Dabei war der Ausgangspunkt vor 20 Jahren eine Niederlage. Bei der Bundestagswahl 2002 scheiterte die damalige PDS an der Fünfprozenthürde und war nur noch mit zwei Abgeordneten im Bundestag vertreten. Ich war Abgeordnete im Landtag Brandenburg. Die Stimmung damals war ähnlich der heutigen. Es stand auf der Kippe, ob wir diesen Tiefschlag überstehen und ein neuer Aufbruch gelingt. Es war zum einen Lothar Bisky, der sich 2003 noch einmal überzeugen ließ, erneut den Vorsitz der PDS zu übernehmen, und der der Partei Hoffnung und Zuversicht gab.
Und es war zum anderen Gerhard Schröders (SPD) Agenda 2010 und die damit verbundenen einschneidenden Kürzungen des Einkommens für Langzeitarbeitslose, durch die ganze Familien von heute auf morgen in die Armut getrieben wurden. Diese unsoziale Politik war der Auslöser für neue Montagsdemonstrationen. Mit unserer klaren Positionierung «Hartz IV ist Armut per Gesetz» und «Hartz IV muss weg» haben wir als Partei den Nerv vieler Leute getroffen und waren Teil der wachsenden sozialen Bewegung gegen die Hartz-Gesetze vor allem im Osten des Landes. Hier waren die Auswirkungen besonders gravierend, hatte die deutsche Einheit doch ganze Landstriche deindustrialisiert und große Teile der Bevölkerung in die Arbeitslosigkeit getrieben. Unsere Partei und ihre Fraktionen auf Landes-, Kreis- und kommunaler Ebene haben nicht nur mit einer Stimme die Abschaffung gefordert, sondern auch Rechtsberatung und Unterstützung organisiert. Das war die Stärke der damaligen PDS: Wir kümmerten uns um die Probleme der sogenannten kleinen Leute. «Kümmererpartei» war unser Markenzeichen und ein Grund für unsere Wahlerfolge. In den Landtagswahlen dieser Zeit konnte die PDS in den neuen Bundesländern stark zugewinnen. In Brandenburg beispielsweise waren wir 2004 bei der Landtagswahl mit 28 Prozent zweitstärkste Kraft und hatten 23 Direktwahlkreise gewonnen. Ich war damals Spitzenkandidatin. Und für uns war klar, keine Regierungsbeteiligung um jeden Preis. Der Preis wäre eine Abkehr unserer klaren Anti-Hartz-IV-Position gewesen, weshalb wir dankend abgelehnt haben.
Zur gleichen Zeit entstand die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG). Während die PDS vor allem in den Ostländern ein politisches Schwergewicht war, hatte die WASG in den westlichen Bundesländern starken Zulauf, wo die PDS auf niedrigem Niveau trotz großen Engagements einzelner Genoss*innen stagnierte. Im Mai 2005 stand die Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen ins Haus. Im Vorfeld war klar, dass es weder die PDS noch die WASG allein schaffen würde, die Fünfprozenthürde zu überwinden. Es war die Initiative des Vorstandsmitglieds der IG Metall Horst Schmitthenner, die zu einem ersten Gespräch in Frankfurt am Main führte. Lothar Bisky und ich trafen hier erstmals mit Mitgliedern des geschäftsführenden Vorstands der WASG zusammen, unter anderem mit Klaus Ernst, der lernen musste, dass ich nicht die Sekretärin von Lothar Bisky, sondern die Vorsitzende der PDS-Fraktion im Landtag Brandenburg und stellvertretende Vorsitzende der Bundespartei war.
Nachdem der erste Gesprächsfaden geknüpft war, folgten weitere Treffen. Mit der Ankündigung, die Neuwahlen für den Bundestag auf 2005 vorzuziehen, gab der Wahltermin das Tempo vor. Uns war klar, wir würden nur erfolgreich sein, wenn WASG und PDS gemeinsam zur Wahl antreten würden. Und damit das gelingt, mussten wir das Gemeinsame in den Vordergrund stellen: den Kampf gegen Hartz IV, gegen den weiteren Abbau des Sozialstaats, für einen gesetzlichen Mindestlohn, für Frieden, für eine solidarische Gesellschaft und für soziale Gerechtigkeit.
Denn Unterschiede gab es genug: Die PDS hatte als Partei einen schmerzhaften Erneuerungsprozess hinter sich, war auf landes- und kommunalpolitischer Ebene erfolgreich und im Osten Deutschlands Volkspartei. Ihre haupt- und ehrenamtlichen Mandatsträger*innen und Bürgermeister*innen waren anerkannt. Wir hatten klare Quotenregelungen und die Gretchenfrage «Wie hältst du es mit einer Regierungsbeteiligung?» war für uns geklärt.
Anders war die Situation in der WASG, die in klarer Opposition zur Agenda-Politik aus einer sozialen Bewegung entstanden und gewerkschaftlich stark verwurzelt war. Sie hatte die gleichen Ziele, aber Erfahrungen, Mentalität und Politikverständnis waren sehr unterschiedlich. So stand von Anfang an nicht nur die Frage im Raum, was rechtlich und politisch möglich wäre, um gemeinsam zunächst zur Bundestagswahl anzutreten mit der Option auf eine gesamtdeutsche linke Partei, sondern auch, was wir den Mitgliedern und Sympathisant*innen der jeweiligen Parteien zumuten können und welche Themen aufgeschoben werden müssen.
Mittlerweile hatten auch die Medien das Projekt «Linksbündnis» auf dem Schirm. Als dann Oskar Lafontaine öffentlichkeitswirksam seine Bereitschaft bekundete, als Spitzenkandidat für ein Linksbündnis zur Verfügung zu stehen, bewahrheitete sich wieder einmal ein Satz von Lothar Bisky: «Die Medien sind unsere größte Gefahr und unsere einzige Chance.» Denn die regelmäßige Berichterstattung, ob wohlwollend oder kritisch, führte zu steigenden Umfragewerten. Es gab kein Zurück. Der Termin der Bundestagswahl stand fest, insofern musste kurzfristig geklärt werden, unter welchen Bedingungen ein gemeinsamer Wahlantritt möglich ist und welche programmatischen Grundsätze wir in den Vordergrund stellen wollen. Der Vereinigungsprozess begann.
Der Erfolg bei der Bundestagswahl 2005 war gleichzeitig das Versprechen an vier Millionen Wähler*innen, uns für soziale Gerechtigkeit, demokratische Veränderungen der Gesellschaft und Frieden einzusetzen. Im Nachhinein betrachtet grenzt es nahezu an ein Wunder, dass wir diese einmalige historische Chance genutzt und uns nicht in endlosen Streitigkeiten um des Kaisers Bart verloren haben. Dass «Links wirkt», wurde in den folgenden Jahren mehrfach bewiesen, beispielsweise durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, den Ausbau der Kinderbetreuung auch in den alten Bundesländern, die weitere Ost-West-Angleichung der Lebensverhältnisse, Gemeinschaftsschulen für bessere Bildungschancen für alle. DIE LINKE und ihre Mandatsträger*innen auf unterschiedlichen Ebenen haben in den ersten Jahren nach der Parteigründung gezeigt, was möglich ist, wenn wir gemeinsam mit sozialen und anderen außerparlamentarischen Bewegungen der herrschenden neoliberalen Politik entgegen- und für eine solidarische Gesellschaft eintreten. Das ist in Krisenzeiten wie heute notwendiger denn je. Besinnen wir uns auf unsere Wurzeln, auf die Anfänge der vereinigten LINKEN in Deutschland, auf die gemeinsamen Ziele, unsere Gesellschaftskritik, auf unsere programmatischen Grundsätze. Die Gründung der Partei DIE LINKE war kein Selbstzweck. Es ging nicht um Mandate und Posten, wie heute immer wieder unterstellt wird. Es ging allein darum, den Sozialstaat zu verteidigen und auszubauen, die Interessen der Arbeitnehmer*innen zu vertreten, Frieden und Nachhaltigkeit in der Entwicklung zu stärken und den Herrschenden Grenzen zu setzen.
Besinnen wir uns auf unsere gemeinsamen Ziele der Anfangsjahre, denn sie sind noch nicht erreicht. Streiten wir um Inhalte und stellen wir persönliche Animositäten zurück. Stehen wir an der Seite der Menschen, die durch die Folgen der Pandemie und die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine Existenzängste haben, die nicht wissen, ob sie die Energiekosten noch tragen und ihre Familie ernähren können. Erinnern wir uns unserer Wurzeln. Ich hoffe, dass die Lektüre dieser Publikation dazu beiträgt, nicht nur an den Enthusiasmus und die Energie der ersten beiden Jahre zu erinnern, sondern Impulse für die so dringend notwendige Erneuerung der Partei zu geben.