Liebe Leserin, lieber Leser,
auch wir müssen zugeben, uns im Jahr 2016 in einigen Fällen gravierend geirrt zu haben. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben wir nicht erwartet, auch wenn wir die Gefahren seines populistisch-autoritären Programms und die beträchtlichen Schwächen der Kandidatur Hillary Clintons einschätzen konnten, nicht zuletzt dank der Expertise unseres New Yorker Büros. Gesellschaftsanalyse und politische Bildung, wie unsere Stiftung im Unternamen heißt, können fehlgehen. Sie sind aber notwendiger denn je. Denn ohne saubere Analysen sind erfolgversprechende Antworten kaum möglich. Sicherlich reicht es nicht, wie Karl Marx formulierte, die Welt nur unterschiedlich zu interpretieren. Doch sind in diffusen Umbruchphasen wie der jetzigen Deutungen und Einordnungsversuche keineswegs «l’art pour l’art», sondern notwendig, um die Dimension der Umbrüche und Krisen erfassen zu können. Ohne ein solches Erfassen sind seriöse, demokratisch geführte Kontroversen um Krisenursachen und gesellschaftliche und globale Lösungsstrategien ebenso wenig möglich wie angemessene linke Reaktionen auf Nationalismus, Autoritarismus und Rassismus. Gesellschaftsanalyse und politische Bildung allein lösen keine gesellschaftlichen Probleme, sie können aber dabei, wenn sie nicht als kurzfristiger, hektischer Reparaturmechanismus missverstanden werden, wichtige Unterstützung leisten. Dazu gehören auch ganz klassische Aufgaben wie kritische Aufklärung und Informationen, die hinterfragt werden können und zur Debatte einladen, sich jedoch deutlich von geschlossenen und letztlich autoritären Weltbildern abgrenzen, wie sie mit Begriffen wie «Lügenpresse» und «fake news» verbunden werden. Insofern ist es durchaus relevant, wie wir zum Beispiel die politische Richtung einschätzen, die Donald Trump verkörpert. Handelt es sich um eine autoritäre Variante des Neoliberalismus, um einen autoritären Rechtskeynesianismus, ist es ein Rechtspopulismus, wie viele der Strömungen der letzten Jahre genannt werden? Solche Fragen sind wichtig für Aufklärung und politische Bildung, denn viele Reaktionen auf die bedrohlichen und oftmals chaotischen Entwicklungen in der Welt schwanken zwischen undifferenzierter Verallgemeinerung und hilfloser Schwammigkeit.
Nicht nur die Wahl Donald Trumps, auch weitere Erfolge autoritär- populistischer Strömungen prägten die letzten beiden Jahre in vielen Ländern. Zu nennen ist etwa das EU-Referendum 2016 in Großbritannien. Der Dämpfer, den die Konservativen unter Theresa May bei den Unterhauswahlen ein Jahr später erlebten, hebt den Brexit nicht grundsätzlich auf, was im Übrigen demokratisch auch nicht zu legitimieren wäre und die diffuse Wut auf «das Establishment» nur verstärken würde. Sicherlich gibt es erfreuliche Anzeichen, dass ein weiterer Anstieg dieser antidemokratischen Kräfte zunächst gestoppt werden konnte, so in Frankreich, den Niederlanden oder zuletzt in Großbritannien, wo die rechte UKIP abstürzte. Aus unserer Sicht waren es uneingeschränkt gute Nachrichten, dass weder Norbert Hofer noch Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Österreich und Frankreich gewannen und Geert Wilders Ein- Mann-Partei nicht die stärkste Kraft in den Niederlanden wurde. Doch ist damit weder die Gefahr durch rechtspopulistische und nationalistisch-autoritäre Parteien gebannt, noch ist der gesellschaftliche Nährboden dieser Parteien verschwunden. Vielmehr zeigt die Erleichterung eines Teils der Publizistik und Politik über die Wahlergebnisse in Österreich, den Niederlanden, in Deutschland und Frankreich auch, wie erschreckend stark wir uns an Erfolge einer – heterogenen – antidemokratischen Rechten in Europa gewöhnt haben. Darüber hinaus verheißen die politischen Ansätze von Mark Rutte oder Emmanuel Macron in Bezug auf soziale Gerechtigkeit als für uns sowohl unerlässlichem Bestandteil wie Voraussetzung einer stabilen liberalen Demokratie wenig Gutes.
Die Liste bedrohlicher Entwicklungen lässt sich leider verlängern. Als Rosa-Luxemburg-Stiftung berühren uns die Ereignisse in Brasilien, wo in einer Art kaltem Putsch eine demokratisch gewählte linke Präsidentin aus dem Amt gedrängt wurde und das Land in eine immer tiefere soziale, wirtschaftliche und demokratische Krise gerät, ebenso stark wie die autoritäre Entwicklung in der Türkei unter Präsident Erdoğan, der unendlich blutige Krieg in Syrien oder die Opfer terroristischer Gewalt in Frankreich, Belgien, Großbritannien, der Türkei, dem Irak und vielen anderen Ländern.
Gleichzeitig zeichnen sich aber auch ermutigende Entwicklungen ab, so die Teilerfolge der Kampagnen von Bernie Sanders in den USA, der britischen Labour Party unter Jeremy Corbyn, der Unidos Podemos in Spanien und der Präsidentschaftskandidatur von Jean-Luc Mélenchon in Frankreich, in denen Ansätze einer Verbindung bewahrenswerter Organisationen und Traditionslinien mit neueren Akteurinnen und Akteuren sowie Organisierungsformen erkennbar werden. Ermutigend sind auch die starken Zeichen der Solidarität, wie etwa mit Geflüchteten in Deutschland und anderen europäischen Ländern, mit von Repressionen betroffenen Menschen aus der Türkei oder dem «Women’s March» in den USA. Diese Strömungen sowohl beobachtend zu begleiten als auch ermutigend zu unterstützen, ohne sie vereinnahmen zu wollen, sehen wir als eine wichtige Aufgabe der Rosa-Luxemburg-Stiftung an.
Genauso zentral ist auch der Beitrag, den unsere Stiftung für neue Formen verbindender Konzeptionen und politischer Praxen leisten will. «Neue Klassenpolitik» und «neuer (oder verbindender) Feminismus» sind dabei aktuell diskutierte Begriffe. Es geht dabei darum, einen alten Ausgangspunkt sozialistischer Politik neu zu beleben, in dem alle Unterdrückungsverhältnisse und Ausgrenzungsformen zu überwinden sind, solche von wirtschaftlich-sozialer Benachteiligung und Ausbeutung ebenso wie solche durch Rassismus und vielfältige Diskriminierungen. Dabei kann es nicht darum gehen, bestehende Widersprüche zu verschleiern; Menschen können in manchen Lebensbereichen begünstigt und in anderen gleichzeitig gravierend benachteiligt sein. Es geht auch nicht darum, das Recht auf Selbstvergewisserung, Eigenständigkeit, Selbstorganisation und Repräsentanz zu kritisieren. Vielmehr muss es das Bestreben einer demokratisch-sozialistischen Politik sein, verbindende Ziele und Formen feministischer, antirassistischer, «migrantischer» und sozial-ökonomischer «Klassenpolitik » gegenüber identitär-partikularen zu stärken. Dies schließt ein, Respekt und Gehör für diejenigen wiederzufinden, die sich von einer liberalen Globalisierungselite ebenso im Stich gelassen fühlen wie von Teilen einer ihnen kulturell fremden urbanen Linken. Wir knüpfen dabei an die lebhaften Debatten um und mit Owen Jones, Didier Eribon, Oliver Nachtwey, Laurie Penny und anderen an.
Der – zunehmend weniger liberale – globalisierte Kapitalismus steckt in einer tiefen Krise und gefährdet dadurch langfristig die Grundlagen der Demokratie ebenso wie eine friedliche internationale Entwicklung. Die Verteidigung der demokratischen Verfasstheit ist eine Selbstverständlichkeit in unserem Handeln, doch glauben wir, dass es einer weiterreichenden nationalen, europäischen und vor allem internationalistischen Perspektive von sozialer Gerechtigkeit und umfassender Gleichheit bedarf. Die Beschäftigung mit Karl Marx, dessen 200. Geburtstag im kommenden Jahr einen großen Raum nicht nur in unserer Arbeit einnehmen wird, mit den revolutionären Ereignissen der Jahre 1917 bis 1919 und mit unserer Namensgeberin Rosa Luxemburg, deren Ermordung sich 2019 zum hundertsten Male jährt, steht in unserer Arbeit in diesem Kontext – nicht ausschließlich als Betrachtung abgeschlossener Epochen, sondern als Anregung für eine den gegenwärtigen Kapitalismus überwindende, demokratisch-sozialistische Perspektive.
Dagmar Enkelmann und Florian Weis
Inhalt
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