Publikation Nordafrika - Sozialökologischer Umbau - COP27 Al-Sisis «neue Republik»

Wie der Immobilienwahn in Ägypten den Machterhalt des Regimes sichert

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Oktober 2022

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Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi besichtigt ein Modell einer geplanten Stadt während der ägyptischen Wirtschaftsentwicklungskonferenz (EEDC) in Sharm el-Sheikh, März 2015. Foto: IMAGO/Xinhau

Der Staat wirkt wie ein Körper am Beatmungsgerät, eine Reihe an Schläuchen führt hinein und hinaus, ausländische Ärzte verabreichen gelegentlich steroide Kredite oder wenden Strukturanpassungschemotherapien an. Wir studieren die Schläuche, die Infrastruktur, die hinein und hinaus führenden Industrie- und Handelsnetze, um zu verstehen, wir der Körper am Leben erhalten wird.
Omar Robert Hamilton, 2022[1]

Rund neun Jahre nach der blutigen Machtergreifung von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi ist Ägypten kaum wiederzuerkennen. Baukräne, Betonmischer und Großbaustellen sind allgegenwärtig. Im Großraum Kairo, im Nildelta, entlang der Mittelmeerküste und auf der Sinai-Halbinsel fräsen sich heute unzählige neue Straßen und Autobahnen durch dicht besiedelte Städte und die karge Wüste. Luxusimmobilien, Sozialbausiedlungen, Tourismusressorts und Brücken sprießen seit Jahren landesweit wie Pilze aus dem Boden. Östlich der Kairoer Reichenviertel New Cairo und Tagammua El-Khamis wird seit 2015 fieberhaft eine neue Verwaltungshauptstadt (New Administrative Capital, NAC) für 6,5 Millionen Menschen aus dem Wüstenboden gestampft, ein Mammutvorhaben und mit Abstand das wichtigste Prestigeprojekt von Ex-Armeechef Al-Sisi.

Sofian Philip Naceur ist Projektmanager im Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und arbeitet als freier Journalist.

Fast unaufhörlich weiht der seit 2013 mit eiserner Faust regierende Staatschef neue Bauprojekte ein, immer begleitet von lautstarker nationalistischer Fanfare in den gleichgeschalteten Staats- und Privatmedien und Applaus internationaler Investor*innen. Für Al-Sisis verkörpert seine «Vision» für Ägypten – seit 2021 von ihm meist als «neue Republik» tituliert – nicht weniger als den Beginn einer neuen Ära, den Aufbruch in eine moderne Zukunft, die Wohlstand und Erneuerung verspricht und den Nationalstolz streichelt. Doch finanziert wird all das vor allem durch milliardenschwere Kredite und Investitionen aus dem Ausland. Demnach ist dieser dynamisch anmutende Modernisierungsversuch weit weniger nachhaltig als Al-Sisi und sein Regime unbeirrt nahe legen, sondern auf Treibsand gebaut. Noch steht das Kartenhaus. Doch Ägyptens Wirtschaft ist abermals im Krisenmodus.

Die Covid-19-Pandemie und Russlands Invasion in der Ukraine haben das von Importen und Kapitalzuflüssen aus dem Ausland abhängige Ägypten in eine tiefe Wirtschafts-, Währungs- und Zahlungsbilanzkrise gestürzt. Die Währungsreserven sind nur dank enormer externer Einlagen aus den Golfstaaten nicht noch stärker eingebrochen, während das Militärregime fieberhaft versucht, der durch beide globalen Krisen ausgelösten Kapitalflucht aus dem Land und dem massiv gestiegenen Zahlungsbilanzdefizit Paroli zu bieten. Im Vorfeld der im November 2022 in der Tourismushochburg Sharm El-Scheikh stattfindenden UN-Klimakonferenz COP27 setzt das Regime auch deshalb auf Greenwashing und bringt das Land als Standort für grüne Investments und vermeintlichen Vorreiter in der Energiewende in Position. Zwar scheint diese Strategie aufzugehen – bereits seit 2021 werden Deals und Absichtserklärungen über grüne Investitionen ausländischer Regierungen und Firmen am Fließband unterzeichnet – , doch kurzfristig muss das Regime dringend Devisen aus anderen Quellen akquirieren und versucht Ägypten als Drehscheibe für die Ausfuhr von Gas und grünem Strom nach Europa zu etablieren. Trotz Überkapazitäten lokaler Gaskraftwerke hat die Regierung sogar zeitweilig den Stromverbrauch rationalisieren lassen, um schon kurzfristig mehr Erdgas exportieren zu können.[2]

Unberührt von den globalen Krisen ist derweil Ägyptens Bau- und Immobilienindustrie, die weiter ungebremst floriert. Während der Bausektor 2020/2021 7,1% des Bruttoinlandsprodukts ausmachte, ist die Immobilienbranche mit erstaunlichen 11,4% inzwischen der viertgrößte Sektor der ägyptischen Volkswirtschaft.[3] Beide Wirtschaftszweige sind für diese heute unersetzlich, da sie erhebliche Investitionen und Kapitalzuflüsse aus dem In- und Ausland anlocken und Millionen Jobs bereitstellen. Doch warum sind beide Branchen seit Al-Sisis Machtübernahme so stark gewachsen? Und haben die unzähligen auf Pump finanzierten und von Regime, Militär und staatlichen und privaten Bau- und Immobilienfirmen befeuerten Großprojekte tatsächlich Auswirkungen auf die Zahlungsbilanz? Wird der Bauboom nur von den Profitinteressen der Industrie und – wie Al-Sisi und Vertreter*innen aus Staatsapparat und Privatwirtschaft unablässig behaupten – der Modernisierungspolitik des Regimes angeregt? Oder hat der Immobilienwahn nicht auch politische Ursachen und hängt unmittelbar mit der Revolution 2011 zusammen?

Mit der neuen Hauptstadt entsteht in der Tat eine vom Rest des Landes abgeriegelte Großstadt für Ägyptens zahlungskräftige Eliten und den Staatsapparat, fernab von den verarmten informellen Bezirken Gizehs. Auch der Tahrir-Platz, dem Symbol des Aufstandes 2011, ist weit entfernt. Das früher nur einen Steinwurf vom Tahrir entfernte Innenministerium wurde schon 2016 nach New Cairo an den Stadtrand verlegt. Der Rest des Regierungsapparates folgt nun diesem Beispiel und zieht sukzessive in das neue Regierungsviertel in der neuen Hauptstadt. Große Teile von Ägyptens Ober- und Mittelschicht sollen ebenfalls folgen. Das Projekt verschärft die soziale Segregation und zieht den «Eisernen Vorhang» in der Gesellschaft noch ein Stück weiter zu. Die Gated Communities der Ober- und Mittelschicht in Kairos Osten werden mit dem Bau der NAC regelrecht in eine Gated City verwandelt.´

Die ausufernde Bautätigkeit der Regierung wird zweifellos durch die immer beträchtlicheren Klassengegensätze im Land befeuert, aber in öffentlichen Diskursen meist mit dem Bedarf an Wohnraum im Kontext des Bevölkerungswachstums legitimiert.[4] Aber ist der Bevölkerungszuwachs wirklich der zentrale Grund für die Immobilienhausse und den eklatanten Mangel an bezahlbaren Wohnraum? Schließlich standen 2017 in Ägypten ganze 11,7 Millionen Wohnungen leer.[5] Während der soziale Wohnungsbau weit hinter der Nachfrage zurückbleibt, wird der Markt mit Wohnraum im oberen Preissegment sprichwörtlich geflutet. Die Überproduktion hat vielfältige Gründe, resümiert vom Stadtplaner Yahia Shawkat: «Wohnraum ist Geld», schreibt er: «Lokale und ausländische Investor*innen sowie Spekulant*innen machen sich einen deregulierten Immobilienmarkt zunutze, um eine ihrer Meinung nach garantierte Rendite zu erzielen. (…) Diese Deregulierung durch die Regierung hat jedoch zu einer unaufhaltsamen Erosion der Erschwinglichkeit geführt.»[6]

Der Bauboom muss dabei aber auch mit der Notwendigkeit für Al-Sisi erklärt werden, Ägyptens Eliten nach dem partiellen Regimekollaps 2011 neu an sich binden zu müssen. Wie schon unter Expräsident Hosni Mubarak ist der Bausektor heute ein zentrales Vehikel für die Schaffung und Stabilisierung von Patronagenetzwerken innerhalb der fragmentierten herrschenden Klasse. Die Mittel zur Erhaltung politischer Loyalitäten unter Al-Sisi ähneln dabei in erschreckender Weise jenen der Mubarak-Ära. Die Immobilienbranche ist für das Regime aber nicht nur deswegen «too big to fail», schließlich dient sie auch der Legitimierung von Al-Sisis autoritärer Herrschaft. Setzte die Staatsführung in den letzten Jahren vor allem auf das unablässige Zurschaustellen der militärischen Stärke der von westlichen Regierungen aufgerüsteten Armee, untermauert mit martialischen Videoaufnahmen neu erstandener U-Boote oder Kampfjets, flutet das Regime heute sprichwörtlich TV-Bildschirme und soziale Medien mit in Hochglanz produzierten Aufnahmen von Großbaustellen und erfolgreich vollendeten Projekten. Die Besessenheit, Megaprojekte in der Wüste zu errichten, habe aber «wenig mit Entwicklung und viel mit staatlicher Legitimität zu tun, mit der Notwendigkeit, Hoffnung zu erzeugen und Symbole für ein neues Ägypten zu schaffen», schreibt der Stadtplaner David Sims.[7]

Mit Megaprojekten will sich Al-Sisi aber auch selbst als außergewöhnlichen Führer in Szene setzen und in für autoritäre Regimes fast schon traditioneller Manier architektonische Denkmäler errichten. Großvorhaben im Wohnungssektor sind auch dafür ein Mittel zum Zweck: «Wohnungsbau ist politisch. Fast jeder ägyptische Herrscher der letzten neun Jahrzehnte, von König Fouad bis zu Präsident Abdel Fattah Al-Sisi, hat sich mit mindestens einem großangelegten Wohnungsbauprojekt direkt in Verbindung gebracht», so Shawkat.[8] Doch nicht nur Vergleiche mit Ägyptens Expräsidenten Gamal Abdel Nasser, Anwar El-Sadat oder Hosni Mubarak sind hier aufschlussreich, sondern auch ein Blick ins 19. Jahrhundert.

1805 stieg Mohamed Ali zum neuen Statthalter der osmanischen Provinz Ägypten auf und stieß unter dem Einfluss erstarkender Unabhängigkeitsbewegungen eine Modernisierung von Wirtschaft und Staat an. Nachdem Ägypten unter Alis Enkel Khedive Ismail (1863-1879) von einer Kolonie in einen tributpflichtigen Staat aufgewertet wurde, intensivierte der sich zugunsten europäischer Mächte vom Osmanischen Reich abwendende Ismail diese Entwicklungspolitik, ließ in wenigen Jahren hunderte Brücken, dutzende Zuckerfabriken und unzählige Straßen, Zuglinien und Häfen bauen und erhöhte durch Landgewinnungsprojekte die Einkünfte aus dem Agrarexport. Prestigeprojekte wie der Bau des durch die Uraufführung von Giuseppe Verdis «Aida» 1871 weltweit bekannt gewordene Kairoer Opernhaus oder die nach dem Vorbild von Paris errichtete Innenstadt von Kairo wurden jedoch ebenso wie Infrastrukturprojekte mit Krediten aus Europa finanziert. Das Land tappte in die Schuldenfalle. Auf Druck seiner Gläubiger*innen wurde Ismail 1882 angesichts der hohen Ausstände des Staates abgesetzt. Das britische Empire übernahm 1882 die Kontrolle der ägyptischen Staatskasse und damit die politische Macht im Land.[9]

Ebenso wie unter Ismail soll die Modernisierungspolitik auch heute einen Aufbruch in die Moderne einleiten und die nationale Souveränität stärken. Die Außenabhängigkeit Ägyptens wird unter Al-Sisi aber weniger von einer Großmacht zu einer anderen verlagert, sondern vielmehr diversifiziert. Kredite, Einlagen und Investitionen fließen heute gleichermaßen aus Europa, China, Nordamerika, Russland und den Golfstaaten, während dem Regime bisher durchaus erfolgreich der Spagat zwischen den widersprüchlichen Interessen seiner Gläubiger*innen gelingt. Fraglich ist dennoch, ob das Regime die auf dem Verkauf von Staatsland basierende Modernisierungs- und Baupolitik auch langfristig durch Kapitaltransfers aus dem Ausland und neue Schulden aufrecht erhalten kann. Angesichts der Bedeutung der Immobilienbranche für Wirtschaft und Herrschaftslegitimation des Regimes im Land will dieser Bericht einen genaueren Blick auf Ursprünge und Triebkräfte hinter dem Immobilienboom werfen (Kapitel 1), die wichtigsten von Al-Sisi vorangetriebenen Projekte kartieren (Kapital 2 und 3) und aufzeigen, wie das Militär seit 2013 seinen Einfluss im Immobiliensektor erweitert hat und welche Funktion die Branche heute für die Stabilität des Status quo in Ägypten hat (Kapitel 4).

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[1]Vgl. Omar Robert Hamilton: Before the COP: Sustainable power, Mada Masr, 16.6.2022, https://www.madamasr.com/en/2022/06/16/opinion/politics/before-the-cop-sustainable-power/. Aufgerufen am 9.7.2022.

[2]Vgl. Sarah Sami: Egypt aims to boost natural gas exports by rationalizing electricity consumption, Egypt Oil and Gas, 10.8.2022, https://egyptoil-gas.com/news/egypt-aims-to-boost-natural-gas-exports-by-rationalizing-electricity-consumption/. Aufgerufen am 8.9.2022.

[3]Vgl. Yahia Shawkat: Who owns Cairo?, Marsad Omran, 12.9.2022, https://marsadomran.info/en/2022/09/2535/. Aufgerufen am 16.9.2022.

[4]2021 wuchs die Bevölkerung um 1,88% und stieg von 72,6 Millionen Menschen 2006 auf 104 Millionen 2022. Die Geburtenrate sinkt dabei seit Jahren stetig und lag nach Angaben der staatlichen ägyptischen Statistikbehörde Central Agency for Public Mobilization and Statistics (CAPMAS) 2022 bei 2,8 Kindern (2014 lag sie noch bei 3,5). Vgl. El-Sayed Gamal el-Din/Zeineb el-Gundy: Fertility rate per women in Egypt declines by 20% since 2014, Ahram Online, 30.8.2022, https://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/1236/474171/Egypt/Health/Fertility-rate-per-woman-in-Egypt-declines-by—sin.aspx. Aufgerufen am 4.9.2022.

[5]Vgl. Salma Shukrallah und Yahia Shawkat: Government policy commodifies housing, Marsad Omran, 17.11.2017, https://marsadomran.info/en/policy_analysis/2017/11/1218/. Aufgerufen am 9.7.2022.

[6]Yahia Shawkat: Egypt‘s housing crisis, AUC Press, Cairo 2020, S. 1.

[7]David Sims: Egypt‘s desert dreams, AUC Press, Cairo 2018, S. xviii.

[8]Yahia Shawkat: Egypt‘s housing crisis, AUC Press, Cairo 2020, S. 1.

[9]Vgl. F. Hunter: Egypt under the successors of Mohamed Ali, M. W. Daly, The Cambridge History of Egypt, Volume 2, Cambridge University Press 1998, S. 180-197.