Die umfassend aktualisierte vierte Auflage über das einmalige basisdemokratische und geschlechterbefreite Projekt im Westen Kurdistans berücksichtigt die unübersichtliche, sich ständig verändernde Lage vor Ort.
Als sich Anfang der 1990er Jahre der Krieg in Nord-Kurdistan (Südosten der Türkei) auf seinem Höhepunkt befand, entstanden auch in Deutschland Solidaritätsinitiativen, die gegen die offene Unterstützung Deutschlands für den NATO-Partner Türkei protestierten. Fernsehmagazine zeigten Bilder von toten Guerilla-Kämpfer*innen und Zivilist*innen, die von aus Deutschland gelieferten Radpanzern der ehemaligen Nationalen Volksarmee (NVA) durch kurdische Orte geschleift wurden. Dagegen gab es auf Deutschlands Straßen Demonstrationen von Zehntausenden Kurd*innen und Internationalist*innen. Um diese Kritik und Solidarität der deutschen Bevölkerung zu unterbinden, wurde 1993 ein Betätigungsverbot für die Arbeiter*innenpartei Kurdistans (PKK) und Dutzende kurdische Vereine ausgesprochen, das zum Teil sein Ziel erreichte: Intellektuelle und Politiker*innen hatten zunehmend Berührungsängste im Umgang mit der als terroristisch stigmatisierten kurdischen Befreiungsbewegung. Auch große Teile der deutschen Linken gingen aus unterschiedlichen Gründen auf Distanz.
Die Situation begann sich zu ändern, als 2003 ein vom PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali geschriebenes Buch unter dem deutschen Titel «Gilgameschs Erben» erschien. Die darin formulierte Absage an jegliche – auch kurdische – Formen des Nationalismus, die generelle Kritik am Staat, auch des realsozialistischen, und der Vorrang der Frauenbefreiung führte vielerorts zu Diskussionen und neuem Interesse an der «kurdischen Frage». 2009 fand in Diyarbakir (Amed) das erste Mesopotamische Sozialforum statt, an dem sich mehrere Hundert Menschen aus Europa beteiligten. Im Austausch mit kurdischen Jugend- und Frauenorganisationen wurde die neue Idee der kurdischen Befreiungsbewegung – der Demokratische Konföderalismus – intensiv diskutiert. Einige der Teilnehmer*innen gründeten daraufhin 2010 in Deutschland die Kampagne «TATORT Kurdistan». Eines ihrer Ziele bestand darin, gemeinsam mit der Friedensbewegung Aktionen gegen die nach wie vor bestehende militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei durchzuführen.
Breite Proteste und Bündnisse gab es auch gegen den Bau des Ilisu-Staudammes, der die historische Stadt Hasankeyf am Tigris und 199 Dörfer unter Wasser zu setzen droht. Sie führten in einmaliger Weise dazu, dass deutsche, schweizerische und österreichische Banken, Baufirmen und Regierungen die Zusammenarbeit beendeten.
Angeregt durch die Diskussionen beim Mesopotamischen Sozialforum beschäftigten sich die an der Kampagne TATORT Kurdistan beteiligten Personen darüber hinaus intensiv mit dem Demokratischen Konföderalismus und seiner Umsetzung in Nord-Kurdistan. Im September 2011 bereiste aus diesem Grund eine zehnköpfige Gruppe von «TATORT Kurdistan» verschiedene Städte und Dörfer in Nord-Kurdistan. Bei Gesprächen mit zahlreichen Kooperativen, Akademien sowie Frauen- und Jugendorganisationen vor Ort erhielt die Gruppe einen Eindruck davon, wie sich die kurdische Bevölkerung basisdemokratisch selbst organisierte. Und dies trotz der Repressionen der türkischen Regierung, die damals Tausende Aktivist*innen im Rahmen der KCK-Verfahren in Gefängnisse steckte. Die Eindrücke der Gruppe und zahlreiche Interviews erschienen 2012 als Broschüre «Demokratische Autonomie in Nordkurdistan». 2012 gelang es den Kurd*innen in Syrien, sich im Machtvakuum des syrischen Bürgerkriegs größtenteils von der Herrschaft der regierenden Baath-Partei unter Präsident Assad zu befreien. Umgehend wurde von der Bevölkerung mit der Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus in den drei Regionen (Kantonen) Rojavas – Afrîn, Kobanî und Cizîre – begonnen. Unter Kriegsbedingungen nahmen die Kurd*innen in diesen Gebieten zusammen mit den verschiedensten ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen die Selbstverwaltung in Angriff. Dabei wurde das Projekt dadurch erschwert, dass neben der eigenen Bevölkerung auch Hunderttausende Kriegsflüchtlinge aus anderen Teilen Syriens versorgt werden mussten, wobei es nicht die geringste internationale Hilfe durch UN-Organisationen gab. Eine große Belastung stellte auch ein wirtschaftliches Embargo dar, das sowohl durch die Türkei, an welche die Kantone Rojavas angrenzen, als auch durch die kurdische Autonomieregion im Nordirak aufgrund innerkurdischer Rivalitäten verhängt wurde. Mit logistischer Unterstützung durch die Türkei nahmen auch schnell die Angriffe islamistischer Milizen wie der al-Nusra-Front und des Islamischen Staates (IS) auf die kurdischen Kantone zu.
Unter erschwerten Bedingungen gelang es den Autor*innen dieses Buches, sich im Mai 2014 vier Wochen lang im Kanton Cizîre aufzuhalten und zahlreiche Gespräche zu führen. Ihre Eindrücke und Recherchen sind Inhalt dieses Buches. Wenige Monate nach ihrer Abreise rückte der Kanton Kobanî über Wochen ins Zentrum des Weltinteresses. Der IS griff Kobanî in der Hoffnung an, die Stadt in wenigen Tagen einnehmen zu können. Doch der aufopferungsvolle Widerstand der kurdischen Verteidigungskräfte YPG/YPJ konnte die Angreifer aufhalten und sie nach mehrmonatigen Kämpfen vertreiben – auch dank der auf Druck der Weltöffentlichkeit unternommenen Luftangriffe durch die von den USA geführte Koalition. Am 1. November 2014 beteiligten sich weltweit Hunderttausende an Solidaritätsaktionen mit Kobanî. Während sich zunächst die meisten fragten, woher im Mittleren Osten «plötzlich» bewaffnete Fraueneinheiten kamen, die das Patriarchat radikal infrage stellen, richtete sich das Interesse später immer stärker auch auf das gesellschaftliche Modell, welches diesen Umbruch beförderte. Die Demokratische Autonomie wird von immer mehr Menschen als wirkliche Alternative gesellschaftlicher Organisierung im Mittleren Osten betrachtet.
Doch wie kann internationale Solidarität aussehen? Zunächst hat der Wiederaufbau von Kobanî und anderen befreiten Orten Priorität. Viele können hierzu beitragen. Wichtig ist aber auch die Unterstützung des anhaltenden Widerstandes von Afrîn, welches im März 2018 vom türkischen Staat militärisch weitgehend besetzt wurde, woraufhin Hunderttausende fliehen mussten. Es muss öffentlich Druck auf die immer aggressiver werdende Türkei ausgeübt werden, die Angriffe auf Rojava einzustellen und auch das Embargo aufzuheben. Innenpolitisch muss in Deutschland das nach wie vor bestehende Betätigungsverbot der PKK aufgehoben werden, welches seit März 2017 auch die syrisch-kurdischen Organisationen PYD, YPG und YPJ durch das irrwitzige Verbot des Zeigens der Symbole dieser Organisationen betrifft. Es stellt sich für die deutsche Linke natürlich auch die Frage, welche Entwicklungen in Rojava hierzulande übertragbar sind. Die Anknüpfungspunkte an die europäische rätedemokratische Tradition der Arbeiter*innenbewegung wie etwa die Pariser Commune von 1871, die Novemberrevolution von 1918 und die Spanische Revolution von 1936 sind durch den Faschismus und den danach herrschenden Antikommunismus zum großen Teil verschüttet worden. Die Revolution in Rojava kann hier als Katalysator dienen, sich wieder mit gesellschaftlicher Selbstorganisation zu befassen, welche die Allmacht des Staates infrage stellt.
Dieses Buch, welches erfreulicherweise nun zum vierten Mal gedruckt wird und bereits in neun Sprachen erschienen ist, soll in diesem Sinne einen Beitrag leisten. Es zeigt das breite Interesse an einer der wichtigsten Revolutionen des 21. Jahrhunderts. Während die dritte Auflage von den drei Autor*innen komplett überarbeitet wurde, wurden für diese Auflage die Einleitung, Kapitel 2, Kapitel 3, Kapitel 4 sowie Kapitel 6 (Entwicklung des politischen Systems; der Begriff «demokratisch-autonome Verwaltungen» wurde durch «Demokratische Selbstverwaltung» ersetzt), Kapitel 9, das Kapitel 15.8 über den IS («Schwarze Fahne – der Kampf gegen den IS») und Kapitel 16 (Perspektiven) aktualisiert. Das hat zum einen Kapazitätsgründe, zum anderen stellt dies keine inhaltliche Beeinträchtigung dar, denn es geht um die Vermittlung des Kerns und der grundlegenden Dynamik des revolutionären Prozesses in Rojava, der sich ab 2015 auch auf weitere befreite Gebiete in Nordsyrien ausgeweitet hat, die unter der Bezeichnung «Demokratische Föderation Nordsyrien» zusammengefasst werden. Trotz großer Schwierigkeiten lassen die Entwicklungen nach wie vor hoffen … Die Hoffnung lassen wir uns nicht wegnehmen!
Kampagne TATORT Kurdistan, August 2018
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Das gedruckte Buch ist bei VSA: Verlag erhältlich.
Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp:
Revolution in Rojava
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo
4., aktualisierte Auflage VSA: Verlag 2018
ISBN 978-3-89965-889-7
Erstveröffentlichung: März 2015
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit TATORT-Kurdistan.
Die Fotos im Buch stammen, wenn nicht anders angegeben, von den Autor*innen selbst. Manche der Fotos sind wegen fehlender Lizenzen in der Online-Version geschwärzt.