Ein gut besuchter Paderborner Abend mit italienischer Theorie, initiiert vom Linken Forum Paderborn: Unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen sei die Vorstellung, Herrschaft werde ausgeübt mittels direkter Gewaltanwendung und offener Repression, teilweise hinfällig geworden, so der italienische Philosoph und linke Politiker Antonio Gramsci (1891-1937). Er beschrieb schon in 1920er Jahren einen (bürgerlich-demokratischen) Herrschaftstyp, den er als Ausübung einer „kulturellen Hegemonie“ (Vorherrschaft) kennzeichnete. Die Berliner Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Dr. Sabine Kebir stellte beim Linken Forum die viel diskutierten Thesen Gramscis vor.
In der ersten Ausgabe der Zeitung L’Ordine Nuovo (Die neue Ordnung) vom Mai 1919, herausgegeben von Antonio Gramsci und adressiert an die Turiner Fabrikarbeiter, war zu lesen: „Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit!“ Dieser Aufruf zur Herausbildung eines eigenständigen kulturellen Bewussteins der Lohnabhängigen blieb zeitlebens ein programmatischer Leitgedanke des undogmatischen und antiautoritären Kommunistenführers Gramsci. Dabei bediente er sich eines weiten Kulturbegriffs, der sowohl klassische Kulturgüter als auch die Arbeitsbedingungen, die Medien, das Bildungswesen und die kulturellen Einrichtungen umfasste. Die Arbeiter, so Gramsci, sollten in Form von selbstgeschriebenen Betriebsreportagen das Bewusstsein für ihre Stellung in der Produktion erlangen, sie sollten eigene Theater, Schulen und Zeitungen gründen - der „lesende Arbeiter“ Brechts kündigt sich an. „Einher damit ging die Zurückweisung jeder Vorstellung einer „Erziehungsdiktatur“ durch eine kaderförmig organisierte Avantgardepartei. Für Gramsci sind alle Menschen „Intellektuelle“ mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Aufgaben. Jeder soll die Rolle des Lehrers und des Schülers ausüben können“, fasste Sabine Kebir einige bildungspolitische Überlegungen Gramscis zusammen.
Im Zentrum der unter langjährigen Haftbedingungen im faschistischen Italien entwickelten Überlegungen Gramscis steht der Begriff der „kulturellen Hegemonie“. Darunter verstand er die Vorherrschaft einer gesellschaftlichen Gruppe, der es gelingt, sich mittels einer Vielzahl politischer Kräfte aus Institutionen, sozialen Beziehungen und Ideen zu einem „historischen Block“ zu formieren. Kebir verdeutlichte ein solches Zusammenwirken am aktuellen Beispiel der „Think Tanks“. Denkfabriken wie der Bertelsmann-Stiftung oder der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ sei es gelungen, gemeinsam mit der tonangebenden Politik und einflussreichen Gruppen aus Wirtschaft und öffentlichem Leben einen neoliberalen Herrschaftsblock auszubilden. Kebir: „Nach Gramsci besteht nun die emanzipatorische Aufgabe der unterdrückten Klassen darin, in einem fortgesetzten Lernprozess eine „zivilgesellschaftliche“ Gegenmacht von unten aufzubauen“. Einige Veranstaltungsteilnehmer äußerten, dass es gegenwärtig Anzeichen für eine so sich entwickelnde neue Protestkultur auf Dauer gebe.
Eine Reihe von Fragen grundsätzlicher Art wurden gestellt. Wie kann denn eine kulturelle Hegemonie unter den gegenwärtigen Bedingungen errungen werden? Wie müssen sich Parteien heute aufstellen, um hegemonial zu werden? Das Phänomen des Zuspruchs zu den Grünen muss näher analysiert werden. Auf der kommunalen Ebene heißt das aktuell, den Kampf gegen die Schließung von Bibliotheken oder anderen kulturellen Einrichtungen zu führen.
Reinhard Borgmeier