Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Geschlechterverhältnisse - Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - International / Transnational - Asien - Westasien - Türkei - Feminismus «Keine männliche, sondern echte Gerechtigkeit»

Selbstverteidigung und feministische Intervention — «Erkek Değil, Gerçek Adalet»: Özsavunma ve Feminist Müdahale.

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Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Sibel Schick, Tebessüm Yılmaz,

Erschienen

Juli 2018

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Ermordet zu werden ist nicht unser Schicksal, Selbstverteidigung ist unser Recht!
«Ermordet zu werden ist nicht unser Schicksal, Selbstverteidigung ist unser Recht!»

Eine weltweit voranschreitende Welle neoliberaler und konservativer Politik hat die USA, Russland, Polen, Ungarn und allen voran die Türkei hart getroffen. In diesem Klima machen viele Frauen und Frauengruppen verschiedener feministischer Strömungen auf Gruppen aufmerksam, die von den Praktiken der AKP-Regierung schutzlos gelassen werden. Das AKP-Regime, das die Emanzipierung der Frauen ablehnt, versucht,  Frauen auf ihre Rolle in der Familie zu reduzieren. So lehnte beispielsweise 2008 der damalige Premierminister Recep Tayyip Erdoğan die Empfehlung des AKP-Frauenverbandes für eine parteiinterne Frauenquote ab. Außerdem strich der Premierminister 2017 die Punkte für die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt aus dem Erlass von Rechtsvorschriften über Chancengleichheit. Diese Versuche sind einer der Hauptfaktoren für die Vertiefung der Benachteiligung von Frauen.

Yeter! Es reicht!
Queer-feministische Perspektiven auf die Türkei
 
Der Widerstand von Frauen und LGBTI*-Organisationen in der Türkei ist ungebrochen. Trotz massiver staatlicher Repressionen kämpfen sie gegen den wachsenden Autoritarismus und die Polarisierung in der Gesellschaft. Mit einer Kurztextreihe in deutscher und türkischer Sprache möchte die Rosa-Luxemburg-Stiftung einen Blick auf die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei aus feministischen und queeren Perspektiven werfen. Sibel Schick (Autorin) und Tebessüm Yılmaz (Friedensakademikerin) berichten.
 
Türkiye’deki kadınların ve LGBTİ* organizasyonlarının direnişi kırılmadı. Devlet kurumlarının büyük baskılarına rağmen büyüyen otorizme ve toplumdaki kutuplaşmaya karşı savaşmaya devam ediyorlar. Rosa-Luxemburg-Vakfı Türkçe ve Almanca yazılmış kısa metinlerle Türkiye’deki güncel politik gelişmelere queer ve feminist bir açından göz atıyor. Sibel Schick (yazar) ve Tebessüm Yılmaz (barış akademisyeni) bildiriyor.

In den vorangegangenen Texten erwähnten wir die regelmäßig auf die Parlamentsagenda gebrachten Vorschläge zur Senkung des Schutzalters, das real nicht existierende Recht auf Abtreibung und Strafminderungen (bzw. komplette Befreiung) für männliche Täter sexualisierter Gewalt. Eine solche Agenda schafft die Grundlage für einen Anstieg, aber auch für eine Legitimierung von männlicher Gewalt durch die Hand des Staates. Laut der Angaben des Amts für Statistik wurden 2016 knapp 7,4 Millionen Sexualstraftaten gemeldet, während die Zahl 2006 2,7 Millionen betrug.

Nach Angaben des Justizministeriums sind Frauenmorde seit dem Jahr 2002 um ein 14faches gestiegen. Als Frauenmorde werden Fälle registriert, in denen Frauen von Männern aufgrund ihrer weiblichen Geschlechterzugehörigkeit ermordet werden. Dieser Anstieg  deutet auf eine wichtige Veränderung im Laufe des 16 Jahre währenden AKP-Regime-Abenteuers: Es ist die Normalisierung der männlichen Gewalt gegen Frauen. Während nun auf der einen Seite eine Banalisierung und Legitimierung dieser stattfindet, praktizieren Frauen auf der anderen Seite untereinander Solidarität und Widerstand.

«Frauen sind die Zuflucht der Frau, Selbstverteidigung ist legitim»

Aufgrund der steigenden männlichen Gewalt in den letzten Jahren, stehen die Rechte der Frau ganz oben auf der Tagesordnung der feministischen Bewegungen. Frauenorganisationen machen auf der einen Seite als Prozessbeobachterinnen auf Rechtsverletzungen aufmerksam und betonen, dass männliche Politiker die Benachteiligung von Frauen sowie ihre Isolierung vorantreiben. Instrument dieser Politik ist die Ermöglichung gesellschaftlich akzeptierter Strafminderungen oder Strafaussetzungen zur Bewährung.

Aus den oben genannten Gründen hat sich das Motto «Keine männliche, sondern echte Gerechtigkeit» im Überlebenskampf der Frauenbewegungen unterschiedlicher Strömungen etabliert. So öffnen Aktivist*innen Freiräume für Frauen, deren Rechte von der Justiz durch Strafminderungen an die männlichen Täter, von Sicherheitskräften durch fehlenden Schutz und von frauenfeindlichen Praktiken der AKP-Regierung wie der Schließung der Frauenhäuser, verletzt werden. Durch den Widerstand gegen staatliche Politik, die Männer schützt und somit Frauen dem Tod preisgibt, werden sie jedoch einem System ausgeliefert, welches sie zwingt zu töten, um weiter leben zu können: Frauen, die männlicher Gewalt ausgesetzt werden, von den Sicherheitskräften nicht geschützt werden, keinen Platz in Frauenhäusern finden und so gezwungen werden, weiterhin ein Leben voller Gewalt zu führen, finden keinen anderen Ausweg, als selbst gewalttätig zu werden, um zu überleben.

«Wir sind Nevin Yıldırıms Äxte»

Nevin Yıldırım, deren Fall nicht nur in der feministischen Bewegung diskutiert wurde, sondern auch in den Mainstream-Medien der Türkei große Aufmerksamkeit bekam, ist nur eine dieser Frauen. Nevin tötete einen Mann, der sie jahrelang systematisch vergewaltigt und bedroht hatte, und köpfte ihn mit einer Axt. Anschließend zog sie mit dem Kopf durch ihren Heimatort und sagte den Bewohnern: «Dies ist der Kopf des Mannes, der sich an meiner Ehre verging. Redet mir nicht hinterher!». Dadurch machte sie den moralischen und gesellschaftlichen Druck auf Frauen sichtbar. Als sie später zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt wurde, war sie im 5. Monat schwanger. Nevin wollte dieser Schwangerschaft, die durch eine Vergewaltigung zu Stande gekommen war, durch eine Abtreibung ein Ende setzen. Doch das allgemein geltende Abtreibungsrecht – reguläre Schwangerschaften können bis zur 10., Schwangerschaften, die Ergebnis einer Vergewaltigung sind, bis zur 20. Woche abgetrieben werden – wurde ihr verwehrt und sie wurde somit dazu gezwungen das Kind zu gebären. Viele Frauenorganisationen, allen voran die Plattform «Wir werden Frauenmorde stoppen», und feministische Anwältinnen nahmen an Nevins Prozess Teil. Unter dem Motto «Frauen sind die Zuflucht der Frau» zeigen sie sich weiterhin solidarisch mit Nevin.

Çilem Doğan ist eine weitere Frau, die töten musste, um zu leben. Nachdem Çilem keinen Schutz durch die Behörden erhielt, obwohl sie ihren Ehemann wegen Nötigung zur Sexarbeit und systematischer physischer Gewalt angezeigt hatte, tötete sie ihn und rechtfertigte es später mit den Worten: «Sollen immer nur Frauen sterben? Es sollten auch mal Männer sterben!». Der Fall Çilem zeigt, dass Frauen nicht mehr Objekt staatlicher Nachlässigkeit sein möchten und von ihrem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machen. Ihre Handlungen sind außerdem eine Botschaft an andere Frauen, dass diese in ihrem Kampf nicht allein sind. Çilem bringt deshalb bei jeder Gelegenheit zur Sprache, dass es die Frauensolidarität ist, die sie am Leben hält, und dass sie durch die Unterstützung, die sie von Feministinnen erhält, gestärkt wird. Außerdem betont sie, dass der feministische Kampf den Lauf ihres Gerichtsprozesses im Positiven beeinflusst hat: Nach dem Aufschrei der Frauen wurde Çilem aus der Untersuchungshaft entlassen, das Urteil ist noch nicht gefallen.

Die beobachtende Teilnahme von Frauenorganisationen an Prozessen, bei denen für Frauen schwere Strafen gefordert werden, ist jedoch nicht nur Solidaritätspraxis; es ist auch der Versuch, eine gerechte Rechtsprechung für Frauen zu unterstützen. Frauenorganisationen weisen darauf hin, dass  Männer Strafminderungen erhalten, da davon ausgegangen wird, dass ihrer Straftat eine Provokation vonseiten der Frau zugrunde liegt.  Frauen, die sich selbst verteidigen, erhalten im Kontrast dazu besonders schwere Urteile. Der Aktivismus von Frauenorganisationen ist Kern einer wichtigen feministischen Auseinandersetzung mit der in der Türkei bestehenden  Rechtsordnung.


Die Autor*innen

Sibel Schick ist 1985 in der Türkei geboren und 2009 nach Deutschland gezogen. Sie ist Mitgründerin der antisexistischen Online-Plattform erktolia.org, auf der sie sich bis 2017 mit anderen Aktivist*innen gegen Sexismus in der Werbung und Sprache einsetzte, gegen diskriminierende Gesetzgebungen und sexistische Aussagen von Politiker*innen und prominenten Persönlichkeiten protestierte und online Kampagnen organisierte. Seit 2016 arbeitet sie als freie Autorin (taz, Huffington Post) und Social-Media-Redakteurin.

Sibel Schick 1985 senesinde Türkiye'de dünyaya geldi ve 2009'da Almanya'ya taşındı. 2015 senesinde bir grup aktivist ile birlikte cinsiyetçilikle mücadele platformu erktolia.org'u kurdu ve 2017 senesine dek burada dilde ve reklamdaki cinsiyetçilik, ünlü ve siyasilerin cinsiyetçi ifadeleri ve kadın ve/ya LGBTİQ+ların zarar görmesine neden olan/olabilecek yasalara karşı eylemler ve çevrimiçi kampanyalar düzenledi. 2016 senesinden beri serbest yazar, gazeteci ve sosyal medya editörü olarak çalışıyor.
 

Tebessüm Yilmaz ist eine in Deutschland lebende feministische Aktivistin und Politikwissenschaftlerin. Sie setzt ihre vorzeitig unterbrochene Promotion am Institut für Vielfalt und sozialen Konflikt an der Humboldt-Universität zu Berlin fort. Yilmaz ist aktives Mitglied der Academics for Peace - Türkei, der Wissenschaftler*innen für den Frieden - Deutschland e.V., der Akademiker ohne Campus sowie in der Fraueninitiative für Frieden und dem Solidaritätsnetzwerk für inhaftierte Studenten.

Tebessüm Yılmaz, Almanya’da ikamet eden feminist aktivist ve siyaset bilimci. Berlin Humboldt Üniversitesi Çeşitlilik ve Toplumsal Çatışma Bölümü (Department of Diversity and Social Conflict)’nde doktora çalışmalarına devam eden Yılmaz, Barış için Akademisyenler, Barış için Akademisyenler Almanya Derneği ve Kampüssüzler’in yanı sıra Barış için Kadın Girişimi ve Tutuklu Öğrencilerle Dayanışma Ağı’nın da aktif bir üyesi.