Das Interview führte Noël van den Heuvel.
Du hast ein ganzes Buch über die Hisbollah geschrieben. Warum war es deiner Meinung nach nötig, sich noch einmal mit dem Thema zu beschäftigen?
Als ich 2010 begann, hielt ich die Beschäftigung mit der Hisbollah und anderen islamisch-fundamentalistischen Organisation für notwendig, weil viele Fragen noch offen waren. Es gab verschiedene Positionen zur Hisbollah oder der Muslimbruderschaft. Ob sie faschistisch sind, wie konservative Forschungseinrichtungen sagen würden oder eine Form der Befreiungstheologie, wie wir sie aus Lateinamerika kennen? Meiner Meinung nach war beides falsch. Dann gab es noch eine weitere Position, von der ich ausging: sie als politische Partei entsprechend ihrem Programm, ihrer Politik und dem sozialen Hintergrund ihrer Führung und Kader zu bewerten. Und hiernach kann man sie nicht als progressive Partei einstufen, sondern, im Gegenteil, als reaktionär, konfessionell und Unterstützerin einer kapitalistischen Wirtschaft. Es ist eine gradualistische[i], Islamisch-fundamentalistische Bewegung mit dem Ideal, einen islamischen Staat zu errichten. Auch wenn dies momentan im Libanon nicht möglich ist.
Diese Perspektive auf die Hisbollah war meiner Meinung nach nicht wirklich vorhanden: eine holistische Analyse, die sich mit der politischen Ökonomie des Libanon und der Entwicklung der Hisbollah im Verhältnis zu neoliberaler Umstrukturierung und der daraus resultierenden sozialen Veränderungen, auch unter den Schiiten beschäftigt. Ihre Ideologie kann man nicht isoliert von politischen Dynamiken und dem Kontext, ob lokal, regional oder international, erklären.
Des Weiteren wollte ich Gedanken des libanesischen Marxisten Mahdi Amil[ii], vor allem aus seinem Buch «Der Konfessionelle Staat», bezüglich seiner Analyse von Konfessionalismus, dem Verhalten der islamischen Bourgeoisie im libanesischen Bürgerkrieg und schließlich seine Kritik am Konzept «Community Class» vorbringen.
Wie du gerade angedeutet hast, gibt es immer noch Teile der Linken, die die Hisbollah als progressiv ansehen. Was sind deine Gedanken dazu?
Wenn es ausreicht, gegen Israel zu kämpfen und «Tod für Amerika!» zu rufen und dafür als progressiv zu gelten, dann müssen wir Osama bin Laden und al-Qaida auch als progressiv einstufen. Das ist lächerlich. Imperialismus ist ein System, es ist nicht auf ein oder zwei Staaten im Westen begrenzt. Es ist ein globales System, in welchem die USA zwar immer noch Hauptmacht sind, es aber auch andere imperialistische Mächte wie Russland, China, Frankreich oder Großbritannien und Regionalmächte wie zum Beispiel Israel, die Türkei, Iran, Saudi-Arabien, Katar und Ägypten gibt. Davon mal abgesehen, kann man seine Analyse nicht komplett auf die Außenpolitik einer Bewegung aufbauen. Das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen eine Besatzungsmacht oder ein autoritäres Regime sollte man zwar unterstützen. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass man die politischen Parteien auch ideologisch und programmatisch unterstützt. Man kann die Frauenfrage, die soziale Frage und andere gesellschaftliche Widersprüche und Diskriminierungen nicht einfach ignorieren.
Bezüglich ihrer Politik sagst du in deinem Buch, dass sie neoliberal und karitativ zugleich ist. Wie geht das zusammen?
In allen möglichen religiös-fundamentalistischen Bewegungen auf der Welt gibt es diese Verbindung zwischen moralischem Konservatismus und politischem Neoliberalismus. Wenn man darüber nachdenkt macht es auch total Sinn. Wenn man einen starken Sozialstaat hat, der der Allgemeinheit Sozialleistungen anbietet, dann hat eine Partei weniger die Möglichkeit, sich eine klientelistische Basis über die Bereitstellung eigener Leistungen aufzubauen. Also fordern sie die Privatisierung und weitere neoliberale Umstrukturierungen. Wohltätige Leistungen geben ihnen einen Kanal über den sie ihre eigene Ideologie verbreiten und sich eine Massenbasis aufbauen können. Denn um Sozialleistungen zu erhalten muss man sich an ihre Normen, Gesetze und Regeln halten. Das ist genau, was die Hisbollah im Libanon macht.
Wie du bereits erwähnt hast, gibt es eine Debatte, ob man islamistische Gruppen als faschistisch bezeichnen kann. Du siehst das anders. In deinem Buch bezeichnest du Marvin Olasky, der ein enger Berater von George W. Bush war, als «westliches», christliches Gegenstück zur Hisbollah. Kannst du das etwas weiter ausführen?
Ich denke, dass man mit dem Faschismusbegriff vorsichtig sein muss. Der Faschismus ist ein spezifisches historisches Phänomen, das sich natürlich wiederholen kann. Aber wenn man den Faschismus analysiert, dann war es zuallererst eine Massenbewegung des Kleinbürgertums infolge einer großen Krise. Das Hauptziel dieser Bewegung war, den Staat zu übernehmen und die Arbeiterbewegung zu vernichten. Religiöser Fundamentalismus ist absolut nicht in dieser Art von Prozessen entstanden. Wenn man es sich historisch anguckt, wurde die Muslimbruderschaft in den 20ern gegründet, um das Kalifat als Reaktion auf das Ende des Osmanischen Reiches, die britische Besatzung und das Aufkommen säkularer Ideologien und Bewegungen wiederherzustellen.
Abgesehen davon gibt es völlig unterschiedliche Dynamiken. Faschisten wollen den neuen Menschen kreieren. Religiöse Fundamentalisten wollen die Leute mit zurück in eine «goldene Zeit», wie das islamische Kalifat unter Mohammed, nehmen. Das ist nicht gerade ähnlich.
Außerdem sollte man mit dem Begriff vorsichtig sein, denn er wird oft nur benutzt, um eine Organisation zu kriminalisieren und anzudeuten, dass man sie bekämpfen kann, indem man sie verbietet. Ein Beispiel wären Organisationen aus der ehemaligen stalinistischen linken, die ihr Bündnis mit autoritären Regimen mit dem Kampf gegen die «faschistische» Muslimbruderschaft begründeten. Das Ergebnis war am Ende, dass der demokratische Raum für Alle geschlossen wurde. Die islamisch-fundamentalistischen Kräfte litten ziemlich unter der Repression aber letztendlich auch die Linken. Zuletzt sah man das mit al-Sisi. Manche Linke unterstützten seinen Kampf gegen die Muslimbrüder, am Ende hat er aber alle unterdrückt.
Zudem gibt es noch das, was ich als Bourgeoisiefizierung der «gradualistischen» islamisch-fundamentalistischen Bewegung bezeichne. Das Phänomen also, dass Kapitalisten eine zunehmende Rolle in den Organisationen spielen. Es gibt also viele relevante Unterschiede. Und wenn man sie nicht richtig analysiert, dann kann man sie auch nicht bekämpfen. Man sollte also das Recht von Allen, außer den Faschisten, auf Organisierung verteidigen. Das heißt auch, dass wir die Rechte der Mitglieder der Muslimbruderschaft, die heute in Ägypten aufgrund ihrer politischen Aktivitäten oder Mitgliedschaft im Gefängnis sitzen, verteidigen sollten. Wir müssen die Freilassung aller politischen Gefangenen fordern!
Libanesische Politik ist immer noch stark von Konfessionalismus[iii] geprägt. Kannst du kurz beschreiben, was das heißt und was die Position der Hisbollah dazu ist?
Konfessionalismus hat seine Wurzeln Mitte des 19. Jahrhunderts. Er war ein Konsens lokaler Eliten und imperialer Mächte. Es ist sehr wichtig, Konfessionalismus als Produkt der Moderne zu verstehen und nicht als etwas, das schon immer da war oder dass Anhänger bestimmter Konfessionen automatisch zu bestimmten Parteien gehören. Hisbollahs Position zum Konfessionalismus hat sich über die Zeit verändert. In den 80ern hat sie ihn noch verurteilt, mit der Aussage, dass das System maronitisch[iv] dominiert wäre. Als Lösung favorisierten sie die Etablierung eines islamischen Staates. Letztere Position haben sie bis heute beibehalten. Sie sagen aber, dass sie ihn den Leuten nicht aufzwängen werden. Wohlwissend, dass dies aufgrund der Demographie des Libanons ohne Gewalt nicht möglich wäre. Ein Drittel ist christlich, ein Drittel sunnitisch und ein Drittel schiitisch. Und nicht alle Schiiten wollen in einem islamischen Staat nach dem Modell des Iran leben.
Heute sagen sie also: «Auch wenn es Fehler hat unterstützen wir das konfessionelle System so wie es ist. Wir sollten es zwar reformieren aber auch hierin nichts überstürzen» Aber immer wenn es dann eine Bewegung von unten gab, die das konfessionelle System herausgefordert hat, war die Hisbollah ihr feindlich gesinnt. Tatsächlich ist die Hisbollah einer der Hauptprofiteure und Verteidiger des konfessionellen Systems geworden.
Warum war es für die Linke in der Vergangenheit wichtig, das konfessionelle System zu bekämpfen, und wie sah das Verhältnis zwischen ihr und dem System aus?
Die konfessionelle Repräsentation macht es sehr schwierig für alle progressiven Kräfte. Soll man sich daran beteiligen? Jedes Mal, wenn es eine konfessionsübergreifende Bewegung von unten gab, wurde sie von den konfessionellen Eliten zerschlagen, weil sie eine Bedrohung für sie darstellte. Die Frage ist heute also eher, anstatt, wie verhält man sich innerhalb dieses Systems, wie schafft man es, eine Massenbewegung aufzubauen, die dieses System herausfordert? Die kommunistische Partei beteiligt sich an den Wahlen. Wenn sie es schaffen, dass jemand gewählt wird, wäre das sehr gut, um das konfessionelle System auch aus dem Parlament heraus anzugehen.
Durch eigene kollektive Erfahrungen können Menschen Konfessionalismus, Rassismus und ähnliche repressive Ideen durchbrechen. Wir brauchen daher eine große Bewegung von unten!
Aber du würdest sagen, dass der einzige Weg, das konfessionelle System abzuschaffen, eine überkonfessionelle Bewegung von unten ist?
Ja, und um ein Beispiel zu geben: Jedes Mal, wenn es eine Bewegung von unten gab - und 2011 ist das beste Beispiel - werden Mauern aus Angst durch gemeinsame Erfahrungen durchbrochen. Erinnerst du dich an den Tahrir-Platz, als Christen Muslime beim Beten beschützten und umgekehrt? Zu Beginn des syrischen Aufstandes gab es Leute, die «Alawiten und Muslime, wir sind eins», «Christen und Muslime, wir sind eins», «Kurden und Araber, wir sind eins», riefen. Durch gemeinsame Erfahrungen und Kämpfe können Menschen Konfessionalismus, Rassismus und ähnliche repressive Ideen durchbrechen. Die Schwächung und Repression der Bewegungen brachte im Gegenzug eine Stärkung von Konfessionalismus und autoritären Vorstellungen. Wir brauchen also eine große Bewegung von unten. Warum nutzten Regime in Saudi-Arabien, Katar, Iran und Syrien, Konfessionalismus so häufig als Mittel der Konterrevolution? Weil es eine sehr wichtige Waffe ist, um die Einheit der Leute zu brechen und sie von sozioökonomischen und demokratischen Forderungen abzubringen.
In deinem Buch zeigst du auf, dass es innerhalb der libanesischen Linken eine Debatte über das Konzept «Community Class» gab, demnach es eine herrschende und eine beherrschte Konfession gibt, weshalb man als Linke ebenfalls konfessionalistische Politik betreiben dürfe.
Das Konzept von «Community Class» entstand in einer Organisation, die «Communist Action Organisation»[v] hieß. Es setzt Klasse mit einer bestimmten Konfession gleich: christliche Bourgeoisie, sunnitische Mittelschicht und schiitische Arbeiterschicht. In einem Kontext, in dem die Bourgeoisie mithilfe von Konfessionalismus versucht ihre Interessen durchzusetzen, war das katastrophal. Es hat konfessionelle Spannungen nur verstärkt. Es ist egal, ob du ein christlicher Arbeiter bist, du bist ein Verräter, weil du zur Bourgeoisie gehörst. Es gab sogar Massaker, die von progressiven Bewegungen an Christen verübt wurden. Wenn du nicht mit den Mitteln, mit denen die Bourgeoisie deine Gesellschaft beherrscht, brichst, sondern sie sogar verstärkst, ist das katastrophal. Die Idee hatte ein bisschen Einfluss, heute würde aber niemand mehr sie offen verteidigen.
Du erwähntest gerade die Bewegungen von 2011. Auch bei den libanesischen Kommunalwahlen 2016 hat eine große Anzahl nicht mehr für die klassischen konfessionellen Parteien gestimmt, die kommunistische Partei gewann einige Städte der Hisbollah. Im Irak gibt es eine überkonfessionelle arabisch-kurdische Antikorruptionsbewegung. Würdest du sagen, es gibt eine neue Generation, die keine Lust mehr auf konfessionelle Politik hat?
Zuallererst sollten wir nicht vergessen, dass wir im Nahen Osten sehr schwere Zeiten erleben, aber wie du gesagt hast, sind die Bedingungen, die die Bewegungen erzeugt haben, immer noch da. Darin liegt Hoffnung. Und darin, dass die Parteien, seien sie mit autoritären Regimen verbunden oder islamisch-fundamentalistische Kräfte, keine Antworten auf die Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Demokratie, Emanzipation und Befreiung haben, weil sie die beiden Seiten der Konterrevolution sind. Was wir im Libanon mit der «You stink!»-Kampagne oder der unabhängigen Wahlliste «Beirut Medinati» gesehen haben, war sehr interessant. Das im Irak war fantastisch, eine großartige Bewegung, und es gibt bis heute immer noch kleinere Bewegungen, die damit verbunden sind. Marokko erlebt heute riesige Bewegungen, wo es wieder diese Kombination aus Forderungen nach Demokratie, Freiheit, aber auch einer nationalen Frage gibt. Die Amazigh[vi], immer noch unterdrückt, fordern ihre Identität und ihre Rechte ein. Also, es ist noch nicht alles zu Ende, aber wir müssen aus unseren Fehlern lernen, um sie nicht zu wiederholen. Wir müssen uns auf vielfältige Weisen gegen die zwei Seiten der Konterrevolution organisieren, um den Leuten eine wirkliche Alternative anzubieten. Das bedeutet aber auch, sich als Massenbewegung zu organisieren, um eine wirkliche Alternative anzubieten, nicht nur eine kleine.
Joseph Daher ist ein syrisch-schweizerischer Wissenschaftler, Aktivist und Gründer des Blogs «Syria Freedom Forever». Auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung war er gerade in Berlin um über sein neues Buch «Hezbollah – The Political Economy of Lebanon’s Party of God» zu reden.
[i] Gradualistisch meint hier diejenigen islamisch-fundamentalistischen Bewegungen, deren Strategie eine allmähliche politische Veränderung eines Landes in Richtung eines islamischen Staates ist, in Abgrenzung zu z.B. jihadistischen Gruppen.
[ii] Mit bürgerlichem Namen «Hassan Hamdan» wird auch der «arabische Gramsci» genannt. Er war einer der einflussreichsten kommunistischen Denker der Region und Mitglied der Kommunistischen Partei des Libanons. Er wurde 1987 von islamischen Fundamentalisten ermordet.
[iii] Konfessionalismus (eng.: sectarianism) ist ein Herrschaftssystem, in dem, anders als im klassischen bürgerlichen Staat, das Verhältnis zum Staat vermittels der Religion oder der Ethnie verläuft. Jede Interaktion mit dem Staat, zum Beispiel Wählen, tut man nicht als Individuum, sondern als Christ, Sunnit usw. Der Staat geriert sich hier als Erhalter eines prekären Machtgleichgewichts zwischen verschiedenen (religiösen, ethnischen) Gruppen. Im Libanon muss, zum Beispiel, ein bestimmter staatlicher Posten immer einer bestimmten konfessionellen Gruppe entstammen.
[iv] Eine christliche Konfession.
[v] منظمة العمل الشيوعي
[vi] Auch «Berber» genannt, dies ist aber keine Eigenbezeichnung.