Die niedersächsische Landtagswahl wird vielfach als Testwahl für die Politik der Bundesregierung in den letzten Monaten verstanden bzw. der Wahlkampf einiger Parteien (z.B. CDU) lief darauf zu: Die Energieversorgungssicherheit, der sozial gerechte Ausgleich von Preissteigerungen und die Politik gegenüber dem einen Aggressionskrieg führenden Russland – breit interessierende Themen, an denen sich die Bundesregierung erkennbar mühsam abarbeitet, handwerkliche Fehler begeht, nach einer klaren Linie sucht. Alles Bedingungen, die dazu einluden, die Landtagswahl auch zu einer Abrechnung mit der Bundesregierung zu machen. Dieser Versuch ist gescheitert.
SPD und Grüne können eine Landesregierung bilden, die CDU verliert Einfluss auf den Bundesrat. Allein das Scheitern der FDP am Wiedereinzug setzt die Bundesregierung unter Druck.
Die Wahlbeteiligung blieb mit 60,3% deutlich unter der Vorwahl (63,1%). Sie stieg nicht wie bei den Landtagswahlen 2015 bis 2017 sprunghaft an, weil bundespolitische Themen zum Protest bei einer Landtagswahl motivierten, sondern ging zurück: der Charakter einer Protestwahl gegen die Bundesregierung blieb unterentwickelt.
Die SPD gewinnt die Wahl mit 33,4% trotz geringer Verluste und kann weiter den Ministerpräsidenten stellen. In erster Linie ist der Wahlerfolg ein Verdienst von Stephan Weil, der in den vergangenen Jahren keine großen Fehler machte und sich in den letzten Wochen und Monaten solidarisch mahnend von der SPD-geführten Bundesregierung absetzte. Er wies darauf hin, wer bei den Entlastungen vergessen wurde und forderte Nachbesserungen. Mit seinem betont sachlich-pragmatischem Auftreten gelang es ihm glaubhaft zu vermitteln, dass sich das Land bei seiner SPD «in guten Händen» befindet, gerade in unsicheren Zeiten. Gleichzeitig hat er auch Erwartungen geweckt, nämlich dass das Land in der Krise als Energieproduzent und Vorreiter der Dekarbonisierung stärker werden könne und werde.
Die Grünen verzeichnen die stärksten Zugewinne aller Parteien, stärker noch als diejenigen der AfD. Zwar bleibt das Ergebnis wieder einmal hinter zwischenzeitlichen Umfrage-Hochs zurück, gleichwohl ist es erstaunlich, denn in den zurückliegenden Wochen und Monaten verabschiedeten sich die Grünen in der Bundespolitik vom definitiven Ende der AKW-Laufzeiten zum Jahresende, in Niedersachsen (Peine) wurde mit ihrer Zustimmung ein Kohlekraftwerk aus der Reserve geholt – alles drastische Verstöße gegen das Image als Umwelt- und Klimapartei – und vor allem auch zählte die Partei zu den ersten, die Waffenlieferungen an die Ukraine forderten. Dennoch konnten sie ihr Wahlergebnis fast verdoppeln. Offensichtlich wurden diese Wendungen honoriert, das Landesergebnis lag nur wenig unter demjenigen der Bundestagswahl 2021 (16,1%). Der Grund ist naheliegend: Die Verhältnisse, unter und in denen Politik stattfindet, haben sich verändert, die neuen Handlungsbedingungen erfordern im Interesse der Problemlösung einen nichtideologischen Umgang mit politischen Gewissheiten aus einer anderen Zeit. An dieser Haltung in der grünen Wählerschaft: «Wenn die Fakten sich ändern, bin ich auch bereit, meine Meinung zu ändern», prallten letztlich alle Versuche von links, Grüne-Wähler mit dem Hinweis auf den «Verrat» an früheren Positionen zu gewinnen ab. Die Grünen gewinnen erstmals Direktmandate: im Wahlkreis Lüneburg (30,0%), im Wahlkreis Göttingen-Stadt (35,2%) und in Hannover-Mitte (35,5%). In Hannover-Mitte und Göttingen-Stadt erhalten sie auch die meisten Zweitstimmen.
Die FDP verpasst mit 4,7% den Einzug in den Landtag. Angesichts der Schwäche der CDU bestand keine Aussicht, dass die FDP Teil einer «bürgerlichen Regierung», so einst die Bezeichnung von Christian Lindner für eine CDU-FDP-Koalition werden könnte. Teil einer niedersächsischen Ampel zu werden, war für potentielle FDP-Wähler offensichtlich auch nicht erstrebenswert, zumal rotgrün in den Umfragen eine klare Mehrheit zu bekommen schien. Da es so keinen taktischen machtpolitischen Grund gab, die Partei zu wählen, schlug die Unsicherheit über den Kurs der Partei in unsicheren Krisenzeiten durch. Wer FDP gewählt hatte, weil sich Lindner als der harte Anwalt der Schuldenbremse inszeniert hatte, musste angesichts der allein in diesem Jahr geschaffenen «Sondervermögen» ins Zweifeln kommen. Nach dieser Landtagswahl werden die innerparteilichen Spannungen zunehmen.
Die CDU fährt das schlechteste Ergebnis seit 1955 ein. Sie konnte sich in der Landesregierung weder inhaltlich noch personell als alternative, eine Regierung führende Partei profilieren. Sie wird voraussichtlich wieder Oppositionspartei im Niedersächisischen Landtag. Die Versuche, das gute Abschneiden der SPD auf die positiven Werte von Stephan Weil zu schieben, ist als indirektes Eingeständnis einer gescheiterten Wahlstrategie zu werten. Die Niederlage der Niedersachsen-CDU ist auch eine Niederlage von Friedrich Merz. Es war Friedrich Merz, der noch im März dieses Jahres für härtere Sanktionen gegen Russland, für einen Verzicht auf russisches Gas eingetreten war, als die Regierung noch zögerte, in die eigene Anhängerschaft hinein Unsicherheit über den Kurs der Partei streute und keine klare Alternative zur Regierungspolitik vertrat. In ihrer Not öffnete die CDU dann im Wahlkampf für eigene Anhänger dreifach den Weg zur AfD: In den letzten Wochen vor der Wahl erklärte sie die Landtagswahl zu einer reinen Protestwahl gegen die Bundesregierung. Friedrich Merz schmiegte sich mit der Bezeichnung «Sozialtouristen» für Geflüchtete aus der Ukraine den migrationsfeindlichen Tönen von Rechtsaußen an. Und der Spitzenkandidat Althusmann spielte mit seinem Wahlkampf-Slogan «Nicht lange reden. Endlich machen.» dem auch gegen demokratische Entscheidungsprozeduren gerichteten Wunsch nach «schnellen Entscheidungen» in die Hände.
Die AfD erzielt erstmals bei einer Landtagswahl im Westen wieder Zugewinne, und zwar deutlich. Sie profitiert als einzige Partei von dem Unmut, der sich im Land angesichts der neuen Krisen und der Regierungspolitik ansammelt. Offensichtlich spielt die tatsächliche Arbeit der zerstrittenen Landtagsfraktion keine Rolle bei der Wahlentscheidung. Es geht um die Gegenwart und Zukunft: Die Stimme für die AfD, so mögen manche noch denken, erhöht die Chance, gehört zu werden. Wichtiger aber ist, dass der Wahlkampf der AfD identitätspolitisch ausgerichtet war und eine offen russlandfreundliche Position bezogen wurde. Die AfD verfügt mittlerweile über eigene Kommunikationswege und die Fähigkeit zur Milieubildung auch im Westen des Landes.
DIE LINKE war von einigen Beobachtern eine «kleine, aber realistische Chance» auf den Wiedereinzug in den Landtag zugesprochen worden; zumal es für Proteststimmen günstig erschien, dass der Ausgang der Wahl klar zu sein schien, taktisches Wählen der Linken eher wenig schaden könnte. Stattdessen landet sie mit 2,7% weit unter der Sperrklausel und dem Vorwahlergebnis, bleibt erneut bei einer Landtagswahl unter 3%. Die Selbstbeschwörung, wonach es die Partei im Land «braucht», zog nicht. Die Beschwörung von «heißem Herbst» und «sozialen Protesten», auf die die Parteiführung seit dem Sommer setzt, zog zumindest bei dieser Landtagswahl nicht. Dazu mag auch beigetragen haben, dass der Wahlkampf mit der «Mal ehrlich»-Kampagne weder Lösungen anbot noch die Stimmungen der Verunsicherung, der Sorge und auch des Unmuts in der Bevölkerung traf. Im Wahlkampf konnte die Partei kein eigenes Thema kenntlich machen, dass bei der Wahlentscheidung den Unterschied gemacht hätte. Die Ursachen hierfür dürften in den innerparteilichen Zerrüttungen zu suchen sei, den ungeklärten Fragen, was und wen man bekommt, wenn man die Partei wählt, und in dem Zusammenfallen verschiedener unterschiedlicher tiefer Krisen, denen mit den bekannten Antworten nicht beizukommen ist. Verteilungspolitische Antworten reichen nicht mehr aus, um linke Politik erkennbar zu machen. Möglicherweise ist es nach dieser Serie von Wahlniederlagen nunmehr zu spät, mit der bereits 2019 nach der Europa- Wahl vom Co-Vorsitzenden der Bundestagsfraktion geforderten «grundsätzlichen programmatischen und strategischen Erneuerung» ernst zu machen.