Text der Woche 48/2001Zur Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Rostock am 24. und 25. November 2001
Die Grünen haben in Rostock Frieden geschlossen. Nicht mit Afghanistan. Mehr mit sich selbst. Nach einer langen, teilweise emotional geführten Debatte stand endgültig fest, was Beobachter bereits im Vorfeld vermutet hatten: Der Parteitag nahm mit etwa drei Viertel der Stimmen den leicht veränderten Antrag des Bundesvorstandes an, der die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der grünen Bundestagsabgeordneten zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr akzeptiert. Die Delegierten entschieden sich damit zugleich für den Erhalt der rot-grünen Koalition auf Bundesebene.
Der Kern des Beschlusses der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) lautet: "Wir akzeptieren, dass unsere Abgeordneten mehrheitlich der Bereitstellung von Einheiten der Bundeswehr zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zugestimmt haben." Und: "Unsere Antwort auf die Frage nach der Koalition ist eindeutig: Bündnis 90 / Die Grünen wollen die rot-grüne Koalition fortsetzen, weil sie gut ist für die Menschen und für dieses Land." Zugleich respektierte der Parteitag ausdrücklich, dass die grünen Bundestagsabgeordneten in dieser Entscheidung, die Gewissensfragen genau so berührt habe wie politische Grundsatzfragen, zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen seien. Niemand habe sich die Entscheidung leicht gemacht. Die BDK erklärte, es sei richtig gewesen, dass die vorhandene Kritik an dem Einsatz, "die in unserer Partei ihren Platz hat", in der Abstimmung zum Ausdruck gebracht worden sei.
Im Unterschied zur SPD unter Bundeskanzler Schröder und seinem Wort von der "uneingeschränkten Solidarität" mit den USA thematisierten die Grünen den Begriff der "kritischen Solidarität": "Unsere Solidarität ist nicht gleichbedeutend mit bedingungsloser Unterstützung der US-Militärstrategie. Wir lehnen insbesondere den Einsatz von Streubomben auch bei diesem Kampf gegen den internationalen Terrorismus ab." Die Verhältnismäßigkeit müsse gewährleistet sein; der Zweck heilige nicht die Mittel. Die Grünen wollen den Einsatz von Massenvernichtungswaffen auch weiterhin eindeutig ausgeschlossen sehen. Es dürfe keine Eskalationsstrategie geben. Das Völkerrecht decke Rache nicht ab. Die Koalition gegen den Terrorismus müsse auch eine Koalition für Humanität sein. Es gehe nicht um Krieg gegen ein Land, eine Kultur oder eine Religion.
Die Führung der Grünen nahm in diesem Zusammenhang die Gelegenheit wahr, mit dem Blick auf das neue Grundsatzprogramm der Partei die Leitlinien grüner Außenpolitik neu abzustecken: Grüne Außenpolitik setze auf eine neue Friedenspolitik für das 21. Jahrhundert, die sich dadurch auszeichne, dass sie angesichts der Gefahren privatisierter Gewalt die Stärkung der UNO, die Universalität der Menschenrechte, Gewaltprävention und zivile Konfliktbearbeitung sowie die Geltung des Rechts in den internationalen Beziehungen ins Zentrum rückt. "Wir wissen", so die neue Tonlage, "dass sich Gewalt als ultima ratio leider nicht immer ausschließen lässt." Die Bundeswehr dürfe zwar nicht im Kontext klassischer Interventionen eingesetzt werden, könne sich aber an internationalen Einsätzen zur Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens, die mit UNO-Mandat durchgeführt werden, beteiligen.
In der elfstündigen Generalaussprache am letzten Novemberwochenende dieses Jahres in der überfüllten Rostocker Stadthalle warb die gesamte grüne Führungsriege um Zustimmung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr - durchaus mit unterschiedlicher Akzentsetzung. Während Bundesumweltminister Jürgen Trittin auf den Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze abhob, zielte Außenminister Joschka Fischer auf einen Blankoscheck, auf ein endgültiges Ja zu Kriegseinsätzen der deutschen Armee. Er wolle in dieser Legislaturperiode nicht noch einmal einen Streit um solche Einsätze führen müssen. Fischer setzte den Delegierten die Pistole auf die Brust: Eine Entscheidung für die rot-grüne Koalition und gleichzeitig gegen militärische Einsätze sei in der jetzigen Weltsituation unmöglich.
Während die Fraktionsvorsitzende Kerstin Müller von der Rostocker BDK eine grundsätzliche Entscheidung darüber einforderte, ob die Grünen militärische Einsätze als letztes Mittel für legitim hielten oder nicht, verlangte Parteichefin Claudia Roth, die Reduzierung der Debatte auf die militärische Logik zu durchbrechen. "Sind wir für oder gegen Krieg?" Diese Frage stelle sich nicht. "Wir sind und wir bleiben eine Anti-Kriegs-Partei, eine Partei mit hoher Friedenskompetenz", betonte Roth. "Und ich wehre mich entschieden gegen alle, die verlangen, wir müssten jetzt ein für allemal die Frage klären, ob wir für oder gegen Militär sind. So zugespitzt haben wir schon verloren. Ich werde meine militärkritische Haltung nie aufgeben, allerdings glaube ich, dass es unter bestimmten Voraussetzungen richtig ist, auch Militär einzusetzen, um Gewalt zurückzudrängen und Friedensperspektiven zu eröffnen."
Die Befürworter des Antrags des Bundesvorstandes der Grünen führten immer wieder ins Feld, dass die rot-grüne Koalition mit der Einführung der Öko-Steuer, dem begonnenen Atomausstieg, dem Naturschutzgesetz, der Steuerreform, der Homo-Ehe und anderen Reformprojekten Erfolge aufzuweisen habe, die mit einem Bruch der Koalition aufs Spiel gesetzt würden. Man dürfe das Land nicht den Westerwelles und der "Chaostruppe um Edmund und Angela" anheim geben. Aus der Bundesregierung auszuscheiden würde auch bedeuten, der politischen Rechten - nämlich Haider, Berlusconi und Stoiber - die künftige Gestaltung Europas zu überlassen.
Die Gegner eines Kriegseinsatzes der Bundeswehr wie die Bundestagsabgeordneten Christian Ströbele, Annelie Buntenbach und Steffi Lemke, die Landesvorsitzenden der Grünen von Thüringen und Brandenburg, Astrid Rothe und Roland Voigt, argumentierten, in Afghanistan gehe es (ebenso wie früher im Kosovo und in Mazedonien) um Konflikte, in denen die USA ein Teil des Problems seien, das jetzt mit Krieg bekämpft werden solle. Die USA hätten solche Kräfte wie Osama bin Laden erst unterstützt und gefördert, die heute terroristische Verbrechen verüben. Die Opponenten gegen einen Bundeswehreinsatz erklärten, Krieg sei die falsche Antwort auf den internationalen Terrorismus, und verlangten einen sofortigen Stopp der Bombardements, weil diese den Terrorismus nicht bekämpfen könnten. Der Krieg treffe unschuldige Zivilisten, werde immer mehr zu einem Krieg gegen ein Land und züchte die nächste Generation von Terroristen geradezu heran. Die BDK müsse daher beschließen, dass es keinesfalls eine Zustimmung für die Beteiligung der Bundeswehr an weiteren Kriegseinsätzen geben dürfe.
In der mit Engagement geführten Debatte, in der es zeitweise sogar schien, als würden die Gegner eines Kriegseinsatzes der Bundeswehr die Oberhand gewinnen, traf Claudia Roth ziemlich genau die Stimmungslage der überwiegenden Mehrheit der Delegierten: Wie viele Delegierte empfinde sie das Gefühl, zerrissen zu sein zwischen dem Ja zur Fortsetzung der Koalition und dem Nein zu Militäreinsätzen. Aber nicht die Partei sei zerrissen, sagte sie, sondern der Konflikt zerre "an jedem und jeder von uns". Stärke sei, differenziert zu bleiben in Zeiten, wo es kein einfaches Ja und kein einfaches Nein gebe. Stärke sei, nicht dem populistischen Reflex zu erliegen, auf schwierige Fragen nur noch platte Antworten geben zu wollen. Gerade jetzt in Zeiten äußerer und innerer Unsicherheit, gerade jetzt brauche es eine Partei, deren Wurzeln in der Friedensbewegung liegen, gerade jetzt brauche es eine Partei, die sich den Werten der Gewaltfreiheit und der Menschenrechte auch nach dem Kosovo verpflichtet fühlt, eine Partei des politischen Pazifismus. Gerade jetzt brauche es eine Partei der Bürgerrechte, die ihre Stimme laut erhebt als Hüterin des Rechtsstaats. Gerade jetzt brauche es Grün.
Ebenso wie die integrative Rede von Claudia Roth zielte der nachdenkliche Diskussionsbeitrag von Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer darauf, möglichst viele Kritiker des Beschlusses über einen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr in der Partei zu halten. Vollmer erklärte, es entstehe in der Öffentlichkeit der Eindruck, die Lehren aus den Kriegserfahrungen würden heute leichtfertig aufs Spiel gesetzt und Deutschland habe eine neue, angstbesetzte Rolle übernommen: eine militärische. Die bisherige Rolle Deutschlands in der Welt sei eine zivile Rolle gewesen, gewachsen aus dem Wandel von der gehassten Kriegsnation zu einem Land, dem die anderen Länder mit Vertrauen begegnen konnten. "Was soll von dieser alten Rolle bewahrt werden", fragte Antje Vollmer Außenminister Fischer, "welche Grenzen hat die neue Rolle?" Sie forderte, nicht alle Werte der bisherigen zivilen Rolle zu verspielen, sondern sie auch künftig in der Außenpolitik zum Tragen zu bringen.
Im Verlauf eines komplizierten Verfahrens konnte sich dann der Antrag des Bundesvorstandes zunächst im Meinungsbild gegen acht andere Anträge deutlich behaupten. Bei der anschließenden Abstimmung des Leitantrages gegen den zweitplatzierten Antrag, der eine klare Unterstützung für den Kurs des Außenministers einforderte, ergaben sich allerdings überraschender Weise unklare Mehrheitsverhältnisse. Das löste hektische Betriebsamkeit auf und hinter der Tribüne aus, drohte doch die sorgsam austarierte Parteitagsregie zu kippen. Erst nochmaliges Auszählen erbrachte eine leichte Mehrheit für den Antrag des Bundesvorstandes, was angesichts aufkommender Unruhe im Saal vom Initiator des zweitplatzierten Antrags, Ralf Fücks von der grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, mit den Worten kommentiert wurde, er sehe die Mehrheitsverhältnisse auch so wie die Zähler des BDK-Präsidiums.
Im Interesse des Zusammenhalts der Partei wurden danach von der Führung der Grünen einige kritische und einschränkende Formulierungen der Parteilinken um Christian Ströbele und Frithjof Schmidt in den Leitantrag des Bundesvorstandes übernommen. Das betrifft vor allem das Abheben auf die Begrenzung des Mandats für den Bundeswehr-Einsatz. Die Grünen wollen demnach verhindern, dass der Krieg auf andere Länder (etwa im Nahen und Mittleren Osten) ausgeweitet wird, und sich dafür einsetzen, dass die bereitgestellten Bundeswehrsoldaten nur im Rahmen der Erfüllung des beschlossenen Mandats herangezogen werden, "sei es zu humanitären Aufgaben wie Hilfe für Verletzte, sei es zum Transport von Versorgungsgütern und Seeüberwachung zum Schutz der zivilen Seefahrt, sei es durch Einsatz der Spezialkräfte zu gewaltsamen polizeiartigen Einsätzen, um mutmaßliche Terroristen zur Verantwortung zu ziehen". Aufnahme fand darüber hinaus die Feststellung: "Bündnis 90/Die Grünen bleiben auch der pazifistischen Tradition verpflichtet und verbunden."
Angesichts von Plänen, Mitglieder der internationalen Terroristenszene in den USA von nationalen Militärgerichten aburteilen zu lassen, stimmten die Delegierten in den Antrag hinein, dass die mutmaßlichen Täter des 11. September 2001 vor ein internationales Strafgericht gestellt und nicht liquidiert werden. Und schließlich wurde dank einer geschickten Parteitagsregie einerseits verhindert, die Kernaussage "Wir akzeptieren, dass unsere Abgeordneten mehrheitlich der Bereitstellung von Einheiten der Bundeswehr zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zugestimmt haben." durch die Formel "nehmen zur Kenntnis" abzuschwächen. Andererseits wurde der Versuch abgewehrt, diese Aussage durch den Begriff "unterstützen" aufzuwerten und damit den innerparteilichen Konflikt zu eskalieren.
Insgesamt ist die Führung der Grünen nicht geschwächt, sondern gestärkt aus dem Rostocker Parteitag hervorgegangen. Der integrative Kurs hat auch kritische Kräfte eingebunden, gewissermaßen den "innerparteilichen Frieden" hergestellt. Vor allem aber wurde deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der Delegierten hinter ihrem Außenminister steht und den Kurs der Bundesregierung stützt. Die Grünen sehen sich nicht zu Unrecht als Reform-Motor in der Koalition und sind überzeugt, in der Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl weitere Projekte auf den Weg zu bringen, was ihnen nach einem Bruch der Regierungskoalition als Opposition verwehrt bliebe. Die kritische Parteilinke ist marginalisiert und in der Frage der Kriegseinsätze der Bundeswehr uneinig, wenn nicht gar zerstritten. Bei den Befürwortern des gegenwärtigen Kurses treffen sich dagegen Realos mit Regierungslinken - Kräfte aus einst verfeindeten Lagern.
Wenn man Bruchlinien ausmachen kann, dann zwischen denen, die parlamentarische Mandate innehaben oder Funktionen in der Partei bekleiden und für die Fortsetzung der Regierungsbeteiligung in Berlin streiten, und denjenigen, die sich mit dem Unmut des Sympathisantenfeldes, der Klientel aus Verbänden und Vereinen vor Ort konfrontiert sehen. Der Riss geht aber eher durch das einzelne Mitglied der Grünen als durch die Partei selbst.
Sicher wird nach dem Rostocker Parteitag eine Reihe Mitglieder die grüne Partei enttäuscht verlassen. Doch ist eine Abspaltung von der Öko-Partei nicht einmal in dem Umfang zu erwarten wie 1991, als Jutta Ditfurth den kollektiven Auszug der RadikalökologInnen, ÖkosozialistInnen, Feministinnen und ÖkoanarchistInnen organisierte und mit dem kleineren Teil dieser Kräfte die "Ökologische Linke" gründete. Nachdem die Wortführer der Opposition in der grünen Bundestagsfraktion erklärten, auch nach Rostock in Partei und Fraktion bleiben und für ihre Standpunkte kämpfen zu wollen, ist keine Führungspersönlichkeit in Sicht, die in der Lage wäre, den Protest der Enttäuschten außerhalb der grünen Partei wirkungsvoll zu bündeln und in eine neue Organisationsform zu gießen.
Die Totenglöckchen für die Grünen sind zu früh geläutet worden, und auch andere Parteien werden von den zu erwartenden Mitgliederverlusten der Öko-Partei, die zum Teil durch Neueintritte kompensiert werden, kaum profitieren können. Die von den Grünen Enttäuschten werden ihr politisches Engagement wohl eher auf Friedens- und Umwelt-Initiativen vor Ort konzentrieren oder sich gar ins Privatleben zurückzuziehen, denn anderen Parteien beitreten. Auch die PDS ist auf Bundesebene kulturell noch immer zu sehr Ostpartei und in den westlichen Bundesländern vor Ort (noch) zu wenig attraktiv, um den von der Schrägstrich-Partei Enttäuschten eine neue politische Heimat bieten zu können.
Mit dem Beschluss "Internationalen Terrorismus bekämpfen, in kritischer Solidarität handeln, die rot-grüne Koalition fortsetzen" haben sich die Grünen grundsätzlich dafür entschieden, Krieg unter bestimmten Umständen für ein legitimes Mittel der Politik zu halten. Einst angetreten, die Bundesrepublik Deutschland grundlegend zu verändern, haben sie sich selbst stärker verändert als das Land, haben sie dabei an jeder Wegmarke mehr von ihrer ursprünglichen Eigenart eingebüßt und sind den einst von ihr als "etabliert" gescholtenen Alt-Parteien immer ähnlicher geworden.
Berlin, 28. November 2001