Publikation Geschlechterverhältnisse - Cono Sur - Andenregion - Brasilien / Paraguay - Mexiko / Mittelamerika / Kuba - Feminismus 8 Thesen zur feministischen Revolution

Impulse aus Argentinien, wo alles begann

Information

Reihe

Buch/ Broschur

Autor*in

Verónica Gago,

Erschienen

Februar 2020

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Zugehörige Dateien

Das Potenzial revolutionären Begehrens

Ein Vorwort von Alex Wischnewski

Die Bewegung für einen internationalen feministischen Streik setzt derzeit ungeahnte Kräfte frei und verändert die politische Grammatik in einer Vielzahl von Ländern. Als am 8. März 2019 das erste Mal auch in Deutschland zum Streik aufgerufen wurde, traf das offensichtlich einen Nerv. In kurzer Zeit gründeten sich über 40 lokale und regionale Netzwerke, an den bundesweiten Streikversammlungen beteiligten sich mehrere Hundert Feminist*innen mit unterschiedlichsten Hintergründen und die dezentralen Aktivitäten und Demonstrationen am 8. März zeigten nicht nur eine neue Kreativität und Kraft, sondern überstiegen auch die Zahlen der vergangenen Jahre, ja Jahrzehnte. Rund 80.000 Menschen gingen im ganzen Land auf die Straße.

Alex Wischnewski ist Programmleiterin Feminismus für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Und trotzdem kam danach die kritische Frage auf, wie denn bloß der feministische Streik dieselbe Größenordnung wie in anderen Ländern erreichen kann. Sehnsüchtig richtet sich der Blick nach Argentinien, wo die weltweite Bewegung angestoßen wurde. Ab 2015 mobilisierte das Kollektiv NiUnaMenos Hunderttausende gegen Gewalt gegen Frauen. In Reaktion auf einen besonders brutalen Femizid wurde 2016 innerhalb einer Woche der erste feministische Streik am 19. Oktober organisiert, der Massen bewegte und Impulse für weitere und immer breitere Mobilisierungen setzte. Nicht nur die folgenden internationalen Streiks am 8. März jedes Jahr, sondern auch die marea verde («grüne Welle») für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Am 34. Plurinationalen Treffen von Frauen und Queers (ehemals: Nationales Frauentreffen) im Oktober 2019 beteiligten sich rund 250.000 Menschen.

Die Autorin Verónica Gago war und ist bei all dem mitten drin und markiert diese Situiertheit in der argentinischen Bewegung als Ausgangspunkt. Die vorliegenden Thesen sind deshalb eine militante Untersuchung: Sie sind nicht nur eine Dokumentation der Ereignisse, sondern auch Teil eines kollektiven Organisierungsprozesses. Verónica Gago lenkt damit den Blick sowohl auf die Besonderheiten in Argentinien als auch auf einen feministischen Transnationalismus als praktische Kartografie von vielfältigen Stimmen, die zwangsläufig in ihren regionalen Kontexten begründet sind (vgl. These 6).

Verónica Gago ist Teil von NiUnaMenos, Mitbegründerin des militanten Forschungskollektivs Colectivo Situaciones und Professorin für Soziologie an den Universitäten von Buenos Aires und San Martín. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel in Zeitschriften und Büchern, die in Lateinamerika, Europa und den USA veröffentlicht wurden. Die Thesen stammen aus ihrem neuesten Buch «La potencia feminista», das im Laufe diesen Jahres bei Verso Books auf Englisch erscheinen wird.

In Argentinien geschah das feministische Aufbegehren in dieser gleichzeitig radikalen und massiven Weise nicht spontan, sondern konnte an eine lange Aufbauarbeit anknüpfen und dadurch die historischen Kämpfe aktualisieren (vgl. These 3). Damit wird aber auch ein Unterschied zu den Bedingungen deutlich, in denen in Deutschland der feministische Streik vorbereitet wurde und wird. 1994 hatte unter der Beteiligung von schätzungsweise einer Million Frauen der erste Frauenstreik in Deutschland stattgefunden. Die zentralen Forderungen des damaligen Protests – etwa die Entkriminalisierung von Abtreibungen – wurden jedoch nicht umgesetzt. Die Bewegung zerbrach anschließend an den unterschiedlichen Vorstellungen ihrer Akteurinnen und machte akademischen und institutionellen Auseinandersetzungen Platz. Nach langer Zeit der Stille werden feministische Proteste erst seit wenigen Jahren wieder sichtbarer, werden neue Formen und Allianzen gesucht und erprobt. Die Bezugnahme auf die Vergangenheit kommt dabei allerdings häufig zu kurz.

Aber nicht nur im Feminismus ist die deutsche Streik- und Protestgeschichte von Brüchen gekennzeichnet. Große Proteste bildeten lange Zeit eine Seltenheit. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fanden Streiks im engen und kontrollierten Rahmen des Tarifrechts statt und ihre Anzahl nahm kontinuierlich ab. Erst in jüngster Zeit ändert sich dieser Trend – sei es bei den großen #unteilbar- oder Fridays for Future-Demonstrationen oder bei betrieblichen Streiks, die interessanterweise gerade in frauendominierten Branchen zunehmen.

Wenn aber Wissen, Erfahrungen und die Artikulation des Streiks situiert sind, also abhängig vom jeweiligen Standpunkt und Kontext – dann stellt sich die Frage, wie die Bewegung in Deutschland an die internationalen Impulse anknüpfen und sie sich produktiv auf sie beziehen kann.

Sicher ist: die vorliegenden Thesen sind nicht einfach eine Anleitung zur feministischen Revolution.

Zunächst einmal fordern sie dazu auf, die Nähe zwischen ganz verschiedenen Kämpfen herzustellen, transnational ebenso wie an einem Ort. Dabei geht es nicht um die Erkenntnis einer natürlichen Verbindung, sondern um die praktische Arbeit des Verknüpfens.

Zum anderen werfen sie Fragen auf, auch wenn die Antworten aus der eigenen Bewegung heraus gefunden werden müssen: Was ist ein/mein Streik (These 1)? Welche Gewaltformen erleben Frauen und Queers in verschiedenster Form und Ausprägung tagtäglich und wie benennen wir sie, ohne uns zu Opfern machen zu lassen (These 2)? Wo und welcher Art sind die Orte, an denen wir zusammenkommen, uns austauschen, Brücken schlagen und Gegenmacht aufbauen, die sich in einer Vielfalt von Bereichen bemerkbar macht (These 5)?

Die Thesen von Verónica Gago entstammen der kollektiven Praxis und sind auch für sie gemacht. Sie eignen sich in besonderer Weise dafür, zusammen gelesen und diskutiert zu werden.

Und schließlich sind die vorliegenden Thesen die Zusammenfassung und Zuspitzung des Buches «La potencia feminista» von Verónica Gago, das nicht nur im Titel auf das Potenzial und die neuartige Macht verweist, die die feministische Bewegung durch den Wunsch, alles zu verändern, entwickelt: das Potenzial, Grenzen infrage zu stellen, die unserem Denken und Handeln gesetzt werden. Insofern geben sie Impulse, die eigenen Gegebenheiten nicht nur zu untersuchen, sondern auch grundsätzlich in Frage zu stellen. Es ist dabei nicht nebensächlich, dass diese Aufforderung aus dem Globalen Süden kommt und zusehends den Norden erreicht.

Damit setzen die Thesen schließlich revolutionäres Begehren frei. Also ja, sie sind keine Anleitung bis hin zur feministischen Revolution, aber eine Erschütterung, die eine solche in Bewegung setzen kann.
 

Download PDF