Erstmals seit Jahrzehnten setzte sich bei den mexikanischen Präsidentschaftswahlen am 1. Juli 2018 ein linker Kandidat durch. Einen neuen «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» dürfte es mit Obrador jedoch nicht geben. Der neue Präsident ist ein Pragmatiker, es überwiegen moralistische gegenüber antikapitalistischen Tönen.
«Sí se pudo» ruft die Menschenmenge auf dem randvollen Zocalo-Platz dem neu gewählten Präsidenten Andrés Manuel López Obrador entgegen, sinngemäß: «Wir haben es geschafft». Nicht weniger als die «vierte große Transformation» Mexikos verspricht Obrador in seiner Rede und stellt sein politisches Projekt damit in eine Reihe mit der mexikanischen Unabhängigkeit, den Reformen des Präsidenten Benito Juárez und der mexikanischen Revolution. Rund 53 Prozent[1] der Mexikaner*innen stimmten für AMLO, wie der zukünftige Präsident nach seinen Initialen genannt wird. Bereits am frühen Abend räumten die Kandidaten Ricardo Anaya (22 Prozent), der für ein Bündnis der konservativen PAN mit der mitte-links Partei PRD und die Bürgerbewegung «Movimiento Ciudadano» antrat, und José Antonio Meade (16 Prozent), Kandidat des von der Regierungspartei PRI angeführten Bündnis «Todos por México», ihre Niederlage ein.
Neben dem Präsidentenamt entschieden die Wähler*innen am 1. Juli zudem über die Besetzung von Senat und Abgeordnetenhaus, die Gouverneure von 9 Bundesstaaten und 1612 Bürgermeisterämter. Nach dem Stand der Auszählungen hat Obradors Bündnis «Juntos haremos historia» die absolute Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses erhalten, und wird zudem in fünf Bundesstaaten, darunter Mexiko-Stadt, die Regierung stellen.
Zum dritten Mal stellte sich AMLO als Präsidentschaftskandidat zur Wahl. Bei den Wahlen 2006 unterlag er dem konservativen Kandidaten Felipe Calderón (PAN) um einen halben Prozentpunkt. Auch 2012 verfehlte er die Präsidentschaft nur knapp und blieb drei Prozentpunkte hinter dem derzeit noch amtierenden Präsidenten Enrique Peña Nieto. Bei beiden Wahlen war Obrador noch für die Partei PRD (Partei der demokratischen Revolution) angetreten, einer linke Abspaltung der autoritären mexikanischen Staatspartei PRI. 2018 kandidierte er für die neue linke Partei Morena. Morena wurde ursprünglich als Unterstützer*innennetzwerk von Obradors Wahlkampagne 2012 gegründet. Nachdem Obrador in Folge interner Konflikte die PRD verließ, gründete sich Morena im Jahr 2014 offiziell als politische Partei.
Der Wahlkampf stand unter dem Zeichen der extremen Unbeliebtheit des amtierenden Präsidenten Peña Nieto von der PRI. Nach einer Umfrage der Tageszeitung Reforma befürworteten gegen Ende seiner Amtszeit lediglich 12 Prozent der Bevölkerung seine Politik. Schuld daran sind unter anderem unaufgeklärte Verbrechen mit staatlicher Beteiligung, wie der Fall der Verschleppung und Ermordung der 43 Studenten von Ayotzinapa 2014, Korruptionsskandale und eine Energiereform, die die Benzinpreise enorm steigen ließ. Der PRI-Kandidat José Antonio Meade hatte angesichts der politischen Wechselstimmung von Beginn an schlechte Karten. Der Wahlkampf wurde damit zu einem Zweikampf zwischen dem PAN-Politiker Ricardo Anaya und Obrador.
Wie bei vergangenen Wahlen reagierten PRI und PAN auf die linke Kandidatur mit Angstkampagnen. Dass sich Mexiko im Falle eines Wahlsiegs Obradors in Richtung des inflationsgeplagten Venezuelas entwickeln würde, war das Schreckensszenario, das PRI und PAN regelmäßig beschworen. Anders als bei vergangenen Wahlen zeigten die Angstkampagnen wenig Wirkung. Auch Appelle einzelner Großunternehmer an Meade, die Kandidatur zugunsten des PAN-Kandidaten Anaya zurückzuziehen, um einen Sieg Obradors kurzfristig noch verhindern zu können, dürften eher Wasser auf die Mühlen der Argumentation Obradors gewesen sein: «Sie sind die PRIAN. Sie sind dasselbe».
Eskalation der politischen Gewalt
Die politische Gewalt erreichte im Wahlkampf ein im modernen Mexiko noch nie dagewesenes Niveau. 543 Gewaltakte gegen Politiker*innen, darunter 130 Morde, registrierte die Agentur Ettelekt im Zeitraum September 2017 bis Ende Juni 2018. Unter den ermordeten Politiker*innen finden sich Mitglieder aller Parteien. Ein Großteil der Anschläge dürfte auf das Konto des organisierten Verbrechens gehen, das sich die Kontrolle über Drogenkorridore und rohstoffreiche Gebiete sichern möchte. Angesichts eines gesteigerten politischen Wettbewerbs, der Wahlergebnisse auf lokaler Ebene nur noch schwer voraussehen lässt, gehe das organisierte Verbrechen von der Strategie des Kaufs von Kandidat*innen zu Mordanschlägen gegen unliebsame Politiker*innen über, erklärt der Politikwissenschaftler Ernesto López Portillo Vargas dem Magazin Proceso.[2] Die Mexikanische Wahlbehörde INE sprach von über 1000 Kandidat*innen, die ihre Kandidatur aus Angst um ihre Sicherheit zurückgezogen haben.
Die mexikanische Linke: Ein Sonderfall
Das mexikanische Parteiensystem stellt im internationalen Vergleich einen Sonderfall dar: Es sind, abgesehen von Kleinstparteien, keine relevanten sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen Parteien in diesem vertreten. In Folge der Spaltung der PRI im Jahr 1988 etablierte sich mit der PRD erstmals eine Wahlalternative links der autoritären Staatspartei. Die verbliebenen sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen lösten sich in den 80er-Jahren in dieser Strömung des linken revolutionären Nationalismus auf, als sie bei der Gründung der PRD mit dem ehemaligen linken Flügel der PRI um Cuauhtémoc Cárdenas fusionierten. Revolutionäre bzw. sozialistisch-reformerische Ziele rückten dabei gegenüber der Orientierung Cardenas’, die «mexikanische Revolution zu vollenden» und den Staat zu demokratisieren in den Hintergrund.
Als PRD-Abspaltung kann die neue Partei Morena ebenfalls in dieser politischen Tradition des revolutionären Nationalismus verortet werden. Seinem Wesen nach ist der linke mexikanische Nationalismus institutionsorientiert. Er sieht seine Aufgabe weniger im Aufbau einer breiten linken Bewegung als darin, die «Technokraten», die die Revolution verraten hätten, aus den Institutionen des Staats zu verdrängen. Eine gemeinsame politische Identität konnte bereits in der PRD angesichts der disparaten Strömungen nur durch starke politische Führungspersönlichkeiten wie den langjährigen Vorsitzenden Cárdenas gestiftet werden. Von diesen Tendenzen zum Caudillismus hat sich auch Morena, das sich trotz der Eigenbezeichnung «Bewegung» hauptsächlich um die politische Persönlichkeit Obrador konstituiert, nicht emanzipiert. Vor allem jedoch in inhaltlicher Hinsicht setzt sich das Problem einer Unterordnung sozialistischer Inhalte unter die Programmatik des linken Nationalismus fort.
Ein moralischer Populist
AMLOs Rhetorik von der «vierten Transformation» Mexikos klingt radikal, doch ein Blick in sein Buch «2018: Der Ausweg», das er im Vorfeld der Wahlen veröffentlichte, offenbart, dass der neue mexikanische Präsident keinesfalls ein Antikapitalist ist: Es geht ihm nicht um eine grundsätzliche Abrechnung mit dem wirtschaftsliberalen Entwicklungsmodell des Landes, sondern um eine Kritik der illegalen Geschäfte und der Korruption, die im Schutze des neoliberalen Paradigmas gedeihen konnten. Sein Hauptfeind ist die «Machtmafia», die Staat und Wirtschaft zum Zwecke ihrer illegalen Bereicherung in Geiselhaft hielten. Die Analyse gesellschaftlicher Konflikte beschränkt sich somit auf den Konflikt zwischen einem mafiösen politischen Establishment und dem mexikanischen «Pueblo», zu dem Obrador gleichermaßen Arbeiter*innen wie ehrliche Unternehmer*innen zählt. So wird der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ausgeblendet, wenn Obrador in einem Interview mit dem TV-Azteca ausführt: «Das Problem ist nicht, dass das Unternehmertum Reichtum anhäuft, der nicht verteilt wird. Der Hauptgrund für die Ungleichheit in Mexiko ist die Korruption.» Diese Analyse führt Obrador zu einem stark ausgeprägten politischen Moralismus mit populistischen Elementen, der die Probleme des Landes auf rein ethische und personelle Fragen reduziert. Der Austausch der politischen Eliten durch ehrliche Politiker, die «nicht stehlen, nicht lügen und das Volk nicht verraten», wie er im Wahlkampf unzählige Male wiederholte, tritt an die Stelle politischer Reformen oder einer Abkehr vom gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklungsmodell.
Jenseits der Korruptionsbekämpfung kann AMLOs Programm als eines der wirtschaftlichen Kontinuität beschrieben werden. Die Energiereform, eines der kontroversesten Unterfangen der Regierung Peña Nieto, will er wohl nicht rückgängig machen. Morena hatte die Reform, die den zuvor rein staatlichen Erdöl- und Gassektor für private Investitionen öffnete, einst scharf kritisiert. Man wolle nicht die gesamte Reform in Frage stellen, sondern lediglich die Verträge mit privaten Unternehmen hinterfragen, bei deren Vergabe es nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, heißt es nun. Das Programm sieht moderate sozialpolitische Reformen, wie etwa eine Erhöhung der Renten und ein umfassendes Stipendiensystem vor. All das soll allein über die Bekämpfung der Korruption und «staatliche Austerität», also einer Reduzierung der Ausgaben für Verwaltungsapparat und Diäten finanziert werden. Sozialpolitische Umverteilungen, Steuererhöhungen oder Verstaatlichungen werde es in seiner Amtszeit nicht geben, beruhigte Obrador ausländische Investoren. Klare Position bezog er lediglich hinsichtlich der kontroversen Bildungsreform, die er als repressive Arbeitsreform, die sich gegen die Lehrer*innen richte, kritisierte.
Neue sicherheitspolitische Töne
Sicherheitspolitisch hob sich Obrador im Wahlkampf von den anderen Kandidaten ab, wenn er kritisierte, dass sich die eskalierende Gewalt im Land nicht durch eine weitere Militarisierung, sondern allein durch sozialpolitische Maßnahmen lösen lasse. Das sind Töne, die viele Mexikaner*innen zumindest auf eine Deeskalation des Drogenkonflikts hoffen lassen. Eine tatsächliche Demilitarisierung des Landes wird es wohl auch unter AMLO nicht geben. Vielmehr sollen zur Bekämpfung der Drogenbanden Militär und Polizeikräfte zu einer neuen «Nationalgarde» zusammengelegt werden. Alternative Lösungen des Konflikts, wie etwa den illegalen Sektor durch eine Legalisierung der Drogen zu bekämpfen, lehnt Obrador ab.
Problematische Allianzen
Dass das Programm Obradors in diesem Wahlkampf deutlich pragmatischer ausfiel als bei seinen Kandidaturen im Jahr 2006 und 2012 hängt auch mit der Bündnispolitik des Politikers zusammen. Wohl auch unter dem Eindruck des Wahlbetrugs von 2006 setzte Obrador auf ein breites gesellschaftliches Bündnis, das weit über die politische Linke hinausreichte und als dessen gemeinsamer politischer Nenner eine Abwahl der PRI-Regierung und die Bekämpfung der Korruption fungierte. So gehört zu Obradors Wahlbündnis «Juntos haremos história» etwa auch die christlich-rechte Partei PES, die gegen die Eheschließung Homosexueller und gegen Abtreibung eintritt. Alle seien in seiner Bewegung zur Erneuerung Mexikos willkommen, betonte Obrador immer wieder. Nach Recherchen des Magazins Proceso sind rund die Hälfte der Kandidat*innen, die für Obradors Bündnis bei Senats- und Abgeordnetenhauswahlen antreten, erst wenige Monate vor der Wahl in das Lager Obradors gewechselt. Unter ihnen finden sich viele ehemalige Politiker*innen von PRD, PRI und PAN. So reichte ein Wechsel des Parteibuchs aus, um vom Angehörigen der «Machtmafia» zum Verbündeten Obradors zu werden.
Kultureller Konservatismus
In familienpolitischer Hinsicht hob sich Obrador kaum von den anderen Kandidaten ab. Im über 400 Seiten langen Erstentwurf für ein Regierungsprogramm Obradors kommen die Themen Abtreibung und Ehe für alle nicht vor; in der Erarbeitung des Endversion bis Dezember könnte sich das allerdings ändern. Unter Aktivst*innen der LGBTI-Bewegung sorgt die Berufung von Marcelo Ebrard in die Übergangsregierung für Hoffnung, unter dessen Ägide als Regierungschef wurde die gleichgeschlechtliche Ehe in Mexiko-Stadt legalisiert. Erstmals bezog AMLO in seiner Rede in der Wahlnacht Personen unterschiedlicher sexueller Ausrichtung explizit in sein Bild von der mexikanischen Gesellschaft ein.
Zuvor hatte er indes betont. es sei nicht der richtige Zeitpunkt, um hier an Reformen zu denken, da er eine Vielzahl politischer und religiöser Weltanschauungen der Mexikaner*innen zu vertreten habe. Straffrei ist der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche einzig in Mexiko-Stadt. Andere Bundesstaaten verbieten Abtreibung komplett, oder erlauben diese nur im Falle einer Vergewaltigung oder bei medizinischer Indikation.
«Wählt oder wählt nicht»
Mexikos anti-institutionelle Linke gab sich angesichts des sich abzeichnenden Siegs Obradors skeptisch. «Wählt oder wählt nicht. Das wichtige ist, dass wir uns danach organisieren», verlautete die Sprecherin des Consejo Indígena de Gobierno (CIG) Marichuy wenige Tage vor der Wahl. Auf Initiative des indigenen Rats und der zapatistischen Befreiungsbewegung EZLN hatten Aktivist*innen im Vorfeld der Präsidentschaftswahl Unterschriften für eine unabhängige Kandidatur Marichuys gesammelt. Weniger als um eine tatsächliche Kandidatur ging es dabei darum, antikapitalistische Inhalte in die Gesellschaft zu tragen, Menschenrechtsverletzungen gegen indigene Gemeinden zu thematisieren und vor allem die Anhänger*innen des CIG und des EZLN landesweit neu zu organisieren. Die mitunter autoritären Reaktionen in Kreisen Morenas auf die politische Konkurrenz von links machte deutlich, wie gespalten Mexikos Linke ist. Obrador selbst hatte sich zu der Äußerung hinreißen lassen, die Kandidatur Marichuys sei eine Intrige Peña Nietos, war dann aber auch wieder zurück gerudert. Letztlich erlangte die Kampagne Marichuys nicht die notwendige Zahl Unterschriften für eine Kandidatur. Im April verlauteten CIG und EZLN gemeinsam, nicht zur Wahl Obradors, aber auch nicht zum Wahlboykott aufzurufen.
Ausblick
Das hervorragende Wahlergebnis von 53 Prozent ist Ausdruck der Wechselstimmung in Mexiko, die Zustimmungswerte zum scheidenden Präsidenten Enrique Peña lagen zuletzt bei 20 Prozent; der Kandidat seiner PRI erhielt gerade einmal 16 Prozent. Sowohl das Bündnis, das Obrador zur Macht führte, als auch seine Wählerschaft sind in diesem Sinne deutlich breiter als die gesellschaftliche Linke.
Wirtschaftspolitisch wird die politische Linke wenig Anknüpfungspunkte in seinem Regierungsprogramm finden. Das Programm richtet sich gegen Korruption und illegale Bereicherung im Schutze des neoliberalen Entwicklungsmodell Mexikos, nicht aber gegen dieses selbst. Vor diesem Hintergrund von einem linken Aufbruch in Mexiko zu sprechen, oder Parallelen zu den politischen Linkswenden in Venezuela oder Bolivien zu ziehen, wäre voreilig und würde die derzeitigen politischen Kräfteverhältnisse in Mexiko verkennen.
Im Umkehrschluss heißt das nicht, dass Mexikos Linke den Wahlsieg nicht zu ihren Gunsten nutzen kann. Nachdem Bedrohungen, Verhaftungen und Ermordungen von politischen Aktivist*innen während der Präsidentschaft Peña Nietosein dramatisches Ausmaß annahmen, lässt die Wahl Obradors und sein Versprechen einer allmählichen Demilitarisierung des Landes, sowie sein Eintreten für die Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen wie im Fall Ayotzinapa, zumindest auf ein Nachlassen der politischen Repression hoffen. Wenn soziale Bewegungen hierdurch neue Handlungsspielräume gewinnen und sich die Menschenrechtssituation im Land verbessert, bietet der Wahlsieg Obradors durchaus Anlass zu einem vorsichtigen Optimismus.
[1] Ergebnis gemäß erster offizieller Hochrechnung der Wahlbehörde INE. Ein offizielles Endergebnis steht noch aus.
[2] Marcela Turati: Cuando las balas votan, Proceso 24/6/18, S. 30-33.