Die Grünen auf der Suche nach einem neuen Grundsatzprogramm
Als die Grünen im März 1980 in Saarbrücken ihr erstes Programm annahmen, hatte die erst im Januar des Jahres gegründete Partei bereits eine wichtige Richtungsentscheidung hinter sich: die Trennung von rechten, konservativen Kräften um den ehemaligen CDU-Abgeordneten Herbert Gruhl und den bunt schillernden Öko-Bauern Baldur Springmann. Obwohl die Partei den Spruch Weder rechts, noch links, sondern vorn vor sich hertrug, zeigte das Saarbrücker Bundesprogramm deutlich linke Konturen. Die damals postulierten Grundwerte ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei waren von einem starken gesellschaftskritischen Impetus getragen.
Zwanzig Jahre später fragen sich viele Mitglieder der Grünen, ob diese Grundwerte noch Gültigkeit besitzen. Die Regierungsverantwortung in Bund und Ländern, der Kosovo-Krieg und das Gerangel um den Ausstieg aus der Kernenergie haben das Selbstverständnis der Partei erschüttert. Lässt sich das deutliche Reißen der Fünf-Prozent-Latte in Ostdeutschland noch mit dem weitgehenden Fehlen jener Milieus erklären, die im Westen den Humus grünen Wachstums bildeten, gehen die Wahlschlappen in den Alt-Bundesländern und die Verluste langjähriger Mitglieder in den westlichen Kreisverbänden an die Substanz der Partei, herrscht - wie Bundesvorstandssprecherin Antje Radcke einräumen musste - an der Parteibasis ein ziemlicher Frust.
Höchste Zeit für die Parteiführung, den Versuch zu unternehmen, die immer tiefer werdende Kluft zwischen Vision und Realpolitik zu schließen und die Partei inhaltlich neu zu sammeln. Dem dient der nun angeschobene parteiinterne Diskussionsprozess um ein neues Grundsatzprogramm, das im Jahr 2001 das Saarbrücker Bundesprogramm von 1980 ablösen soll. Den Auftakt dieses längeren Prozesses bildete ein Strategiekongress der Grünen in Kassel in der zweiten Novemberhälfte 1999, auf dem unter dem Motto Der Kern des Grünen Projekts Leitfragen und Diskussionsgrundlagen für die Programm-Debatte entwickelt werden sollten. Nicht zuletzt geht es der Führung der Öko-Partei darum, die Grünen in der Öffentlichkeit als eine moderne Partei darzustellen, die für neue Wählerschichten attraktiv ist.
Es soll das Bild einer Organisation vermittelt werden, die in ihrem Denken nicht am Beginn der achtziger Jahre stehen geblieben ist, sondern die realisiert, dass sich die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen grüner Politik gravierend verändert haben. Das schließt die Implosion des Staatssozialismus und die Vereinigung Deutschlands ebenso ein wie die Prozesse der Globalisierung und der Vertiefung und Erweiterung der EU-Integration. Nicht zuletzt haben sich Wählerklientel und Mitgliedschaft der Öko-Partei selbst verändert. Mehr als die Hälfte der heutigen Mitglieder sind nach 1990 in die Partei eingetreten, und das bei nur wenig gestiegener Gesamtmitgliederzahl. Es hat sich also ein gewaltiger personeller Umschlag vollzogen. Die neuen Mitglieder haben oft eigene politische Vorstellungen und Wertorientierungen eingebracht, die sich nun in der Grundsatzprogramm-Debatte widerspiegeln - vielfach konträr zum Selbstverständnis jener, die sich seit den achtziger Jahren in der Öko-Partei engagiert haben und an den Visionen von damals festhalten.
Zu Beginn des Kasseler Kongresses postulierte Bundesvorstandssprecherin Gunda Röstel zwar, Visionen und Realpolitik seien keine Widersprüche, sondern würden einander bedingen. Doch offenbarte der Kongress sehr schnell, dass die Führung der Öko-Partei Visionen längst auf die Forderung verkürzt hat, die grünen Ideale an die Veränderungen in der Gesellschaft und der Welt anzupassen. Während Bundesumweltminister Jürgen Trittin noch eine programmatische Neuorientierung forderte und die Ökologie zum zentralen Wert auf allen Politikfeldern machen wollte, hielt Bundesaußenminister Joseph Fischer eine Programmreform eigentlich für unnötig und verlangte, die Grundwerte lediglich neu zu interpretieren und mit zeitgenössischem Inhalt zu füllen. Nicht nur angesichts derartiger Bestrebungen bescheinigte der frühere DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann seiner Partei eine selbstverschuldete Glaubwürdigkeitskrise.
Und in der Tat: Vergleicht man das Bundesprogramm von 1980 mit den politischen Positionen und der realen Politik der Grünen von heute, dann zeigt sich, dass die Öko-Partei im Verlauf von zwei Jahrzehnten nicht nur manch Unrealistisches über Bord geworfen hat, sondern auch vieles, was einst zum Kern grüner Programmatik gehörte. Der Blick auf einige zentrale wirtschaftspolitische, sozialpolitische und außenpolitische Fragen kann das illustrieren:
In ihrem Bundesprogramm von 1980 formulierten die Grünen eine grundsätzliche Kritik an der herrschenden Wirtschaftspolitik und plädierten für ein Wirtschaftssystem, das sich an den Lebensbedürfnissen der Menschen und zukünftiger Generationen orientiert, das der Erhaltung der Natur und dem sparsamen Umgang mit den natürlichen Reichtümern verpflichtet ist: Insbesondere stellt ökologische Politik eine umfassende Absage an eine Wirtschaft der Ausbeutung und des Raubbaus an Naturgütern und Rohstoffen sowie zerstörerische Eingriffe in die Kreisläufe des Naturhaushalts dar. Unsere Überzeugung ist, dass der Ausbeutung der Natur und des Menschen durch den Menschen entgegengetreten werden muss, um der akuten und ernsten Bedrohung des Lebens zu begegnen. ... Um solche Veränderungen gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse durchzusetzen, bedarf es einer politischen Bewegung, in der menschliche Solidarität und Demokratie untereinander und die Absage an ein von lebensfeindlicher Konkurrenz bestimmtes Leistungs- und Hierarchiedenken grundlegend sind. Und: Wir sind grundsätzlich gegen jegliches quantitatives Wachstum, ganz besonders dann, wenn es aus reiner Profitgier vorangetrieben wird.
Betrachtet man die programmatischen Papiere der letzten Jahre und mehr noch die Auffassungen der zumeist in Regierungsverantwortung agierenden Fachpolitiker, die in der aktuellen Debatte das Übergewicht haben, stellt man schnell fest, dass sich die heutigen wirtschaftspolitischen Positionen weit von denen von 1980 entfernt haben. Insbesondere der systemoppositionelle Ansatz von damals ist völlig verschwunden. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass die derzeitigen Akteure unterschiedliche Akzente setzen:
Vor allem im Bundestag vertretene Wirtschafts- und Finanzpolitiker der Grünen nehmen schon seit längerem einen neoliberalen Standort ein. Nach ihrer Auffassung müsse sich der Staat von einer aktiven Wirtschaftspolitik verabschieden, stünden Deregulierung und Privatisierung von Staatseigentum auf der aktuellen Agenda. Oswald Metzger, haushaltspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, plädierte in einem Spiegel-Essay (45/1998) für eine Angebotspolitik von links, eine baldige Reduzierung der Neuverschuldung des Staates auf Null und für eine schrittweise Tilgung der aufgelaufenen Schulden. Er verlangte einerseits, den Wohlfahrtsstaat zu reformieren, hielt schmerzhafte Einschnitte bei den Sozialversicherungssystemen für erforderlich und bestand andererseits auf einer deutlichen steuerlichen Entlastung der Unternehmen.
Demgegenüber forderte Bundesumweltminister Jürgen Trittin in Kassel, die Politik müsse ihr Primat gegenüber den blinden Kräften des Marktes hochhalten. In der Umweltfrage werde sich dies zuspitzen. Man müsse in der Öko-Politik global denken und europäisch handeln. Es gebe heute keine nationale Umweltpolitik mehr. Umweltpolitik dürfe zudem nicht nur warnen, sondern müsse auch Lösungen anbieten. Ökologische Politik könne nur erfolgreich sein, wenn sie sozial gerecht sei, wenn die Menschen das Gefühl hätten, die Dinge gestalten zu können.
In den sozialpolitischen Teilen des Bundesprogramms von 1980 machten die Grünen die gesellschaftlichen Verhältnisse der alten Bundesrepublik als Verursacher massenhaften sozialen und psychischen Elends und wachsender ungleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse zwischen arm und reich aus und wandten sich gegen die Diskriminierung von Frauen, Ausländern, sozialen Randgruppen. Sie betonten: Eine zukünftige soziale Politik muss zum Ziele haben, ein stabiles Sozialsystem zu errichten. Im Sinne von mehr sozialer Gerechtigkeit entwickelten die Grünen im Verlauf der achtziger Jahre die Idee einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung.
Ohne diese von ihr selbst mit entwickelte Idee auch nur zu erwähnen, verlangte Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer nun auf dem Kongress in Kassel ein Umdenken in der Sozialpolitik: Es gehe nicht mehr nur um Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch um Generationen-, Leistungs- und Geschlechtergerechtigkeit. Ein neuer grüner Begriff sozialer Gerechtigkeit müsse auf die Vielfalt der gesellschaftlichen Änderungen umfassend reagieren. Erforderlich sei, in einer vielfältigen und dynamischen Gesellschaft Armut zu bekämpfen, Verschiedenheit zu ermöglichen, Teilhabe für alle zu gewährleisten und das soziale Engagement der Menschen zur Grundlage des Sozialstaates zu machen. Bei allem Bauchgrimmen hinsichtlich der in solchen Thesen versteckten sozialen Einschnitte handelt es sich doch um einen diskussionswürdigen Ansatz, soziale Gerechtigkeit nicht länger quantitativ, sondern qualitativ zu definieren.
In den außenpolitischen Passagen ihres Bundesprogramms von 1980 traten die Grünen für eine aktive Friedenspolitik und eine umfassende, weltweite Abrüstung ein und positionierten sich grundsätzlich gegen die Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt durch Kriegshandlungen. Sie betonten: Unser oberster Grundsatz lautet: Humane Ziele können nicht mit inhumanen Mitteln erreicht werden. Gewaltfreiheit gilt uneingeschränkt und ohne Ausnahme zwischen allen Menschen, also ebenso innerhalb sozialer Gruppen und der Gesellschaft als Ganzem als auch zwischen Volksgruppen und Völkern. Frieden sei untrennbar mit der Unabhängigkeit der Staaten und dem Vorhandensein demokratischer Rechte in ihnen verbunden.
Vor diesem programmatischen Hintergrund verteidigte Fischer in Kassel das Vorgehen der Regierung im Kosovo-Konflikt gegenüber parteiinternen Kritikern. Zwar sprach er sich in diesem Zusammenhang dafür aus, dem Prinzip der Gewaltfreiheit auch institutionelle Entwicklungsmöglichkeiten einzuräumen, doch meinte er, in einer gewalttätigen Welt müsse man dann und wann Zähne und Faust zeigen. Die Grünen seien von Anfang an universalistisch gewesen. Folglich könne das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen nur dann gelten, wenn nicht ein höheres Recht als das der nationalen Souveränität, nämlich das der Universalität, verletzt werde. Und Menschenrechte seien ein solches universelles Recht.
Am Ende des Kasseler Strategie-Kongresses musste Antje Radcke konstatieren, dass die Kluft zwischen Realitäten und Visionen nicht kleiner geworden sei. Doch könnten die Grünen - so die Bundesvorstandssprecherin hoffnungsvoll - diese Kluft politisch beschreiben und damit überwinden. Woher Frau Radcke ihre Hoffnung nahm, blieb ebenso unklar wie die Frage, wie der Konflikt zwischen den grünen Visionen und der tagtäglichen Politik als Regierungspartei konstruktiv aufgelöst werden kann. Allerdings wird man wohl davon ausgehen können, dass es der Führung der Grünen gelingen wird, ihre politische Linie (und damit vor allem die in den letzten zwei Jahren vollzogenen Richtungsänderungen) [1] durch das neue Grundsatzprogramm abzusichern.
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[1] Siehe dazu detailliert: Jochen Weichold: Im Spagat zwischen eigenen Wurzeln und Bindung an die SPD. Die Grünen in der Identitätskrise. In: Disput, Berlin, 1999, Nr. 4, S, 25-27.