Herbst 1998, Tokio: Der Anzeigenraum vom Bahnhof Shibuya in Tokio wird besonders prominent durch das Technologie-Unternehmen Sony bespielt – auf ziemlich überraschende Weise: Auf Augenhöhe hängen allenthalben vertikal angeordnete Reisepässe. Beim Vorbeigehen, also bei einer leichten Veränderung des Sehwinkels weg vom Tunnelblick der treibenden Masse hin zur Seite, wo die Anzeigen hängen, geben sich die Reisepässe als kleine Digitalkameras, genannt Handycams zu erkennen.
Die für die Erfindung des Walkmans weltweit bekannte Firma hat mit großem Aufwand Wackelbilder im Stadtraum Tokios installiert, die beides zugleich zeigen können: einen Reisepass und eine Handycam. An einem Bahnsteig des verwinkelten Shibuya-Bahnhofs sind diese Wackelbilder zu einer langen Reihe angeordnet. Aus dem Nichts tauchen auf dem Werbemotiv Hände auf, die die Reisepass-/Handycam-Wackelbilder hochhalten; teils überrascht, teils erfreut blicken unterschiedliche Leute in sie hinein, darunter ein junger Schwarzer, eine junge Frau mit blonden Haaren, ein älterer Herr und eine Stewardess, die eine Kaffeekanne in der Hand hält. Erst aus einer gewissen Entfernung kann man erkennen, dass sich all diese Leute in einer Boeing der Airline «Handycam» befinden, auf deren Rumpf der Slogan geschrieben steht: «Wenn Du es bei Dir trägst, ist es das weltkleinste! Wenn Du eine Auslandsreise machst, ist es Reisepass-groß!»
Hier deutet sich eine dramatische Transformation an: Staatsangehörigkeit und Netzwerkangehörigkeit, also die Tatsache, dass unser Leben zusehends von IT-Anbietern abhängt, werden ununterscheidbar.
20 Jahre später kommt ein fliegender Foto-Apparat auf den Markt, der den Namen Passport trägt. Die Vorstellung, aus der Vogelperspektive mit einem Gerät zu fotografieren, das die Form und Größe eines Reisepasses hat, nimmt hier eine drastische Wendung: Doch statt eines Flugzeugs wie bei der Sony-Handycam ist es nun eine Drohne. Das Produkt der Firma Hover kostet circa 700 Euro (also ungefähr so viel wie die Handycam damals) und wendet sich an zivile KundInnen. Auf einem der Bilder, die das Produkt schmackhaft machen sollen, ist es so gefaltet wie ein Reisepass. Das schwarze Gehäuse wirkt auch im Grunde nicht viel größer als dieses identitätsstiftende und zur Identifizierung relevante Dokument. Mehr noch, seine Technologie basiert auf der biometrischen Gesichtserkennung des Passbilds. Wie ein Werbetext für das Produkt erklärt: «Just register your face in the app, release and hover, and the device will find, recognize, and automatically lock on, follow, and record you.»
Surveillance vs. Sousveillance
Gadgets wie die Passport-Drohne befeuern das Fantasma eines politischen Subjekts, das qua «Sousveillance» in der Lage ist, gegen die disziplinierende und kontrollierende Allmacht von Staat und Wirtschaft aufzubegehren und damit den allgemeinen Vernetzungszusammenhang in Frage zu stellen – sprich, eine Erfahrung der Welt als «Zirkulation, Interaktion und Information [...], die die Existenzen in ein immer dichteres, immer stärker vernetztes Wechsel- und Abhängigkeitsverhältnis bringt», wie der Philosoph Jean-Luc Nancy den Vernetzungszusammenhang beschreibt.
«Sousveillance» gilt als Kritik an Vorstößen der Politik in Richtung umfassender Überwachung – Surveillance, die seit den Enthüllungen von Edward Snowden häufig als «globale Massenüberwachung» beschrieben wird. Den allgegenwärtigen Kameras in Gebäuden und auf öffentlichen Plätzen (CCTV) als Formen der Überwachung begegnet die «Unterwachung» mit ebenfalls allgegenwärtigen mobilen Kameras in Smartphones, auf Sporthelmen oder in Kraftfahrzeugen (Dashcam). Der Informatiker Steve Mann, der den Begriff der Sousveillance als «watchful vigilance from underneath» (Wachsamkeit von unten) geprägt hat, sieht darin «die Umkehr des gewohnten Überwachungsweges», die wiederum nichts weniger als die Umkehr des Machtverhältnisses sei: Während normalerweise staatliche oder anderweitig privilegierte Institutionen Personen ohne Sonderrechte überwachen, sind es bei Sousveillance die Überwachten, die alles, also auch politische und ökonomische Institutionen, beobachten.
Die Rolle der Infrastruktur
Bei aller Freude über die vermeintlich zurückerkämpfte Autonomie wird häufig übersehen, dass Macht heute weniger eine Frage des Blicks ist, als vielmehr darin kulminiert, was sich dem Blick entzieht: jener Infrastruktur, die – heute als schwer greifbare Cloud mystifiziert – aus materiellen Komponenten besteht, die im Hintergrund des Alltagsgeschehens verschwinden: Kabel und Server im Besitz großer Firmen und Staaten. Als «Hardware des Vernetzungszusammenhangs» ist die Infrastruktur entscheidend für die Bewegungen von Menschen, Gütern, Kapital, Daten und Energie.
Nicht zufällig simulieren viele Szenarien des Cyberwar einen Angriff auf vernetzte Hafenanlagen und Atommeiler, auf den Schienenverkehr der Bahn und den Zahlungsverkehr der Banken, auf die Stromversorgung und auf Raffinerien, die wiederum die Treibstoffversorgung garantieren – und entsprechend auch Angriffe auf Datenzentren und Datenbanken. Letztere sind Angriffsziele militärischer Raubzüge, die neuerdings im Rahmen von strategischen Leaks ausgewertet werden wie zuletzt im US-Wahlkampf, als massenhaft E-Mails der Demokraten an die Öffentlichkeit drangen, mutmaßlich erbeutet durch Blackhat-Hacker aus Russland.
Wie hängen Biometrie, Algorithmen und Digitalisierung mit Staatsbürgerschaft bzw. Staatenlosigkeit zusammen? Die diesjährige Berliner Gazette-Jahreskonferenz FRIENDLY FIRE, die auch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert wird, geht diesen Fragen nach. Fünf internationale Workshops, bei denen man mitmachen kann, erkunden zukunftsweisende Felder des Politischen.
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Insofern kommt es weniger darauf an, wer den Blick auf wen richtet, sondern darauf, wie die beim Sehen akquirierten Daten transportiert und wo sie gesammelt, aufbewahrt und ausgewertet werden. Mögen sich engagierte BürgerInnen die Kamera-Augen aneignen, die sonst auf sie gerichtet sind – gegenwärtig sind die Infrastrukturen, die die meisten Menschen nutzen, um ihre Daten zu verarbeiten und zu verbreiten, in der Hand jener, die die Sousveillance-Bewegung ihrerseits zu überwachen versucht. So gelangen die Daten, die Gadgets wie die Passport-Drohne akquirieren helfen, in die stetig größer werdenden Sammlungen von Global Playern wie Google und NSA. Die «Wachsamkeit von unten» assistiert der «Wachsamkeit von oben» dabei, erkennungsdienstliche Informationen zu sammeln – Informationen, die die «da oben» auf andere Weise möglicherweise gar nicht bekommen hätten.
Statt politischer Emanzipation zeichnet sich bei der Sousveillance also so etwas wie Komplizenschaft ab. Beispielsweise zeigen die durch NSA-Whistleblower Edward Snowden enthüllten Dokumente, dass die NSA die Fähigkeit besitzt, private Fotos zu orten und mit Bildern abzugleichen, die von Spionage-Satelliten aufgenommen worden sind. Die Software, die dazu herangezogen wird, stammt aus dem Hause Google und hört auf den niedlichen Namen «PittPatt».
Macht über Surveillance hinausdenken
Die Fantasmen, die Gadgets wie die Passport-Handycam oder Passport-Drohne befeuern, sind in einer weiteren Hinsicht irreführend. Dreht sich Macht heute tatsächlich um die Frage, alles zu sehen? Surveillance, aber auch die kongeniale Idee des Panoptismus legen das vom Wortsinn her nahe. Macht, so der zu Grunde liegende Gedanke, beansprucht einen elevierten Ort, etwa im Himmel, wo die vielbeschworene «Cloud» über allem schwebt, um von dort aus einen quasi göttlichen Blick auszurichten, der die Welt als Totalität erfasst. Heute kann dieser Punkt überall sein, ohne territoriale Zuordnung. Er kann im Weltall sein, wo ein Satellit hochaufgelöste Aufnahmen einfängt; er kann hochdynamisch über der Erde schwirren wie eine Video-Drohne; er kann sich zusammensetzen aus unzähligen Augen, die, auf dem gesamten Planeten verstreut, optische Daten sammeln – ob im Geiste der Sousveillance oder der Surveillance. Derart beschaffen, speist sich das Wissen der Macht aus einer Datenbank oder über Programme miteinander verknüpfter Datenbanken.
Nehmen wir den US-Drohnenkrieg als Beispiel. Er wird mit Hilfe von Satelliten geführt und kann ohne territoriale Zuordnung als völkerrechtswidriger Krieg von einem Land wie Deutschland aus gesteuert werden (man denke an den Militärflughafen Ramstein als Operationsbasis für US-gesteuerte Drohnenangriffe). Hier stellen visuelle Daten nur eine von vielen Komponenten in einem komplexen Daten-Bouquet dar. Zunehmende Bedeutung haben dabei alle erdenklichen Formen von Bewegungsdaten. Das zeigt sich auch an Operationen, bei denen Drohnen Flüchtende und Schutzsuchende rund um die «Festung Europa» jagen. Aber auch an Gegeninitiativen wie Search Wing, für die Techniker des Chaos Computer Clubs gemeinsam mit der NGO Sea Watch eine nichtkommerzielle Drohne entwickelten, um Menschenleben im Mittelmeer zu retten.
«Vast network of writing»
Es kommt auf die Erfassung von Bewegungen an und darauf zu berechnen, welchen Kurs die Bewegungen in Zukunft nehmen werden. Bewegungsmuster lassen sich nicht allein optisch erfassen. Dafür sind sie zu vielschichtig – wenngleich nicht gesagt ist, dass sie sich nicht für das menschliche Auge visualisieren lassen. Die Daten, die es erlauben, komplexe Bewegungsmuster darzustellen, müssen aus ganz unterschiedlichen Kategorien zusammengetragen werden: Geolokation-, Thermo- und Biometrie-Daten, um nur einige zu nennen. Optische Daten wären hier nur eine Unterkategorie von Bewegungsdaten.
Daher gilt es, eine Verschiebung zu registrieren: von der Macht, «alles zu sehen» hin zu einer Macht, «alle Bewegungen zu steuern». Ersteres hatte die Surveillance (oder ihr Gegenspieler Sousveillance) als eine Art Panoptizismus modelliert – fixiert auf das Sichtbare und für die Augen Erfassbare. Letzteres hat sich in den Polizeitechniken des 18. Jahrhunderts herausgebildet, und zwar als ein «vast network of writing», dass, wie der Philosoph Grégoire Chamayou konstatiert, ein «ensemble of documents and archives» hervorbringt. Heute ist dieses große Netzwerk des Schreibens und Archivierens nichts anderes als das Eingeben/Erfassen von Daten aller Art sowie deren Speichern in transnational verknüpften Datenbanken. All das ist längst nicht mehr darauf ausgerichtet, «alles zu sehen», sondern vielmehr darauf, «alle Bewegungen zu steuern». Anders gesagt: Die Macht im Vernetzungszusammenhang operiert nicht als Auge, sondern als Hirn, das Bewegungen allumfassend steuern will.
Im Zuge dieser Verschiebung gilt es Abschied von der Idee des Überwachungsstaats zu nehmen. Erstens ist der Staat, obwohl ihm ein Monopol auf Surveillance angedichtet wird und er selbst den Anspruch noch immer hegt, nur einer von vielen Playern, die Überwachung betreiben. Zweitens ist Surveillance nur eine unter vielen Macht-Techniken, die der Staat bei seiner nachrichtendienstlichen Arbeit zur Anwendung bringt. Und drittens ist der Staat im Vernetzungszusammenhang nur eine Instanz von vielen, die Bewegungssteuerung und das dazu nötige Datenmanagement betreiben.
Um seine Bedeutung im Vernetzungszusammenhang zu behaupten, weitet der Staat seine Befugnisse und Kapazitäten auf diesem Gebiet aus, etwa durch den Ausbau von Informations- und Geheimdiensten. Ein Symptom dafür ist der Fokus auf Passbilder. Sie sind bekanntlich ein wesentlicher Bestandteil von Personalausweisen und Reisepässen und können spätestens seit der biometrischen Wende als Datensätze begriffen werden. Somit können die Bilder in erster Linie dazu dienen, die ‹Bewegungen dahinter› indizierbar zu machen: Wer sich bewegt, hinterlässt Spuren. Diese Datenspuren können in Datenbanken auf Korrelationen hin untersucht und für Maßnahmen der preemption empfohlen werden, die – etwa von Drohnen durchgeführt – in erster Linie darauf zielen, die Bewegungen einer Person in der Zukunft einzuschränken, zu lenken oder unmöglich zu machen.
All das sind Prozesse, die für das menschliche Auge kaum nachvollziehbar sind, doch am Ende einem Passbild zugeordnet werden können. Nicht zufällig hat die NSA ein Programm, das darauf spezialisiert ist: Ein Werkzeug namens Wellspring durchsucht Online-Kommunikationen nach Reisepass-Fotos, die im Netz landen, weil jemand einen gefundenen Reisepass postet; oder die eigene Selbstdarstellung auf die Spitze treibt; oder einen ID-Handel betreibt; oder in Ermangelung eines besseren Fotos sein Netzwerk-Profil damit ausstattet. Somit erinnert die Biometrisierung des Passbilds an die besagte Verschiebung von «alles sehen» zu «alle Bewegungen steuern» ermöglichen.
Daran lässt sich zweierlei ablesen: Erstens, Netzwerkangehörigkeit und Staatsangehörigkeit werden tendenziell ununterscheidbar. Zweitens, der Vernetzungszusammenhang, der diesen schleichenden Prozess ermöglicht und der sich, um es zu wiederholen, weder durch einen Blick von oben (Surveillance) noch einen Blick von unten (Sousveillance) erfassen lässt, befördert in diesem Kontext immer stärker eine ganz spezifische politische Fiktion. Diese Fiktion hat seit 9/11 mit der Homeland-Security-Kampagne an Bedeutung gewonnen und erlangt nun, unter Rechtspopulisten wie Trump, Erdogan oder Putin, eine neue, gefährliche Aktualität. Sie lässt vor allem zwei unvereinbar scheinende Dinge miteinander kompatibel erscheinen: Die Grenzen sind dicht, der Staat ist souverän, die Nation darf sich an imaginären Herkunftsmythen berauschen; gleichzeitig nimmt das neoliberale Programm weiter an Fahrt auf.