das »Elektorat« der neuen Bundesländer »etwas tun« will.

Sechstens: Die PDS wird in den nächsten Jahren weiterhin vorwiegend im Oppositionsstatus agieren. Die im ganzen für sie dabei größer gewordenen Möglichkeiten sollten als Chance genutzt werden, um einerseits parlamentarische Gestaltungsfelder breiter zu erschließen und um andererseits politische Handlungsmacht auch außerhalb parlamentarischer Kräfteverhältnisse zu suchen und herzustellen. Sozial spürbares Engagement, Besetzung intellektueller und kultureller Räume sowie die Erarbeitung origineller geistig-strategischer Optionen werden in hohem Maße darüber entscheiden, ob und wie bei Wahlen Aufbrüche realisierbar sind.

Siebentens: In diesem Zusammenhang sollten die Wahlergebnisse für die PDS Anlaß sein, über den neuen Stellenwert von »Öffentlichkeit« und »Kommunikation« für die weitere Profilierung der Partei nachzudenken. Als strategisches Ziel der nächsten Jahre kann gelten, die noch vorhandenen Wahrnehmungs- und Kommunikationsblockaden gegenüber den Vorschlägen und Optionen der PDS sichtbar weiter zu verringern. Die Bewältigung dieser Aufgabe fordert alle Ebenen der Partei heraus und sollte deshalb Gegenstand intensiver Diskussionen sein.

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1 Siehe Michael Chrapa, Dietmar Wittich: Zur Analyse der Wahlergebnisse bei den Wahlen zum 14. Deutschen Bundestag am 27. September 1998, Berlin/Halle 1999, S. 38ff.

2 Opposition richtig machen! Für eine offensive Politik! Ausarbeitung im Landesverband der PDS Sachsen, August 1999, S. 1. (Manuskript)

3 Siehe Michael Chrapa, Dietmar Wittich: Politische Potentiale für andere Mehrheiten, Berlin/Halle 1997.

4 Siehe Ulrich Beck: Schöne neue Arbeitswelt. Frankfurt/New York 1999, S. 10ff.

5 Siehe Michael Chrapa, Dietmar Wittich: Wahlstudie Berlin 1999, Berlin/Halle 1999.

6 Siehe FOKUS-Studie: »Bilanz 99«, Halle, Oktober 1999, (unveröffentlicht).

7 Siehe Michael Chrapa, Dietmar Wittich: Wahlen ’98. Wo liegen Chancen für die PDS? Berlin/Halle 1998.

8 Ebenda.

9 Berechungen im Verlauf des Projektes »Gesellschaftskritische Potentiale (1996-1998)«