Text der Woche 28/2001Neue Entwicklungstendenzen nach den Wahlniederlagen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz
Mehr als ein Dutzend Wahlniederlagen in Folge mussten die Grünen seit 1998 auf Bundes- und Landesebene einstecken. Zuletzt hatten sie deutliche Stimmenverluste bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und vor allem in Baden-Württemberg zu verzeichnen. Im Südweststaat, einer traditionellen Hochburg der Realos, verloren die Grünen 180.000 Wähler (bei der vorangegangenen Landtagswahl erst von der SPD geholt) an die Sozialdemokraten und schrumpften wieder auf grünes „Normalmaß“.
Angesichts dessen reift bei führenden Politikern der Öko-Partei die Erkenntnis, dass in der politischen Mitte für die Grünen nichts zu holen ist. Ludger Volmer, grüner Staatsminister im Auswärtigen Amt, konstatierte in einem Artikel in der „Frankfurter Rundschau“, dass die Grünen als Mittelstandspartei keine Chance haben.[1] Gedankenspiele mancher grüner Strategen, die grüne Wählerschaft schlicht auszutauschen, sprich: die als altmodisch, quengelig und regierungsunwillig geltenden Parteilinken durch „moderne Liberale“ zu ersetzen, sind ins grüne Auge gegangen.
Volmer und andere Spitzenpolitiker betreiben daher die Rückbesinnung auf die traditionelle Stammwählerschaft, die sich mit den Kernthemen Umwelt, soziale Gerechtigkeit, Bürgerrechte identifiziert. Nachdem Joschka Fischer den Kosovo-Krieg und Jürgen Trittin Atomtransporte quer durch Deutschland befürworten mussten, könnte eine Akzentuierung des Themas soziale Gerechtigkeit traditionelle Stammwähler an die Partei binden. So lautet denn das neue Motto der Öko-Partei: Mehr soziales Profil zeigen!
In diesem Sinne thematisierte die Stuttgarter Bundesdelegiertenkonferenz im März dieses Jahres in der Debatte über ein neues Grundsatzprogramm der Partei einen erweiterten Gerechtigkeitsbegriff (Verteilungs-Gerechtigkeit, Geschlechter-Gerechtigkeit, Generationen-Gerechtigkeit, Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd, Einbeziehung der Natur), folgte aber durchaus der Empfehlung des Frankfurter Philosophie-Professors Axel Honneth, die sozial Ausgegrenzten dieser Gesellschaft nicht zu vergessen: „Soziale Gerechtigkeit ist uns für unser Land wie weltweit politische Aufgabe.“[2] In einem Interview mit der „taz“ postulierte wenige Tage später Parteichef Fritz Kuhn: „Wir sind eine Partei der sozialen Gerechtigkeit, mit einem modernen, differenzierten Gerechtigkeitsbegriff.“[3]
Die Versuche, dem grünen Segelboot einen sozialeren Kurs vorzugeben, hat einen Streit in der Führungsmannschaft vom Zaun gebrochen. Fraktionschefin Kerstin Müller setzt auf das Thema Soziale Gerechtigkeit und kritisiert, die Grünen seien in der Vergangenheit zu häufig wie Interessenvertreter der Arbeitgeber aufgetreten.[4] Sie rügt: „Unsere Botschaft war zu oft der Abbau von Sozialstandards.“[5]
Aber auch Kuhn meint, das wirtschaftsliberale Menü sei abgegessen. Man müsse deutlich machen, dass die Grünen Wirtschaftspolitik nicht zum Selbstzweck betreiben, sondern um Arbeitslosigkeit abzubauen und so in der Gesellschaft für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen: „Die Wirtschaftspolitik kann ein wichtiges Thema bei der Vergrößerung unserer Wählerbasis sein, wenn klar ist: Das machen wir wegen des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit und nicht als Selbstzweck.“[6] Und: „Die Grünen müssen wieder stärker für soziale Gerechtigkeit stehen.“[7] Allerdings schränkt der Parteichef ein: „Ich halte von der These, wir müssten links von der SPD die klassische Lafontainsche Umverteilungspartei werden, überhaupt nichts. Wenn wir jetzt sozialdemokratischer würden, wären die Grünen erledigt.“[8]
Dagegen steuern die Bundestagsabgeordneten Oswald Metzger, Christine Scheel und Margareta Wolf einen eindeutig neoliberalen Kurs. Sie hatten sich in den letzten Jahren bemüht, die Grünen als Mittelstandsfreunde und Haushaltssanierer zu profilieren, um den Grünen neue Wählerschichten zu erschließen. Allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Die Vertreter des neoliberalen Wirtschaftsflügels der Partei arwöhnen jetzt, am Kurswechsel nicht beteiligt zu werden, und malen den Teufel an die Wand. „Wenn die Grünen anfangen, sich sozialdemokratischer Mechanismen zu bedienen,“ so Metzger, „wird uns das marginalisieren.“[9] Auch Lukas Beckmann, Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, sieht das Thema Soziale Gerechtigkeit „durch SPD und PDS so dominant besetzt“, dass er befürchtet, die Grünen „werden zwischen SPD und PDS zerrieben“.[10]
Wie groß der Rückhalt der grünen Neoliberalen in der Partei ist, kann schwer eingeschätzt werden. Schließlich hat sich die Zusammensetzung der Mitgliedschaft im letzten Jahrzehnt gravierend verändert. Etwa die Hälfte der heutigen grünen Mitglieder ist – bei annährend gleichgebliebener Gesamtmitgliederzahl – erst nach 1990 in die Partei eingetreten und hat neue Wertorientierungen und Lebenserfahrungen mitgebracht, die zum Teil auch neoliberalen Ideen einen Nährboden bieten. Nicht von ungefähr hat Fraktionschef Rezzo Schlauch im vergangenen Jahr mehrfach versucht, sich mit neoliberalen Positionen gegenüber den Gewerkschaften zu profilieren, so mit dem Vorschlag, die Flächentarifverträge aufzuweichen.
Doch die Hoch-Zeit der neoliberalen Grünen-Riege scheint vorüber zu sein. Rezzo Schlauch wurde längst zurückgepfiffen. An ersten wirtschaftspolitischen Konzeptionen für das neue Grundsatzprogramm der Grünen waren Metzger, Scheel und Wolf nicht beteiligt. Vielmehr hat eine Arbeitsgruppe um den Kieler Umweltminister Klaus Müller eine Reihe Reformvorschläge für den Wahlkampf 2002 und damit für die Linie des neuen Grundsatzprogramms erarbeitet, die den Vertretern des neoliberalen Wirtschaftsflügels noch bitter aufstoßen werden. So ist geplant, die Mehrwertsteuer auf „europäisches Niveau“ zu heben und damit die Finanzen für eine Senkung der Lohnnebenkosten zu gewinnen. Ein reduzierter Steuersatz auf Produkte für Kinder soll für einen „familienfreundlichen Ausgleich“ sorgen. Durch eine Erhöhung der Einkommenssteuer könnten beispielsweise gebührenfreie Kindergartenplätze finanziert werden.
Auch die Projektkommission Arbeit und Soziales der grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung wendet sich in ihrem jetzt vorgelegten Papier „Neue Impulse für Arbeit und Soziales“ gegen eine im neoliberalen Sinne vorangetriebene Privatisierung von sozialen Risiken und fordert die Grünen auf, „Fragen der sozialen Gerechtigkeit wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken“[11]. Die Partei sollte ihre bisherigen sozialpolitischen Vorstellungen angesichts drastischer sozialer Umbrüche einer gründlichen Revision unterziehen und dabei selbstbewusst an sozialpolitische Reformimpulse der 80er und 90er Jahre anknüpfen. So an das Konzept einer sozialen Grundsicherung, die vor Armut schützt, an die Abkehr von der männlich zentrierten Erwerbsarbeit in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, an neue Modelle der Arbeitszeitverkürzung und der Arbeitszeitteilung oder an finanz-, wirtschafts- und steuerpolitische Reformvorschläge, die sich am Prinzip der Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit orientieren. Unter anderem schlägt die Kommission ein existenzsicherndes Erziehungsgeld und eine Aufwertung der Kindergärten zu Orten der vorschulischen Bildung und vielfältiger Möglichkeiten zum Lernen vor. Nachhaltige Sozialpolitik müsse in die Bildung von Kindern und Jugendlichen investieren.
Schon beginnt sich die neue politische Orientierung in der praktischen Arbeit vor Ort niederzuschlagen. Die Grünen in Sachsen-Anhalt planen, im Landtagswahlkampf 2002 mit einer Kampagne „Lust auf Zukunft – Leben mit Kindern“ die materielle Situation von Alleinerziehenden und die in diesem Bundesland besonders sensible Frage der Kinderbetreuung zu thematisieren und damit eine soziale Note anzuschlagen. Auch die designierte Spitzenkandidatin der Grünen für die Berliner Abgeordnetenhauswahlen, Sibyll Klotz, will im Wahlkampf die Frage der sozialen Gerechtigkeit zum Schwerpunktthema machen. Die Grünen wollen zeigen, so Klotz, dass soziale Gerechtigkeit auch in einer schwierigen Haushaltssituation möglich ist.
Ob sich die Tendenz der stärkeren Hinwendung der Grünen zur sozialen Frage verstetigt, ist derzeit noch ungewiss. Sicher ist jedoch: Das Thema Soziale Gerechtigkeit ist kein Erbpachthof der PDS.
Jochen Weichold
[1] Vgl. Ludger Volmer: Regieren reicht nicht zum Leben. In: Frankfurter Rundschau, Frankfurt/M., 07.03.2001.
[2]Grüne Grundwerte und Grünes Selbstverständnis – fünf Thesen (Thesen des Bundesvorstands von Bündnis 90/Die Grünen zum Grundsatzprogramm), [Berlin 2001], These 4.
[3] Fritz Kuhn in: taz – die tageszeitung, Berlin, 09.04.2001.
[4] Vgl. Die Welt, Berlin, 16.05.2001.
[5] Zit. in: Süddeutsche Zeitung, München, 19.04.2001.
[6] Zit. in: Der Spiegel, Hamburg, 2001, Nr. 14 (vom 02.04.2001), S. 17.
[7] Zit. in: Berliner Zeitung, Berlin, 05.07.2001.
[8] Zit. in: Die Welt, Berlin, 16.05.2001.
[9] Zit. in: Der Spiegel, Hamburg, 2001, Nr. 14 (vom 02.04.2001), S. 17.
[10] Zit. in: Der Tagesspiegel, Berlin, 05.07.2001.
[11] Neue Impulse für Arbeit und Soziales. Eine Expertise der Projektkommission Arbeit und Soziales der Heinrich-Böll-Stiftung. In: Kommune, Frankfurt/M., 2001, Nr. 7, S. I.