Publikation Arbeit / Gewerkschaften - Digitaler Wandel - Digitalisierung der Arbeit Digitale Mikroarbeit als globaler Wettlauf nach unten

Der Geist des «Mechanischen Türken»

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Autorin

Miranda Hall,

Erschienen

März 2018

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«sEi dEiN eiGeNer chEf.» Zwei Palästinenser Mitte zwanzig lehnen sich lachend über ein iPad: Ihre Augen und ausgefransten Festivalbändchen leuchten neongrün in einem ColourSplash-Filter auf. Ihre Arbeitskleidung ist immer nur das, was sie gerade am Morgen angezogen hatten. Ihr Büro immer genau dort, wo sie gerade ihre Bildschirme angeschaltet haben. Immer wieder tauchen diese Mantras in einer Facebook-Gruppe für Freelance-Aufträge im Westjordanland und dem Gazastreifen auf.

Dahinter steht der Gedanke, dass jeder mithilfe des Internets und ungeachtet der Umstände den Traum aller Millenials leben könne: «Arbeiten wann und wo man will.» In einer Gegend wie Palästina, wo die Arbeitslosenquote 30 Prozent erreicht (höher als im Rest der Welt) und wo die Freizügigkeit durch zahlreiche Checkpoints, Grenzen und Militärzonen gewaltsam beschränkt ist, erscheint das Arbeiten in der «ortslosen» digitalen Welt wie die Überwindung dieser Hindernisse.

Genau diesen Ansatz verfolgt auch «m2Work», ein Projekt der Weltbank in Zusammenarbeit mit Nokia. Es ist eine von vielen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Initiativen, die in der «digitalen Mikroarbeit» ein «riesiges Potenzial» zur Linderung der Armut in der arabischen Welt erkannt haben. Aber die Floskeln der Flexibilität und des Unternehmertums verschleiern einige unangenehme Tatsachen.

Miranda Hall ist freie Journalistin und Aktivistin und arbeitet für die New Economics Foundation. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem technologischen Wandel des Arbeitsmarkts. Der Text erschien auf Englisch in der Zeitschrift Jacobin, übersetzt wurde er von Felix Knoke.

Zwar entwickeln Grassroots-Projekte wie die Gaza Sky Geeks eindrucksvolle Initiativen für digitale Arbeit, die ein höheres emanzipatorisches Potenzial haben. Aber wenn westliche Organisationen wie die Weltbank, die Rockefeller Foundation und multinationale NGOs die Online-Plattformen der Gig-Economy als Allheilmittel für die Probleme von Geflüchteten und Leidtragenden einer Besatzung hinstellen, sollte man deren Motivation hinterfragen. Denn was aus einer technikfokussierten entwicklungspolitischen Sicht als «Befreiung» erscheint, stellt sich für die Arbeiter*innen eher als Ausbeutung dar.

Das Crowdsourcing der Ausbeutung

Am besten verkörpert Amazons Arbeitsplattform «Mechanical Turk» die Mikroarbeit als Schlüssel der neoliberalen Entwicklungsmaßnahmen im Nahen Osten. So schrieb David Golumbia 2015 in Jacobin:

«Der Name (Mechanical Turk) ... ist eine aufschlussreiche Referenz an die Schachautomaten des 18. Jahrhunderts in Europa: Ein Salontrick, bei dem ein kleiner Mensch im Verborgenen die angeblich von der Maschine verrichtete Arbeit ausführte. Wie der Historiker Ahyan Aytes anmerkt, wurden diese Automaten auch deswegen «orientalisch» verkleidet, weil jeder östlich von Europa als «schwach» und «seelenlos» galt. Mit Amazons Mechanical Turk können Arbeitgeber*innen Aufgaben erstellen, die großer Mengen von Dateneingaben und -analyse bedürfen, und die es aus irgendwelchen Gründen derzeit noch effizienter oder genauer von Menschen als von Computern erledigt werden können.»

Portale für Mikroarbeit nutzen die virtuelle Arbeiter*innenmasse, um Musik-Playlists zu erstellen, Videos und Bilder zu markieren, kurze Texte zu schreiben, zu übersetzen oder zu transkribieren - und dabei künstliche Intelligenzen zu trainieren.

Mikroarbeit ist nur ein Teil eines breiten Spektrums digitaler Arbeit, von On-Demand-Diensten wie Uber bis zur Extraktion profitabler Daten aus unseren täglichen Status-Updates bei Facebook, Twitter und Instagram. Was der Soziologe Antonio Casilli als «Kontinuum unbezahlter, mikrobezahlter und schlecht bezahlter, ‹taskifizierter› (in kleine Unteraufgaben unterteilte; Anm. d. Übers.) menschlicher Aktivitäten» beschreibt, kann nicht mehr auf Anhieb von Freizeit unterschieden werden. Deswegen fällt es so schwer, bei digitaler Arbeit von Ausbeutung zu sprechen. Normalerweise ist dieser Begriff mit industrieller Schwerstarbeit verbunden. Und daran liegt es auch, dass manche Menschen nicht unbedingt das Gefühl haben, dass es sich bei diesen Tätigkeiten auch um Arbeit handelt, auch wenn objektiv dabei große ökonomische Werte geschaffen werden.

Aber Mikroarbeit ist nicht einfach nur deswegen harmlos, weil man sie mit denselben Tastenanschlägen erledigt, mit denen man auch einen Film herunterlädt oder bei Facebook chattet. In wissenschaftlichen Untersuchungen zur Mensch-Computer-Interaktion (HCI) – hervorzuheben sind die Arbeiten von Lilly Irani und Six Silberman und dem Oxford Internet Institute – wurden solche Arbeitsplattformen untersucht und Interviews mit deren Nutzer*innen geführt. Dabei stellte sich heraus, dass Plattformen für digitale Arbeit eine ernstzunehmende Gefahr für selbst minimalen Arbeitnehmerschutz darstellen. So liegt der mittlere Stundenlohn auf Amazon Mechanical Turk zwar bei 1,38 Dollar, aber einzelne Aufgaben werden für nur 0,01 Dollar erledigt. In dem Maße, wie sich nun Menschen aus aller Welt im Wettkampf um solche Aufgaben mit immer geringeren Honoraren unterbieten, fallen die Löhne. Und weil die Arbeiter*innen darüber hinaus keine Einsicht in die Kernarbeitsabläufe haben, gibt es nicht einmal nennenswerte Aufstiegs- oder Weiterbildungschancen.

Die Körper der Digital-Arbeiter*innen werden dabei ebensolchen Anforderungen des Kapitals unterworfen, wie die ihrer industriellen Pendants. So müssen Geflüchtete im libanesischen Shatila-Camp ihr Schlafverhalten an den Bedürfnissen des (westlichen) Kapitals ausrichten. Nur so können sie dem breiten Spektrum digitaler Arbeit, vom freiberuflichen Programmieren bis hin zu Online-Spielen mit virtuellen Währungen, nachgehen. Teenager stellen ihre Handys auf laut, um rund um die Uhr erreichbar zu sein und trinken endlose Mengen an Energy-Drinks, um die ganze Nacht lang arbeiten oder spielen zu können. Studien an Mikroarbeiter*innen auf der ganzen Welt und von sogenannten «Goldfarmern» in China haben gezeigt, dass ein solches Verhalten das Repetitive-Strain-Injury-Syndrom (Verletzungen durch wiederholte Belastungen; Anm. d. Übers.) und schwere Augenprobleme verursachen können.

Aber im Gegensatz zu industriellen Arbeiter*innen sind die Digital-Arbeiter*innen gleich doppelt geographisch isoliert: voneinander und von ihren Auftraggeber*innen. Das vereitelt ein kollektives Handeln, um sich gegen solche Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen. Trotzdem gibt es kreative Ansätze, um sich der für Mikroarbeit typischen Prekarisierung und Ausbeutung zu widersetzen. Dazu zählt die E-Mail-Kampagne «Dynamo» - eine Quasi-Gewerkschaft - und das 2015 von der IG Metall entwickelte Monitoring-System FairCrowdwork.

Globale Goldfarmer

Wie digitale Plattformen Geschlechter-, Klassen- und Herkunftsunterschiede ausnutzen, um nicht- und unterbezahlte digitale Arbeitskraft zu extrahieren, wurde bislang in keiner Kampagne der etablierten Entwicklungs(zusammen)arbeit angegangen. Dabei sind genau diese Probleme entscheidend für das Verständnis der Verbreitung dieser Arbeitsformen in der arabischen Welt; Theoretiker wie Casilli bezeichnen sie als «digitale dekoloniale Wende».

Indem es «geografische Hindernisse» überwindet, versucht das Projekt «m2Work» Jugendlichen und Frauen vor Ort Beschäftigungsmöglichkeiten zu vermitteln. Aber diese Betonung des «Überwindens» der Geografie verschleiert, welche Rolle ungleiche Macht- und Reichtumsgeografien im Bereich der globalen digitalen Arbeit spielen. Eine Untersuchung des Oxford Internet Institute von sechzigtausend anonymisierten Transaktionen bei der Arbeitsplattform UpWork, brachte ein deutlich neokoloniales Muster hervor: «Arbeitsaufgaben» wurden von Indien und den Philippinen in die Vereinigten Staaten, Australien oder Großbritannien verkauft. Dies führt zu dem gleichen schädlichen «Wettlauf nach unten», der die industrielle Produktion in den letzten dreißig Jahren prägte.

Es ist bezeichnend, dass die Weltbank das Westjordanland und den Gazastreifen als «besonders relevante» Ziele für Mikroarbeit betrachtet. Im globalen «Wettlauf nach unten» ist das «Unten» ein militärisch besetztes Gebiet. Laut ihrem Bericht aus dem Jahr 2014 stellen die Kosten der Vollzeitbeschäftigung oder ein Mindestlohn in dieser Region für Arbeitgeber*innen nur «ein begrenztes Risiko» dar. Dass Arbeiternehmerschutz «riskant» für Arbeitgeber*innen ist, mag sein. Hingegen, jemandes Überleben von einem Algorithmus ohne Verantwortung oder Rechenschaftspflicht abhängig zu machen, ist ganz sicher ein Risiko. Es ist riskant, jemandem einen so geringen Stundenlohn zu bezahlen, dass es unmöglich ist sich und die eigene Familie davon zu ernähren. Unregelmäßige oder übermäßige Arbeitszeiten, die zu Belastungsverletzungen, Augenproblemen und Schlaflosigkeit führen, sind ein Risiko.

Eines der beliebten Argumente für digitale Arbeitsplätze ist, dass sie blind gegenüber Herkunft und Geschlecht seien. Aber die inhärenten Ungleichheiten dieser Systeme verschwinden nicht, nur weil deren Teilnehmer*innen anonym bleiben. 2011 wurde bekannt, dass Gefangene in chinesischen Arbeitslagern dazu gezwungen werden, profitable Online-Spiele zu spielen. In Gaming-Chats bezeichnete man solche Personen daraufhin als «chinesische Goldfarmer», ein abwertender Begriff für Arbeiter*innen/Spieler*innen, die versuchen, virtuelle Güter zu verkaufen. Syrische Spieler*innen im Flüchtlingslager Shatila im Libanon, für die das Computerspielen mehr Freizeit als Arbeit war, wurden nach eigenem Bekunden aufgrund ihres gebrochenen Englisch oder ihrer arabischen Namen als unerwünschte Gastarbeiter*innen oder «Goldfarmer» bezeichnet. Mikroarbeiter*innen sind ähnlichen Dynamiken auf digitalen Arbeitsplattformen schutzlos ausgeliefert.

Virtuelle Gefangene

Das Weltbank-Projekt «m2Work» bedient sich großzügig an der Samasource-Initiative, einem gemeinnützigen Unternehmen, das Armut dadurch lindern will, dass digitaler Arbeit von Walmart, eBay und anderen Firmen an verarmte Bevölkerungsgruppen ausgelagert wird. Aber im Gegensatz zu ihrer Vermarktung, funktionieren diese Systeme nicht trotz Notlagen wie der Besatzung oder der Flüchtlingskrise, sondern vielmehr genau wegen ihnen.

Digitale Arbeit passt perfekt zur Logik des Flüchtlingslagers oder des gesperrten Territoriums, in dem die Subjekte zwar am Leben erhalten werden müssen, aber nur gerade so. Jetzt können sogar Staatenlose, denen ihre politische Existenz, Rechte und der gesetzliche Schutz entzogen wurden, produktiv gemacht werden. Über Online-Plattformen arbeiten Menschen in Gegenden wie dem Gazastreifen in ihren sprichwörtlichen Gefängniszellen. Ihre Integration in die Weltwirtschaft als billige Outsourcer macht die Nutz*innen nicht nur abhängig von Israel oder einem Gastgeberstaat, sondern auch von Technik.

Wie der Gefängnis-Industrielle-Komplex, der von der un- oder unterbezahlten Arbeit der Insassen profitiert, gedeihen diese Initiativen im sozialen und politischen Umbruch des Nahen Ostens. Tatsächlich gehört zu den amerikanischen Gefängnisarbeitsprogrammen jetzt auch digitale Dateneingabe, Korrekturlesen und die Dokumentenvorbereitung, ebenso wie die chinesischen Insassen zum «Goldfarmen» gezwungen werden. Die Plattform MicroSourcing nutzt auf ihrer Website sogar als Verkaufsargument, dass «virtuelle Gefangene» die Arbeit westlicher Unternehmen erledigen.

Diese unverhohlenen Bemühungen, im Interesse westlicher Plattformen im Globalen Süden Regulierungen zu umgehen, gehören zu dem breiten Spektrum von dem, was Entwicklungswissenschaften «Tech for Good» nennen. Aber Technik ist nicht von sich aus gut. Tawil-Souri weist darauf hin, dringend auch die Kehrseite des «Fortschritts» anzuerkennen, zum Beispiel in der Rolle des Internet in den Gesellschaften des Nahen Ostens. Dazu zählt vor allem «die weitere Konsolidierung des privatwirtschaftlichen Kapitals und die Auferlegung seiner Kriterien und Prioritäten auf den Nationalstaat». Trotz ihrer aufgeblasen Rhetorik, «Zugang zur globalen Wissensgesellschaft» verschaffen zu können, gehen die von der Weltbank empfohlenen Maßnahmen kaum die zugrundeliegenden Strukturprobleme an, die erst zu hoher Arbeitslosigkeit geführt haben. So wurde beispielsweise in den Richtlinien der Weltbank der Schwerpunkt auf das Wachstum des privatwirtschaftlichen Sektors als der beste Weg zu Frieden und Staatsbildung in Palästina gelegt. Damit wurden aber Berichte ignoriert, wonach sich bei einem Ende der Besatzung das Bruttoinlandsprodukt verdoppeln würde. «Tech for Good» ist eine natürliche Erweiterung dieser fehlerhaften Logik.

Das Schicksal des «Türken»

Wie David Golumbia bemerkte, war der Pfeife rauchende «Türke», von dem Amazons Plattform für Mikroarbeit ihren Namen erhielt, Teil einer Begeisterungswelle für Automaten, die das orientalische «Andere» darstellen sollten, den gelehrigen und gehorsamen Muslim der christlichen Theologie. Aber das Konzept vom Muslim-als-Maschine erlebt dieser Zeit eine Bedeutungsverschiebung, da Arbeiter*innen in verarmten Gebieten, von syrischen Flüchtlingslagern bis zu den besetzten, palästinensischen Gebieten, genau solche repetitiven, unqualifizierten Aufgaben hinter einer glatten, anonymisierten Nutzerschnittstelle verrichten. Maschinenartig, immer einsatzbereit, kann diese «Überbevölkerung» immerzu von Unternehmen angezapft werden, um so den 24-Stunden-Konjunkturzyklus des westlichen Fortschritts am Laufen zu halten.