Analyse Parteien / Wahlanalysen Richtungswahlen oder regionale Momentaufnahmen?

Anmerkungen zu den Landtagswahlen nach Schleswig-Holstein und vor NRW

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Mai 2022

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Landeshaus in Kiel
Landeshaus in Kiel CC BY-SA 4.0, Matthias Süßen

Seit dem Herbst 2021, seit den Bundestagswahlen vom 26. September 2021, findet sich Deutschland in einem veränderten politischen Raum wieder. Seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine, findet sich die Welt in einer veränderten internationalen Ordnung - präziser: Unordnung - wieder. Die mit beiden Zäsuren verbundenen Entwicklungslinien überlagern sich, überkreuzen sich, rivalisieren auf dem Markt der Aufmerksamkeiten. In Wahlkampfzeiten und an Wahltagen gilt dies in besonders ausgeprägter Weise - mit den Interessen und Befindlichkeiten gesellschaftlicher Strömungen, sozialer Milieus und politischer Parteien wie Parteiungen als Katalysator.

Am Ende werden Wahlen von politischen Parteien gewonnen oder verloren. In einem föderalen System sind dafür regionale Besonderheiten und Umstände von nicht wegzudenkender Bedeutung - wenn auch immer Wahlen an einem Ort von den Akteuren andernorts auf Befunde über das Große Ganze und als Richtungsimpuls für oder gegen die eigenen Interessen befragt werden. Eine ernsthafte Analyse darf sich darauf nicht verengen (lassen).

Als das auf den ersten Blick auffälligste Resultat der sechzehnjährigen Ära Merkel mag für längere Zeit bestehen bleiben, dass das traditionelle deutsche Parteiensystem aus den Fugen geraten ist. Innovationen im System hatte es immer mal wieder gegeben, nachdem sich das Drei-Parteien-Modell am Ende der Adenauer-Zeit konsolidiert hatte: zuerst die Grünen, dann nach der Vereinigung Deutschlands die PDS, aus der später DIE LINKE wurde, und schließlich, schon unter Merkel, die AfD. Doch nicht das ist gemeint. Es geht um Kräfteverhältnisse im Wandel, um das (mgw. nur vorläufige) Ende der großen Volksparteien, um das Aufkommen starker Konkurrenz durch mittelgroße Parteien. Die damit verbundenen tiefgreifend veränderten gesellschaftlichen Fragestellungen, die sozialen und soziokulturellen Umschichtungen, die die Gesellschaft strukturierenden Spannungsverhältnisse zwischen Aufbruch im bzw. zum Wandel einerseits und Verweigerung von Wandel andererseits, zwischen Weltoffenheit und Rückzug, die faktisch begonnene breite Neudefinition von Liberalismus und Fortschritt nach der neoliberalen Dominanz – all das ist nicht jählings im Herbst 2021 aufgebrochen und hat die Parteienlandschaft aufgesprengt, sondern war durch Merkels situativ bestimmten Regierungsstil ultrapragmatisch weitgehend unter Kontrolle gehalten und durch ihre Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ lange Zeit überlagert worden.

Die neue Koalition im Bund will sich diesen Entwicklungen als ein „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit" stellen und „mehr Fortschritt wagen“. „Tatsächlich weht der Zeitgeist in Deutschland inzwischen wieder progressiv“, stellte Tobias Dürr schon vor über zehn Jahren fest. „In den jüngeren Gruppen unserer Gesellschaft wächst längst die Nachfrage nach einer modernen und dynamischen Interpretation sozialer Demokratie für das 21. Jahrhundert. Eine energische Politik der Aufstiegschancen für alle besäße heute beträchtliche Attraktivität; die Idee des vorsorgenden Investierens in Menschen und ihre Fähigkeiten genießt völlig zu Recht wachsende Zustimmung.“ (Dürr 2008).

Nun also in der Tat Deutschland progressiv umzugestalten – sozial-liberal und sozial-ökologisch zugleich  –, wird die in der Merkel-Ära großteils noch unter der Decke gehaltenen Konflikte der Interessen, Bestrebungen und Einstellungen nicht weiter dämpfen, sondern ihnen Ausdruck verleihen und auf Konflikte zuspitzen. Der Wandel der Parteien und gesellschaftlichen Parteiungen ist nicht an sein Ende, sondern nur an das Ende seiner Vorphase gekommen. Kräfteverhältnisse, Inhalte, Akteure werden künftig offen und dynamisch immer aufs Neue definiert, herausgefordert und wieder in Frage gestellt werden. Was daraus folgt, wie und wann sich die politischen Verhältnisse möglicherweise. wieder konsolidieren, vermag im Moment wohl niemand abzusehen. Gleichwohl ist an den ersten großen Herausforderungen der 20. Legislaturperiode - der nicht enden wollenden Corona-Pandemie und vor allem dem russischen Krieg gegen die Ukraine - ablesbar, wie tief der Wandel in Politik und politisches System eingreift, wie weit die politischen Akteure davon erfasst werden und auch, wo sie hinter den Herausforderungen zurückbleiben.

Bemerkenswerterweise ist zum Finale der Ära Merkel und zum Auftakt des progressiven Bündnisses nur eine Partei zur Kleinpartei, noch dazu in prekärer Lage, herabgestuft worden: DIE LINKE. Von vornherein hatte die Wählerschaft in Umfragen gezeigt, dass sie den Rückzug Angela Merkels für angemessen hält, beim Wählen selbst dann den progressiven Neustart in die Wege geleitet – und zugleich dafür gesorgt, dass er ohne die radikale Linke erfolgen wird: für r2g, ein Bündnis aus SPD, Grünen und der LINKEN, das immer wieder durch die politische Landschaft geisterte, aber nie wirklich ernsthaft betrieben wurde, gab es 2021 keine Mehrheit. Und DIE LINKE selbst, die zeitweise von zweistelligen Ergebnissen träumen konnte, wurde mit ihren nicht einmal fünf Prozent der Stimmen nur durch drei Direktmandate vorerst gerettet. Sie fand sich am prekären Rand der Parteienlandschaft wieder; die Bundestagsfraktion schrumpfte von 69 auf 39 Mitglieder.

Auch das war keine plötzliche Überraschung des Herbstes 2021, sondern hatte sich lange vorher angekündigt. Schon bei den Europa-Wahlen 2019 hatte DIE LINKE deutlich verloren – in allen sozialen Gruppen, in allen Generationen, in alle Richtungen. Es war nicht, wie immer wieder gern vertreten wird, die Konkurrenz als Protestpartei mit der AfD, die DIE LINKE geschwächt hat, es war einsetzender grundsätzlicher Auflösungs- und Zerfallsprozess einer demokratischen Partei. Die Wählerschaft lief nicht über zur AfD, sondern sie wandte sich still ab und suchte ein neues Unterkommen vor allem im demokratischen Spektrum.

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