Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung - Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - International / Transnational - Afrika - Nordafrika - Algerien Algerien: Wahlmaskerade, Massenproteste und Polizeigewalt

Die Präsidentschaftswahl vom 12. Dezember hat die Krise im Land nicht beendet, sondern verschärft.

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Online-Publ.

Autor

Sofian Philip Naceur,

Erschienen

Dezember 2019

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«Die Bewegung hat und wird keine Vertreter*innen haben»
«Le Hirak n'a pas, et n'aura pas de Representants»: «Die Bewegung hat und wird keine Vertreter*innen haben» 

Wie im Irak und im Libanon legt die Bewegung in Algerien Wert auf ihren «führerlosen», klassen- und konfessionsübergreifenden Charakter. Im Libanon lautet der Slogan «Ich bin der/die Führer*in der Revolution» («ana qa’id/at al-thawra») – darauf anspielend, dass es jede*r einzelne und die Menschen selbst es sind, die diese Revolution anführen. Während einer Massendemonstration im Zentrum der algerischen Hauptstadt Algier am 17. Dezember 2019, Foto: Ryad Kramdi / AFP

Algeriens Protestbewegung setzt auch 44 Wochen nach Beginn der friedlichen Massenrevolte die Staatselite weiter beharrlich unter Druck. Diese will die Bewegung endlich ausbremsen und mittels Provokationen und Repressalien eine gewaltsame Gegenreaktion auslösen – bisher vergeblich.

 
Auch nach mehr als zehn Monaten ununterbrochener Massenmobilisierung gehen in Algerien die Proteste gegen die herrschenden Eliten und für einen tiefgreifenden politischen Wandel unvermindert weiter. Die umstrittene Präsidentschaftswahl vom 12. Dezember 2019 – eine von der Staatsführung herbeigeführte Kraftprobe zwischen Protestbewegung (im Land «Hirak» genannt, Arabisch für «Bewegung») und Staatsklasse – hat die Krise im Land nicht beendet, sondern vielmehr verschärft. Die Wahl von Ex-Premierminister Abdelmajid Tebboune zum neuen Staatschef heizt die Proteste sogar noch zusätzlich an. Denn Hirak und Opposition betrachten den Urnengang als illegitim und allzu durchsichtigen Versuch, echte Reformen zu verhindern und die Privilegien der Machtelite zu verteidigen.

Sofian Philip Naceur arbeitet als freier Journalist in Ägypten, Tunesien und Algerien und schreibt unter anderem für die junge Welt, die taz und Der Standard.

Der Konflikt tritt damit abermals in eine kritische Phase ein, hat das Regime mit dem Urnengang doch auch versucht, erneut die Saat für eine gewaltsame Eskalation der Auseinandersetzung zu legen. Algeriens Staatsspitze um De-facto-Machthaber und Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah verfolgte mit der Abstimmung von Beginn an eine nicht widerspruchsfreie Doppelstrategie mit den Zielen, die Legitimität der politischen Führung im Land zu erneuern, damit den Machterhalt der Staatsklasse abzusichern, aber auch die Kontrolle über den öffentlichen Raum zurückerlangen. Durch die Präsidentschaftswahl sollte die weiterhin friedlich agierende Protestbewegung zu gewaltsamen Gegenreaktionen provoziert werden. Hundertschaften der Polizei und der vom Militär kontrollierten Gendarmerie gingen vor allem in Algier und der Berberregion Kabylei am Wahltag in einer aggressiven Manier gegen den Hirak vor wie es dieser seit Beginn der Massenmobilisierung im Februar noch nicht erlebt hat. Anzeichen für einen Strategiewechsel des Sicherheitsapparates im Umgang mit den Protesten waren bereits seit Monaten erkennbar, aber bisher nie derart deutlich hervorgetreten wie rund um den Urnengang. Mit Ausnahme eines in Bouira ausgebrannten Büros der staatlich kontrollierten Wahlbehörde ANIE (Autorité Nationale Indépendante des Èlections), blieb eine gewaltsame Antwort des Hirak jedoch aus. Am Tag nach der Abstimmung gingen allein in Algier zehntausende Menschen friedlich auf die Straße und machten ihrem Ärger über Tebbounes Wahl zum neuen Staatschef Luft. Mit Knüppeln und Tränengas setzten Sicherheitskräfte den Protestierenden in Algier und der Kabylei erneut massiv zu und machten in der westalgerischen Großstadt Oran regelrecht Jagd auf Demonstrant*innen. Allein in Oran sollen an diesem Tag rund 400 Protestler*innen verhaftet worden sein.

Wie es politisch weitergehen wird, ist derweil offen. Gaïd Salah dürfte als politische Führungsfigur zugunsten Tebbounes sukzessive in den Hintergrund treten, hinter den Kulissen aber weiter die Fäden ziehen. Beide werden darauf hinarbeiten, dem Hirak den Wind aus den Segeln zu nehmen; ob gewaltsam oder mittels politischer Konzessionen ist weiter unklar und dürfte davon abhängen, ob die Bewegung ihre beeindruckende Mobilisierungskraft und ihre Friedfertigkeit auch in den kommenden Monaten zu bewahren vermag. Der gewaltlose Charakter der Proteste war bisher der wichtigste Garant dafür, dass die Staatsführung keine Rechtfertigung für ein gewaltsames Niederschlagen der Proteste oder gar die Ausrufung des Notstandes zur Hand hatte – sie lauert aber weiterhin auf strategische Fehler des Hirak und intensiviert ihre Provokationsversuche.

Bouteflikas Rücktritt und Gaïd Salahs Aufstieg

Ausgelöst wurde die anhaltende politische Krise durch die Kandidatur von Expräsident Abdelaziz Bouteflika bei der eigentlich schon im April 2019 geplanten Präsidentschaftswahl. Die hinter dem seit 1999 amtierenden Staatschef stehende Fraktion im fragmentierten Machtapparat wollte den Status quo im Land um jeden Preis verteidigen und ließ Bouteflika daher für ein fünftes Mandat antreten. Dessen Kandidatur war vor allem deshalb grotesk, da der heute 82-Jährige seit einem Schlaganfall 2013 kaum regierungsfähig war, im Rollstuhl sitzt und seit 2012 keine einzige öffentliche Rede mehr gehalten hat. Wer in seinem Namen regierte und das durch seine Abwesenheit entstandene Machtvakuum füllte ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Sein jüngerer Bruder Saïd, offiziell präsidialer Sonderberater, spielte dabei gewiss eine zentrale Rolle. Doch auch Armeechef Gaïd Salah profitierte von Bouteflikas Abwesenheit, baute seinen Einfluss seit 2014 massiv aus und schaffte es sogar, mächtige regimeinterne Rivalen im Sicherheitsapparat sukzessive zu schwächen und kaltzustellen.

Wenige Tage nach der Verkündung von Bouteflikas Kandidatur brachen im Februar 2019 in der Kabylei und im Osten Algeriens spontane Proteste gegen ein fünftes Mandat des greisen Staatschefs aus. Zwar hatte das Land seit 2017 zunehmend sozioökonomisch motivierte Proteste und Streiks im Gesundheits- und Bildungssektor erlebt, doch politisch motivierte Demonstrationen gab es keine – bis dahin. Nur eine Woche nach diesen ersten Protesten folgten allein in Algier zehntausende Menschen den Protestaufrufen für den 22. Februar und zogen in zahlreichen Städten lautstark und friedlich durch die Straßen. Seither fanden fast täglich und landesweit Proteste und Sit-ins statt, die von Woche zu Woche anwuchsen und den Druck auf die Staatsführung weiter erhöhten.

Dieser war schnell klar, dass sie mit Konzessionen reagieren muss, um die Dynamik auf der Straße wieder ausbremsen zu können und das auf der Monopolisierung politischer und wirtschaftlicher Ressourcen aufbauende «System» als Ganzes zu retten. Entsprechend hagelte es kurz darauf Rücktritte und Verhaftungen teils hochrangiger Profiteure der alten Ordnung – jedoch nicht mit dem Ziel, die von der Protestbewegung geforderten Reformen einzuleiten, sondern der Staatsklasse eine Atempause zu verschaffen. Nach dem Rücktritt der Regierung von Premierminister Ahmed Ouyahia, dem im Land äußerst verhassten Chef der seit 1997 mitregierenden Partei RND (Rassemblement National Démocratique), im März musste sich im April auch Bouteflika dem Druck der Straße beugen und zurücktreten. Wie im Falle eines Rücktritts des Staatschefs in der algerischen Verfassung vorgesehen wurde er vom Präsidenten des Oberhauses des Parlaments, dem seit 2002 diesen Posten bekleidenden Abdelkader Bensaleh (RND), ersetzt. Doch Hirak und Opposition gaben sich mit den kosmetischen Personalwechseln an der Staatsspitze nicht zufrieden und fordern seither beharrlich einen echten Bruch mit der alten politischen Ordnung.

Reorganisation der algerischen Machtelite

Nachdem das von Gaïd Salah geführte Militär seit Bouteflikas Rückzug de facto die Macht im Land übernommen hatte, wurden er und die Armeeführung zunehmend zur Zielscheibe des Hirak, der seither hartnäckig Gaïd Salahs Rücktritt fordert. Um diese für das Militär nicht ungefährliche Entwicklung auszubremsen, initiierte Gaïd Salah innerhalb der zeitweilig im Chaos versinkenden Staatsklasse eine regimeinterne Säuberungskampagne. Dutzende vormals mit Bouteflika verbündete hochrangige Politiker und Geschäftsleute sowie Gouverneure, Bürgermeister oder Polizeichefs wurden wegen des Verdachts auf Korruption, Geldwäsche oder Amtsmissbrauch verhaftet und vor Gericht gestellt. Gaïd Salah instrumentalisierte die Verhaftungswelle dabei auch für machtpolitische Zwecke und räumte im Windschatten der Proteste unzählige regimeintere Rivalen um den Zugang zu Staatsressourcen und politischem Einfluss aus dem Weg. Ein nicht unerhebliches Ergebnis von zehn Monaten Hirak ist zweifellos die groß angelegte Neukonstitution der algerischen Staatsklasse.

Schon im September hatte ein Militärgericht in Blida den vormals als unantastbar geltenden Ex-Geheimdienstchef Mohamed «Tewfik» Mediène, seinen Nachfolger Athmane Tartag, die Chefin der trotzkistischen Arbeiterpartei (Parti des Travailleurs) Louisa Hanoune und Saïd Bouteflika wegen angeblicher Verschwörung zu 15 Jahren Haft verurteilt. Der von 1990 bis 2015 von Tewfik geleitete Militärgeheimdienst DRS (Département du Renseignement et de la Sécurité) galt jahrelang als mächtigste Institution im Sicherheitsapparat, wurde aber seit Tewfiks erzwungener Pensionierung 2015 sukzessive zugunsten des Generalstabes zurückgedrängt. Schon im April 2019 hatte Gaïd Salah den 2016 neu gegründeten DRS-Nachfolger DSS (Direction des Sercices de Sécurité) handstreichartig dem Verteidigungsministerium unterstellt und damit formal die volle Kontrolle über den militärischen Aufklärungsapparat in seinen Händen konzentriert. Durch Tewfiks Verurteilung dürfte sich die Machtbalance im Sicherheitsapparat auf unbestimmte Zeit zugunsten des Generalstabs verschoben haben.

Kurz vor den Präsidentschaftswahlen folgte der nächste Streich. Ein Gericht in Algier verurteilte 13 hochrangige Politiker und Geschäftsleute zu teils langjährigen Haftstrafen wegen Korruption und der nebulösen Finanzierung von Bouteflikas Wahlkampagne. Die beiden Ex-Premierminister Ouyahia und Abdelmalek Sellal (Front de Libération Nationale, FLN) wurden zu 15 bzw. 12 Jahren verurteilt, der ehemalige Minister für Energie, Youcef Yousfi, zu zehn und der Ex-Chef des algerischen Unternehmerverbandes FCE (Forum des Chefs d‘Entreprises), Ali Haddad, zu sieben Jahren Gefängnis. Die Symbolik des Urteils war eindeutig, hatte es doch vor allem den Zweck, Protestbewegung und Bevölkerung zu signalisieren, dass es die von Gaïd Salah geführte Staatsspitze mit ihrem Vorgehen gegen Profiteure der Bouteflika-Ära ernst meint. Zeitgleich sollte das Urteil die Bevölkerung zur Teilnahme an der Wahlmaskerade ermutigen. Denn Gaïd Salahs Versuch, mit der Abstimmung die Legitimität der politischen Führung zu erneuern und damit wieder in den Schatten einer gewählten Exekutive treten zu können, konnte nur funktionieren, wenn sich ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölkerung an dem Urnengang beteiligt. Doch schon im Vorfeld der Abstimmung zeichnete sich eine extrem niedrige Wahlbeteiligung ab.

Politisch motivierte Kandidatenkür

Die Gründe dafür waren einhellig, stand doch schon die Wahlvorbereitungsphase gänzlich in der Tradition sämtlicher unter Bouteflikas Ägide organisierter Urnengänge. Lange vor der Abstimmung war klar, dass die Wahl weder transparent noch frei ablaufen würde. Die Regierung reagierte zwar auf die Forderungen des Hirak nach einer Reform der Wahlgesetzgebung und der Gründung einer unabhängigen Wahlkommission. Das Ergebnis einer entsprechenden Gesetzesnovelle war jedoch ernüchternd. Weder das dezent reformierte Wahlgesetz noch die neu gegründete Wahlbehörde ANIE konnten die Zweifel an der Unabhängigkeit der Wahlprozeduren ausräumen. Die ANIE blieb de facto unter voller Kontrolle des Staates und der Eliten nahe stehenden Satellitenorganisationen. ANIE-Chef Mohamed Charfi bezeichnete seine Kommission zwar immer wieder als «unabhängig» und «Frucht des Hirak», doch in den Reihen der Protestbewegung machte sich kaum jemand Illusionen über die zu erwartende Parteinahme der Behörde zugunsten der Staatsklasse.

Spätestens nach der offiziellen Verkündung der für den Urnengang zugelassenen Kandidaten war klar: Algerien steht abermals eine Wahlfarce bevor. Alle fünf von der ANIE bestätigten Kandidaten galten schließlich als regimetreu und Profiteure der alten Ordnung. Neben den Bewerbungen der beiden Ex-Premierminister Ali Benflis und Abdelmajid Tebboune bestätigte die ANIE die Kandidaturen von zwei ehemaligen Ministern – dem gemäßigten Islamisten Abdelkader Bengrina und dem Interimschef des RND, Azzedine Mihoubi – sowie dem Vorsitzender der von der Staatsklasse kooptierten Partei Front El-Mostaqbal (Front der Zukunft), Abdelaziz Belaïd.

Während Bengrinas und Belaïds Kandidaturen als aussichtslos galten, wurde Benflis und Mihoubi durchaus zugetraut, sich die Unterstützung des Militärestablishments und damit den Wahlsieg zu sichern. Die Rückkehr früherer Benflis-Vertrauter auf Algeriens politisches Parkett im Sommer hatte Spekulationen genährt, er habe nach seinen erfolglosen Präsidentschaftskandidaturen 2004 und 2014 doch noch eine Chance, in den Präsidentenpalast in Algier einzuziehen. Währenddessen stellte sich die seit Algeriens Unabhängigkeit 1962 fast ununterbrochenen regierende FLN überraschend hinter Mihoubis Kandidatur. Die beiden wichtigsten zivilen, hinter Bouteflika stehenden Regimefraktionen – RND und FLN – versuchten damit offenbar, sich gegen die Wahl des als Vertrauten Gaïd Salahs geltenden Tebbounes zu stemmen. Der Interimsvorsitzende der FLN, Ali Seddiki, erklärte im Interview mit TSA Algérie, Tebboune sei weiterhin Mitglied der FLN und sitze immer noch im Zentralkomitee der Partei, sei bei der Wahl aber als Unabhängiger angetreten. Die Unklarheiten über das Ausmaß der Machtverschiebungen in der Staatsklasse sowie innerhalb und zwischen den verschiedenen zivilen und militärischen Fraktionen der herrschenden Klasse dürften angesichts dieser nebulösen Schulterschlüsse demnach auf unbestimmte Zeit bestehen bleiben. Die erheblichen Risse innerhalb der Machtelite bleiben allerdings unverkennbar.

Grotesker Wahlkampf

Der Wahlkampf war derweil an Absurditäten kaum zu überbieten, konnte doch kein Kandidat einen echten Wahlkampf machen. Wahlkampfveranstaltungen wurden wiederholt von Hirak-Aktivist*innen gestört. Ein Wahllokal wurde sogar sprichwörtlich zugemauert, Wahlurnen wurden entwendet. In den für Wahlkampfreden angemieteten Sälen herrschte gähnende Leere. Die landesweit angebrachten, für Wahlplakate der Kandidaten vorgesehenen Aufsteller wurden von Regierungsgegner*innen immer wieder mit Bildern inhaftierter politischer Gefangener geschmückt oder zur Abfallentsorgung benutzt. Fotos der Aufsteller mit daran aufgehängten Müllsäcken fluteten wochenlang die Lokalpresse und soziale Netzwerke.

Mit der eine Woche vor der Abstimmung im Staatsrundfunk übertragenen TV-Debatte zwischen den Kandidaten wollte die ANIE dem Wahltheater derweil eine gewisse Legitimität verleihen, scheiterte damit aber auf ganzer Linie. Von einer unabhängig organisierten Debatte konnte keine Rede sein, wurde sie doch von der Wahlbehörde selbst organisiert. Die Debatteninitiative Munathara hatte im Herbst 2019 in Tunesien erfolgreich mehrere Wahldebatten organisiert, der TV-Debatte in Algerien am 6. Dezember aber in einer Stellungnahme bescheinigt, internationalen Standards in Sachen Transparenz und Unabhängigkeit von staatlicher Kontrolle nicht zu entsprechen. «Dass eine Wahlbehörde eine Wahldebatte organisiert ist hochproblematisch. Wahlbehörden sind dazu da, Wahlen zu organisieren», erklärte der Munathara-Gründer, Belabbès Benkredda, gegenüber der Rosa-Luxemburg-Stiftung. «Wenn Journalisten keine Nachfragen stellen dürfen und es keine Interaktion zwischen den Kandidaten gibt, dann ist das eine Pressekonferenz und keine Wahldebatte», meint er.

Währenddessen bekamen die Proteste unmittelbar vor dem Urnengang abermals massiven Zulauf. Ein kurz vor der Wahl lancierter Generalstreik erhöhte den Druck auf die Staatsführung zusätzlich, auch wenn der Aufruf nur in Teilen des Landes signifikant befolgt wurde. Der Sicherheitsapparat intensivierte derweil sein repressives Vorgehen gegen Demonstrant*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen massiv. In Béjaïa und Bouira gingen Einsatzkräfte der vom Militär kontrollierten Gendarmerie mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Proteste vor, die sich am Vorabend des Urnengangs bis in die Nacht hinein fortsetzten. Allein in Algier sollen am Tag vor der Wahl 300 Menschen verhaftet worden sein, erklärt das Comité National pour la Libèration des Détenus (CNLD).

Die jüngsten Prügel- und Verhaftungswellen gegen die Protestierenden in Algerien dürften ein Vorgeschmack auf die kommenden Wochen sein, der Gegenwind für den Hirak (die Bewegung) wird rauer. Algerische Sicherheitskräfte drohen Protestierenden mit Gewalt während einer Demonstration in der Hauptstadt Algier am 12. Dezember 2019, Foto: Stringer / AFP

Aufgeheizte Stimmung am Wahltag und Polemik gegen Tebboune

Die Präsidentschaftswahlen am 12. Dezember verliefen dabei alles andere als ruhig. Während die staatliche Propagandamaschinerie mit allen Mitteln versuchte, die 24,5 Millionen Wahlberechtigten zur Stimmabgabe zu animieren, fand der Urnengang angesichts des zunehmend auf Eskalation setzenden Sicherheitsapparates in einer mehr als aufgeheizten Stimmung statt. Großdemonstrationen in zahlreichen Städten, gestürmte und blockierte Wahllokale, zerstörte Wahlurnen und eine vielerorts verschwindend geringe Wahlbeteiligung hatten Gaïd Salahs Pläne, eine als legitim geltende Staatsführung zu installieren, erfolgreich durchkreuzt.

Die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben bei 40 Prozent. Ein mehr als unglaubwürdiger Wert, herrschte in Wahllokalen doch überwiegend gähnende Leere. Voll war es stattdessen auf den Straßen. Allein in Algier zogen den ganzen Tag über zehntausende Menschen lauthals Parolen skandierend durch die Stadt. Das Zentrum des Widerstandes gegen die Abstimmung war jedoch einmal mehr die Kabylei. Zahlreiche Wahllokale blieben in den Provinzen Tizi Ouzou, Béjaïa und Bouira geschlossen oder wurden von Demonstrant*innen stundenlang blockiert. Nirgendwo im Land war die Wahlbeteiligung so niedrig wie hier. In einer Gemeinde nahe Béjaïa hatten Protestler*innen schon morgens zwei Wahllokale gestürmt und in einem davon offenbar bereits mit Wahlzetteln gefüllte Urnen gefunden. In Béjaïa, Tizi Ouzou und Bouira kam es zu kurzweiligen Auseinandersetzungen zwischen Gendarmerie und Protestierenden. Ein Büro der ANIE in Bouira wurde angezündet und brannte aus. In Tizi Ouzou wurde der Urnengang aus Sicherheitsgründen sogar komplett ausgesetzt.

Auch in Algier kam es zu tumultartigen Szenen. Sicherheitskräfte versuchten immer wieder die Demonstrationen gewaltsam aufzulösen und gingen mit Knüppeln und Tränengas gegen sie vor. Dutzende Menschen wurden verletzt, unzählige Demonstrant*innen vorübergehend verhaftet. Auch am Tag nach der Wahl gingen die Proteste weiter. Der Sicherheitsapparat scheint derweil seine monatelang anhaltende Zurückhaltung gegenüber den friedlichen Demonstrationen endgültig aufgegeben zu haben, geht er doch seit der Abstimmung deutlich repressiver gegen sie vor. Der Prügel- und Verhaftungsexzess gegen die Proteste in Oran am 13. Dezember 2019 dürfte dabei ein Vorgeschmack auf die kommenden Wochen sein, der Gegenwind für den Hirak wird rauer.

Nach Angaben der ANIE gewann Tebboune den Urnengang derweil mit einem komfortablen Vorsprung. Der 74-Jährige erzielte mit 58,13 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit im ersten Wahlgang und verwies seine vier Kontrahenten damit deutlich auf die Plätze. Eine Stichwahl, die nötig geworden wäre wenn kein Kandidat in der ersten Wahlrunde eine absolute Mehrheit erzielt hätte, fällt damit aus. Angesichts der zunehmenden Repressalien des Sicherheitsapparates gegen die Protestbewegung hat diese derzeit eigentlich nicht viel zu lachen, sie reagierte aber auf Tebbounes Wahl mit einer neuerlichen Welle an beißendem Sarkasmus und Polemiken. Neuester Trend bei den Protesten ist es seit Bekanntgabe der Wahlergebnisse nämlich, Mehltüten aufzureißen und deren Inhalt über den Köpfen von Protestierenden zu verteilen – eine unmissverständliche Anspielung auf die angebliche Verwicklung von Tebbounes Sohn in die sogenannte «Kokain-Affäre». Im Mai 2018 hatten algerische Zollbehörden im Hafen von Oran 701 Kilogramm Kokain beschlagnahmt. Auf die Verhaftung von Kamel Chikhi, dem die Einfuhr des Kokains zur Last gelegt wird, folgte eine Verhaftungswelle gegen Politiker, Beamte und Kinder hochrangiger Offizieller. Auch Tebbounes Sohn Khaled wurde inhaftiert und sitzt seit Juni 2018 in Algier in Haft. Er wird beschuldigt, den Einfluss seines Vaters genutzt zu haben, um Chikhi eine Baugenehmigung zu verschaffen. Auch Geldwäschevorwürfe stehen im Raum.

Ausblick – Eskalation in Zeitlupe

Während Algeriens neuer Staatschef nach der umstrittenen Wahlfarce praktisch keine Legitimität im Land besitzt, gehen die Proteste gegen die Staatsklasse unvermindert weiter. Ein Ende der Massenbewegung ist nicht in Sicht. Dennoch dürfte sich die Stimmung im Land in den kommenden Monaten weiter aufheizen, setzt doch nicht nur der Sicherheitsapparat zunehmend auf Repressalien gegen Demonstrant*innen. Auch die Justiz agiert ganz im Sinne der Staats- und Militärführung und fällt bereits seit Monaten politisch motivierte Urteile gegen Protestler*innen, Aktivist*innen, Gewerkschaftler*innen und Oppositionelle am Fließband. Anfang Dezember kritisierte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die zunehmenden Repressalien gegen den Hirak im Vorfeld des Urnengangs scharf. In einer Stellungnahme des Amnesty-Büros in Algier zeigt sich die Organisation besorgt über den «beträchtlichen» Anstieg an Verhaftungen während der Wahlkampagne und die zunehmend «feindliche» Rhetorik der Staatsführung gegen die Bewegung.

Nach einer Wahlkampfveranstaltung von Benflis im westalgerischen Tlemcen hatte ein örtliches Gericht vier verhaftete Demonstrant*innen wegen «Anstiftung zu unbewaffneter Zusammenrottung» zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, 14 weitere kamen mit Bewährungsstrafen davon. In Algier müssen sich derweil dutzende Menschen wegen «Gefährdung der nationalen Sicherheit» oder «zivilem Ungehorsams» verantworten. Auch gezielte Verhaftungen bekannter Aktivist*innen nehmen seit Wochen massiv zu. Zuletzt traf es den Karikaturisten Abdelhamid Amine, der in Oran zu drei Monate Gefängnis und neun Monaten auf Bewährung verurteilt worden war, und den unabhängigen Gewerkschaftler und Präsidenten des Büros der algerischen Menschenrechtsliga LADDH (Ligue Algérienne pour la Défense des Droits de l‘Homme) in Oran, Kaddour Chouicha. Zwei Tage vor der Präsidentschaftswahl war dieser in Oran verhaftet und in einem Schnellverfahren zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden.

Während der oppositionelle Chef der linken Partei UDS (Union Démocratique et Sociale), Karim Tabbou, bereits seit September in Untersuchungshaft sitzt, haben Sicherheits- und Justizbehörden praktisch die gesamte Leitungsetage des seit Protestbeginns äußerst aktiven Jugendverbandes RAJ (Rassemblement Action Jeunesse) internieren lassen. Neben RAJ-Präsident Abdelouhab Fersaoui, dem Mitbegründer der Gruppe Hakim Addad sowie dem Aktivisten Djalal Mokrani sitzen mindestens fünf weitere Mitglieder der Organisation hinter Gittern. Landesweit soll es mehr als 200 politische Gefangene geben. Dutzende Aktivist*innen, Demonstrant*innen oder Journalist*innen stehen derweil unter juristischer Aufsicht und hunderte Hirak-Aktivist*innen oder Demonstrant*innen müssen sich in den kommenden Monaten wegen unterschiedlichster angeblicher Vergehen vor Gericht verantworten.

Das zunehmend politisierte Vorgehen der Justiz gegen die Protestbewegung ist angesichts der immer aggressiver werdenden Rhetorik Gaïd Salahs und der verstärkt auf Gewalt setzenden Sicherheitskräfte mehr als besorgniserregend. Bisher hielt der Hirak sämtlichen Provokationsversuchen der Staatsführung stand und konnte den friedlichen Charakter der Proteste weitgehend konsequent bewahren. Unabhängig davon, wie sich die politische Gemengelage in den kommenden Wochen entwickeln wird und ob sich die Staatsklasse nicht doch auf politische Konzessionen gegenüber der Bewegung einlässt, ist die Friedfertigkeit der Proteste einziger Garant dafür, eine gewaltsame Konfrontation zwischen aufbegehrender Bevölkerung und Staatsführung zu verhindern. Eine solche wäre verheerend und Wasser auf den Mühlen der bereits deutlich spürbaren konterrevolutionären Dynamik im Land.

Derweil läuft beiden Seiten die Zeit davon, denn Algerien bewegt sich auf eine beispiellose Krise der Staatsfinanzen zu. Das Land ist strukturell hochgradig abhängig vom Erdöl- und Erdgasexport, der rund 98 Prozent der Deviseneinnahmen und 60 bis 70 Prozent des Staatshaushalts akquiriert. Seit dem Einbruch der Weltmarktpreise für Kohlenwasserstoffe Ende 2014 hat sich Algeriens Staatsbudget halbiert. Die Währungsreserven schrumpfen in atemberaubender Geschwindigkeit und dürften das Land noch maximal drei Jahre über Wasser halten. Von den 195 Milliarden US-Dollar, die Algerien Anfang 2015 als Reserven angesammelt hatte, standen im April 2019 nur noch 72,6 Milliarden zu Buche. Bis Ende 2020 sollen die Reserven auf 51,6 Milliarden US-Dollar abgesunken sein.

Während dem Land zwangsläufig tiefgreifende Wirtschaftsreformen und eine Anpassung des sozialen Wohlstaatsmodells bevorstehen, verhindert die aktuelle politische Krise eine breite Debatte darüber, wie Algeriens Wirtschafts- und Sozialmodell in Zeiten nach der Ölrente aussehen könnte. Die beharrlich an den Schalthebeln der Macht ausharrende Staatsklasse setzt eindeutig auf eine Fortsetzung des Rentenmodells, das weder ausreichend Arbeitsplätze für die überwiegend junge algerische Bevölkerung bereitzustellen vermag noch der Monopolisierung der Öleinnahmen durch die Staats- und Armeeführung wirksam etwas entgegensetzen kann.

Bereits seit Jahrzehnten fordern oppositionelle Kräfte eine Neuausrichtung und Diversifizierung der algerischen Wirtschaft. Die alten Machteliten hielten jedoch beharrlich am Rentenmodell fest und versuchten auch im Schatten der anhaltenden Proteste, die Öl- und Gasförderung und damit die Renteneinnahmen weiter auszubauen. Das im Herbst 2019 von der Regierung handstreichartig reformierte Kohlenwasserstoffgesetz erlaubt nicht nur die Ausweitung der Förderung von Schiefergas, die in den betroffenen Regionen bereits 2017 massive Proteste ausgelöst hatte, sondern erleichtert auch ausländischen Energiekonzernen, in Algerien zu investieren. Entsprechend werden die Entwicklungen in Algerien nicht nur in Europa und den USA aufmerksam verfolgt, sondern auch in Russland und China, die ebenfalls darauf hoffen, von einem Zusammenbruch der algerischen Staatsfinanzen profitieren zu können und im Windschatten einer solchen Krise in dem wirtschaftlich stark isolierten Land endlich umfassender Fuß fassen zu können.