Die Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev zum Verhältnis von Klasse und Rassismus und zu den Aufgaben und Perspektiven linker Migrationspolitik.
Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragte unser Autor Günter Piening Anfang 2017 zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen.
Mit dem Interview mit Manuela Bojadžijev schließen wir die Gesprächsreihe. Eine gedruckte Publikation der Gespräche ist zu einem späteren Zeitpunkt geplant.
Günter Piening: Mehr denn je werden die Fragen der Produktion von gesellschaftlichen Aus- und Einschlüssen unter dem Label «Migration» verhandelt und entlang dieser Konflikte bilden sich die politischen Lager. Sollten wir nicht aufhören, von «linker Migrationspolitik» zu reden? Es geht doch um Grundfragen der Gesellschaftspolitik.
Manuela Bojadžijev: Im Rahmen einer über Monate systematisch geführten gemeinsamen Diskussion zu den Engpässen kritischer Migrationsforschung im Labor Migration des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität haben wir diese Forderung nach einer solchen Verschiebung in die Formel «Entmigrantisierung der Migrationsforschung und Migrantisierung der Gesellschaftsforschung» übersetzt. Dieser seit 20 Jahren überfällige Perspektivenwechsel gilt nicht nur für die Forschung.
Aber geändert hat sich wenig. Gedacht wird immer noch in Kategorien wie «Innen» und «Außen», in national verfasstem Raum mit einer bestimmten mehrheitlich nationalen Bevölkerung. Die Regeln zur Einwanderung und zur Staatsbürgerschaft sichern diesen Raum durch Ausschluss und bringen ein grundlegendes undemokratisches Moment in unsere Gesellschaften. Wenn wir wollen, dass unsere Gesellschaften Demokratien sind, werden wir Abschied nehmen müssen von der Vorstellung einer homogenen Bevölkerung, in die hinein etwas integriert wird.
Demokratisierung heißt schneller Zugang zu Rechten
Das betrifft zum einen das Grenzregime. Es ist politisch sehr ergiebig, Grenze als differenzierte und differenzierende Institution zu sehen. Grenze ist nicht nur «außen» an Rändern, sondern überall, wo im Zusammenhang mit Einwanderung Rechte zugewiesen werden – in den Kontrollen auf den Bahnhöfen, auf der Ausländerbehörde, aber eben auch in Bezug auf die Zugänge zum segmentierten und transnationalen Arbeitsmarkt. Wie und nach welchen Regeln diese umfassende Institution «Grenze» arbeitet, muss in den demokratischen Entscheidungsprozess zurückgeführt werden.
Demokratisierung in diesem umfassenden Sinne heißt vor allem auch, dass die Leute schnell über alle Rechte verfügen müssen, dass wir Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheit umorganisieren, damit die, die kommen, daran schnell teilhaben können.
Zentrales Anliegen linker «Migrationspolitik» sollte es also sein, die unter dem Abschottungsparadigma autoritär gewordenen europäischen Demokratien demokratisch zu erneuern.
Derzeit scheinen aber eher autoritäre Antworten auf die europäische Krise beim Wahlvolk beliebt zu sein. Macht die Linke etwas falsch?
Die Linke stellt sich, selbst dort, wo sie nicht glaubt, den Abschottungspolitiken das Wort reden zu müssen, den mit Fragen der globalen Migration verbundenen Verschiebungen unzureichend. Man hat keinen positiven Entwurf. Man hat eine humanistische Haltung oder eine naive, oder eine, die der politischen Situation ausweicht, oder eine utopistisch radikale Position. Aber es fehlt an konkreten positiven Positionen und den Bildern, den Narrativen, die das erläutern.
Stattdessen haben manchmal linke und rechte Argumente eine ähnliche Grundierung, besonders wenn es um die Thematisierung von Migration und Sozialstaat geht ...
Ja, leider. Ich halte das für eine fatale Strategie. Aber neben einer rein strategisch oder taktischen Bewertung im politischen Feld spielen auch kulturelle Fragen der Organisierung eine Rolle. Wer sind Linke? An wen treten sie heran? Wem hören sie aktiv zu? Welche sozialen Welten kennen sie? Jenseits des proklamatorischen Internationalismus gibt es hier manchmal erschütternde Antworten.
Das ist übrigens ein Phänomen, das weit über die Linke hinaus geht. Leider wissen wir bislang viel zu wenig darüber, in welchem Maße wir es mit kulturellen und sozialen Segregationen zu tun haben. Das hat auch viel damit zu tun, dass die oftmals alten Institutionen der Arbeiterschaft immer noch als national gedacht werden.
Die Linke muss ein anderes Koordinatensystem entwickeln
Besonders folgenreich ist, wenn von Linken die Aufnahme von Geflüchteten als eine Überforderung der unterprivilegierten deutschen Bevölkerung gesehen wird. Erstens ist das empirisch jenseits aller Realität, denn Armut in Deutschland ist migrantisch. Strategisch landet man also im Niemandsland, denn wer sagt, er oder sie vertritt die Unterprivilegierten und verschätzt sich völlig, wer das ist, der spricht niemanden an. Es hat aber auch massive Auswirkungen auf die migrantische Bevölkerung. Der Rassismus in der deutschen Politik und die Erfahrung, dass sie nicht vertreten werden, stärken auch dort autoritäre Strukturen. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft, und da von einer deutschen Bevölkerung auszugehen, ist kontrafaktisch. D.h. Linke Politik muss ein anderes Koordinatensystem entwickeln.
Wie wäre in diesem anderen Koordinatensystem der Zusammenhang von sozialer Frage und Rassismus, von Klasse und Rassifizierung so zu entwickeln, dass er Ausgangspunkt für tragfähige linke Politiken sein kann?
Klassenpolitik wird zu einer Art Identitätspolitik für Deutsche umgedeutet
Das ist eigentlich ganz leicht erklärt. Diese Argumente sind schon seit einer Ewigkeit verfügbar, auch wenn sie selbstverständlich stets aktualisiert werden müssen. Sie werden aber ignoriert, vergessen, nicht priorisiert etc. Die Zusammenhänge lassen sich zum Beispiel beim Soziologen W. E. B. Du Bois nachlesen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es seine Studien zur Situation der Schwarzen in den USA. Seine und auch die Überlegungen anderer sind seitdem immer wieder erneuert worden – in allen Bewegungen, die sich gegen Rassismus zur Wehr gesetzt haben und die einen Sinn für seine strukturelle Dimension entwickelten.
Rassismus wird viel zu häufig allein als gesellschaftliche Differenzkategorie betrachtet und von der strukturellen Ungleichheit unserer Wirtschaftsweise getrennt. Diese Ungleichheit versteht man aber gar nicht, wenn man nicht Rassismus als ihr integrales Element nachzeichnet.
Narrative der Ungleichheit
Wenn wir die Narrative dieser Ungleichheit aktuell verfolgen, ob in populären Kulturen oder linken Analysen und Theorien, so wird diese Geschichte als eine «der Deutschen» erzählt, was sich wahr anfühlt, auch wenn es jenseits der Fakten liegt. Es geht mir hier zunächst um Selbstverständlichkeiten, um einfache demographische Tatsachen. Ein Beispiel: Wenn wir in manchen Städten Deutschlands einen Anteil von über 50 Prozent Kindern mit Migrationshintergrund in den Schulen finden und denen etwas von Integration und Interkultur erzählen, dann erzählen wir dem mehrheitlichen Teil der Schülerinnen und Schüler, dass sie erst später dazu gehören werden, wenn man sie integriert hat oder wenn sie sich angepasst haben. Und das ist noch das bessere Narrativ – wir haben ja auch die Rede über die «Umvolkung» wieder hören müssen. Wem das nicht absurd scheint, ist nicht von dieser Welt bzw. lebt in Welten, die von Segregation gekennzeichnet sind. Nun wird dieses Narrativ von «den Deutschen» und der Ungleichheit gegenwärtig weiter ausgeschmückt mit Geschichten über Verluste (im Einkommen, im Zugang zu Bildung und Wohnraum etc.). Und damit kein Missverständnis entsteht: Es handelt sich um reale Verluste, an denen kein Zweifel besteht. Nur beruhten die Rechte und Vorteile immer schon auf dem graduellen Ausschluss der Anderen oder ihrer Niedrigstellung. Und die Verluste jener Niedriggestellten finden keine Erwähnung. Um es mal theoretischer zu sagen: Klasse ist keine neutrale Operation eines marktförmig organisierten Ortes, sondern im durchdringenden Sinne eine politische Operation, die eine Rassialisierung der Klassen provoziert. In dem besagten Narrativ wird Klassenpolitik – also die Parteinahme der Unterworfenen – zu einer besonderen Art der Identitätspolitik (für Deutsche) umgedeutet, statt als Politik gegen Ausbeutung. Eine solche Klassenanalyse, die nicht alle Arbeitenden und ihre heterogene Struktur, die Ergebnis der strukturellen Ungleichheit ist, berücksichtigt, stellt dann – man muss es mal so drastisch sagen – ein Zeugnis für eine von rassistischen Begründungsmustern durchzogenen Analyse oder Politik dar. Deshalb ist die Geschichte der Rassifizierung, und was sie für unsere Gegenwart bedeutet, so relevant, denn sie umfasst die Arbeitenden, die ausgeschlossen wurden und jene, die zurückbleiben. Sie hat eine größere nicht eine kleinere Reichweite, denn es handelt sich nicht um eine parteiliche Identitätspolitik.
Machen wir es praktisch. Sie haben eine vielbeachtete Untersuchung über die Streiks der Gastarbeiter*innen vorgelegt*. Wie entstand damals Solidarität, und wie ist es heute?
Es handelt sich immer um ähnliche Figuren. Diejenigen, die von Ausbeutung und Unterdrückung besonders betroffen sind, sind auch diejenigen, die Gesten der Kooperation und der Solidarität aufbringen müssen. Auslösend für solidarische Aktionen seit den 1960er Jahren war stets die Geste der migrierten gegenüber den deutschen Arbeitenden. Nur wenn sie hartnäckig soziale, kulturelle, politische Grenzen überbrückten, konnten die Projekte erfolgreich sein. Das ist ungerecht, weil diejenigen, denen es sowieso schon schlecht geht, diejenigen sind, denen eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung zukommt.
Solidarität in Zeiten logistischer Netzwerke
Heute ist es allerdings viel heterogener. Produktionsprozesse (und selbst Reproduktionsprozesse) organisieren sich, digital vermittelt, mehr und mehr in Form von logistischen Netzwerken über Raum und Zeit hinweg. Dieser Logistifizierung unseres Lebens wird auch die mobile Arbeit unterworfen. Subalterne können auf ganz neue Weise für nur kurze Zeit an einem bestimmten Ort eingesetzt, dann wieder obsolet werden. Deshalb hat uns in den letzten Jahren interessiert, wie auch die Art und Weise, in der Migrant*innen ihre Mobilität und ihre praktische Integration in den manchmal recht mobilen Alltag organisieren, unter Berücksichtigung logistifizierter Praktiken gedacht werden kann. Stichworte wären hier der Einsatz von sozialen Netzwerken, aber auch die Rolle digitaler Endgeräte bei der Organisierung von Mobilität, von Widerstandspraktiken – beim Finden solidarischer Unterstützung bei der Suche nach Wohnraum und Arbeit, in der Versorgung durch Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen, im Zugang zum Transport und zu Sprache.
Was bleibt also von der viel beschworenen konstitutiven, die Gesellschaft demokratisierenden «Macht der Migration»?
Migration macht kenntlich, was sich nicht subsumieren lässt unter die gegenwärtige Ordnung im Sinne eines national verfassten Staates. Migration stellt die kritische Nachfrage in dem Sinne, wie sie diese Ordnung herausfordert. Migration – nicht die Gruppe «die Migranten» – können wir uns in gewisser Weise als Form der Häresie dieser Ordnung vorstellen, weshalb sie auch so viel Gegenmacht hervorruft. Sie setzt demokratische Grundfragen auf die Agenda, Fragen der Bürgerschaft, des Ausschlusses, der Teilhabe, und nicht nur in Bezug auf Rechte. In diesem Sinne habe ich sie als Seismograph demokratischer Zustände bezeichnet.
Das andere ist die Frage der Rolle der mobilen Arbeit. Kann die Arbeitskraft komplett subsumiert werden? Ist Flucht aus der Arbeit ein Akt der Subjektivierung? Und wie verstehen wir das heute unter veränderten Bedingungen einer stark finanzialisierten Ökonomie, dem Ausbau logistischer Produktions- und Distributions-Netzwerke und einer Governance-Struktur der Politik. Migration ist ein Effekt dieser globalisierenden Effekte, sie folgt darauf – und geht ihnen voraus. In jedem Fall aber ist es unvorstellbar, dass wir sie zum Stillstand bringen oder wirklich lenken könnten. Es geht nicht nur um die Bedeutung der Flucht aus bestimmten Produktionsverhältnissen, sondern auch um Fragen der täglichen Organisierung derjenigen Arbeiter*innen, die aufgrund rechtlicher Titel unter anderen Bedingungen arbeiten müssen als andere.
Die Frage der Arbeit wird neu gestellt
Wer über Migration redet, wird selbstverständlich auch die Frage der Arbeit wieder neu stellen müssen. Und wird das nicht nur beim Stichwort «offene Grenzen» und den Gefahren der Unterschichtung des Arbeitsmarktes mitdenken, sondern auch etwa bei der Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von Leben und Arbeit, d.h. bei der Frage, was wir noch oder alles als bezahlte Arbeit definieren. Und wie wir die Rechte derer sichern, die keinen Zugang dazu haben oder nur in «bullshit jobs» gezwungen werden, die vorwiegend der Ausübung von autoritären und disziplinierenden Maßnahmen dienen – Stichwort wäre hier etwa das bedingungslose Grundeinkommen. Unter diesen Bedingungen ist Demokratie nicht national zu denken. Den Menschen alle bürgerlichen und sozialen Rechte gewähren, damit sie hier leben können, das erfordert eine neue demokratische Vergesellschaftungsform.
Bedingungsloses Grundeinkommen, Demokratisierung der Grenzen, schneller Zugang zu Staatsbürgerschaft und sozialen Rechten – das wäre in der Tat eine Gesellschaft, die den Namen «demokratisch» verdient. Aber verträgt der Kapitalismus soviel Teilhabe und soviel Demokratie?
Das wird es an das Eingemachte gehen. Über die damit verbundene Aushandlung politischer und sozialer Rechte würde auch die Frage nach Gerechtigkeit neu gestellt werden. Damit wird es grundsätzlicher. Die Wahrheit ist wohl, dass dieser Prozess auch die Frage des Privateigentums nach sich zieht. Aber auch diese Diskussion hatten wir bereits in den letzten Jahren, als über das Aufkommen digitaler Plattformen die Frage des «Teilens» neu gestellt wurde. Inzwischen sind die Hoffnungen diesbezüglich weitgehend verflogen und man spricht vom «Plattformkapitalismus». Das Thema ist sicher da – und neue Mittel auch.
(Das Interview fand statt am 21.2.2017.)
Manuela Bojadžijev ist Juniorprofessorin für Globalisierte Kulturen an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg und Beauftragte des BIM-Vorstands für internationale Kooperationen; hier auch Mitglied der Abteilung „Integration, soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile“. Sie gehört zu den Initiator*innen von Kanak Attak. Migrantische Kämpfe sind seit jeher Schwerpunkt ihres Forschungsinteresses. Aktuell konzentriert sie sich auf die Frage, wie die heterogenen Akteur*innen der Arbeitsmigration den infrastrukturellen Ausbau und die logistische Reorganisation des europäischen Grenzregimes beeinflussen.
*Bojadžijev, Manuela, Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster 2008.