Vorwort von Mario Candeias, Institut für Gesellschaftsanalyse bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung:
Varieties of »Postneoliberalism«
Die »große Krise« 2008 ff. hat eine molekulare, also schrittweise Veränderung verdeutlicht, die schon seit langem wirksam war: eine globale politische und ökonomische Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Mit den sogenannten BRIC- und Golf-Staaten entwickeln sich neue kapitalistische Zentren. Insbesondere Brasilien, Indien und China (BIC) erwiesen sich in der Krise deutlich robuster als die alten Industriestaaten. Dabei blieben sie nicht von der Krise verschont. Alle sind in hohem Maße abhängig von Exporten in die alten Zentren, nicht zuletzt von der Nachfrage des »globalen Konsumenten« USA. Und sie alle sind angewiesen auf Kapitalimporte. Beide Komponenten gingen in der Krise drastisch zurück. Insbesondere ist fraglich, ob die alten Zentren angesichts
einer staatlichen wie privaten Rekordverschuldung je wieder eine so große globale Nachfrage induzieren werden. Doch die BIC-Staaten haben dank spezifischer Eigenheiten die Krise deutlich schneller überwunden als der Rest der Welt – zumindest vorübergehend –, nicht zuletzt weil sie alle über deutlich schärfere Finanzmarkt- und Bankenregulierungen verfügen. Alle drei verzeichneten bereits ein Jahr nach dem Einbruch der Wirtschaft wieder ein Rekordwachstum. Die Exporte stabilisieren sich, vor allem aber legt der Binnenkonsum deutlich zu – Zeichen einer graduellen Reorientierung auf endogene Entwicklungspotentiale und den Aufbau von sogenannten Mittelklassen bei starker Integration in den Weltmarkt. Die Schwäche der alten Zentren führt sogar zu einem Boom an Auslandsinvestitionen in den BIC-Staaten, der Anzeichen einer Überhitzung der Wirtschaft mit sich bringt. Die Regierungen versuchen mit Gegenmaßnahmen der Regulierung des Kapitalverkehrs und der Kreditvergabe letztere zu dämpfen.
Auch wenn alle drei Länder vor allem in den 1990er Jahren im Zuge der Transnationalisierung selbst massiv den Trend neoliberaler Reformen im eigenen Land forcierten, so sind die Entwicklungen in Brasilien, China und Indien in den letzten zehn Jahren nicht einfach in eine neoliberale Kontinuität zu stellen. Zu deutlich haben sich Brasilien und China, teilweise Indien, aber auch eine Reihe anderer Länder (v. a. in Südamerika) schon länger auf die Suche nach »postneoliberalen« Formen der Integration in den Weltmarkt und der ökonomisch und sozialen Politik in ihren Ländern gemacht. In Südamerika haben starke soziale Bewegungen Regierungen gestürzt, Mitte-Links-Regierungen an die Macht gebracht, Ansätze partizipativer Politiken und solidarischer Ökonomien etabliert, indigene Bewegungen einen anderen Umgang mit Repräsentation, Öffentlichkeit und Eigentum erzwungen. Initiativen, die auf unterschiedliche und widersprüchliche Weise von den Regierungen aufgenommen
wurden: von Venezuelas Öl-»Sozialismus des 21. Jahrhunderts «, über die stark von Indigenen getragenen linken Staatsprojekte in Bolivien und Ecuador, bis zu den links-sozialdemokratischen Projekten
von Kirchner in Argentinien und eben Lula in Brasilien. Auf sehr verschiedene Weise setzen sie alle – trotz zum Teil verschärfter Exportorientierung – im Inneren auf Verschiebung der Kräfteverhältnisse, mehr Partizipation, progressive Reformen und stärkere Politiken des sozialen Ausgleichs, die die Handlungsfähigkeit subalterner Gruppen partiell erweitern – auch wenn die Probleme von Ungleichheit, Armut und beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen fortbestehen.
Auch in Indien haben sich starke Bewegungen formiert, der Bauern, der Landlosen, der Dalits, globalisierungskritische Netzwerke. Sie sind jedoch, abgesehen von sehr widersprüchlichen Erfahrungen in den maoistisch kontrollierten Gebieten oder in (ehemals) kommunistisch regierten Bundesstaaten wie Kerala, nicht in Verbindung zu einem linken Staatsprojekt. Dennoch nimmt der Staat in Indiens Hightech-Mixed-Economy eine andere Rolle ein als in den Neoliberalismen der USA oder Europas. Von einem »inclusive growth«, einem inklusiven Wachstum, das auch die Mehrheit der Armen (etwa 60 % der Bevölkerung) mitnimmt, kann im »Rising India« jedoch keine Rede sein. Noch deutlicher versuchen Chinas Staatskapitalismus oder die staatliche Investitionspolitiken der Golfstaaten – sozusagen von oben – kapitalistische Dynamik und staatlich kontrollierte Entwicklung mit selektiver Öffnung in ein anderes Verhältnis zu bringen und damit eigenständig(er) über die Zukunft des Landes zu bestimmen.
Schon fürchtet die FAZ (14.06.2009, 27), dass sich ein Modell eines neuen »staatsgelenkten Kapitalismus« durchsetzt. Nicht der Westen und auch nicht der alte Staatssozialismus dienen dabei als Leitbild des neuen Staatsinterventionismus, sondern »die staatsgelenkten neuen kapitalistischen Zentren von China über Singapur, Russland bis zu den Golfstaaten oder Lateinamerika«. Während in Indien eher eine inkonsistente Politik mit leichten Modifikationen fortgeführt wird, hat vor allem China dank eines riesigen Konjunkturprogramms schneller aus der Wachstumsschwäche herausgefunden: Ca. 450 Mrd. Euro und eine Vervierfachung neuer Kredite im ersten Halbjahr 2009 auf über 770 Mrd. Dollar zeigen Wirkung. Investiert wurde in notwendige öffentliche Infrastrukturen, in Gesundheit, in soziale Leistungen und ökologische Technologien, nicht zuletzt in den ärmeren westlichen Regionen. Zugleich treibt der Staat direkt die massive Entwicklung neuer Industriesektoren voran: Wind- und Solarenergie, Nanotechnologie, Maschinen- und Kraftwerksbau, I+K-Technologie etc. In der Krise nutzten nicht zuletzt chinesische Staatsfonds und Banken (ebenso wie jene aus Singapur oder die Staatsfonds der Golfstaaten) die Gelegenheit, Beteiligungen an Banken und Unternehmen in den USA oder Europa zu erwerben, um Handelsbilanzüberschüsse profitabel zu investieren, einen besseren
Marktzugang zu erhalten, Importbeschränkungen zu umgehen und den Technologietransfer zu erleichtern. Bei allem Zweifel über offizielle Wachstumsraten sind die Ergebnisse angesichts des globalen Nachfrageeinbruchs beeindruckend (allerdings viel zu schwach, um auch noch die Hoffnung zu erfüllen, die Weltwirtschaft insgesamt anzuschieben).
China setzt damit in Ansätzen auf qualitativeres Wachstum, stärkt Reproduktionsbedingungen, unternimmt soziale Maßnahmen – bei z.T. heftig verschärfter Repression von sozialen und v. a. ethnifizierten Unruhen und autoritärer Begrenzung von politischer und Meinungsfreiheit. Nichtsdestoweniger sind mit dieser Entwicklung weiter Risiken verbunden: Die Börsen boomen wieder, die Wirtschaft wurde quasi administrativ mit Krediten überschwemmt, was erneut zu Spekulationsblasen und einem Berg fauler Kredite führen kann, wenn die globale Konjunktur nicht anspringt und das Ausgabenniveau nicht längerfristig gehalten werden kann. Dann führt der Geldsegen zu kurzfristiger Inflation – wie bereits in den vergangenen Jahren. Nach wie vor ist die extrem exportlastige Ausrichtung Chinas nicht wirklich angegangen worden. Hier liegt das ökonomische Hauptproblem, denn in den USA werden die Haushalte in Zukunft weniger konsumieren, die Importnachfrage
sinkt dramatisch – Chinas Abhängigkeit vom globalen Konsumenten wird über einen langen Zeitraum negative Folgen zeigen, sofern es nicht gelingt, eine stärker eigenständige Entwicklung voranzutreiben. Von einer weltwirtschaftlichen Erholung ist nicht viel zu sehen. Und die globalen Ungleichgewichte bei Handels- und Kapitalströmen, wesentliche Ursache dieser Krise, können auch nicht einfach fortgesetzt werden. Während die USA also munter inflationieren, halten die Chinesen mit minimalen Anpassungen an ihrem Kurs fest. Da der Renminbi an den Dollar gekoppelt ist, ändert sich an den für die USA ungünstigen Währungsrelationen zwischen den beiden größten Ökonomien also wenig. Der Druck für eine Aufwertung des Renminbi wächst – ein »Währungskrieg« ist entbrannt.
Auch Brasilien reagierte mit aus neoliberaler Sicht ungewöhnlichen Maßnahmen: Die Regierung musste – wie auch in Indien – dank scharfer Bankenregulierung keine größeren Rettungsprogramme organisieren und war daher in der Lage, kurzfristig massive Infrastrukturmaßnahmen vorzuziehen und weitere Konjunkturprogramme aufzulegen. Die starke öffentliche Nachfrage stabilisierte die Investitionsrate. Zugleich wurden Sozialprogramme nicht wie in Europa gekürzt, sondern teilweise sogar ausgeweitet. Zudem konnten Arbeiter und Gewerkschaften trotz Krise deutliche Lohnsteigerungen durchsetzen, was zur Stärkung der Binnennachfrage beitrug. Neben zwar sinkenden, aber immer noch schärfsten sozialen Ungleichheiten und ihrer wachsenden Konzentration
in den Favelas der Megastädte, bleiben auch andere Konflikte ungelöst, insbesondere Landkonflikte und die durch hohes Wirtschaftswachstum und eine Strategie des Neodesarrollismo verschärften ökologischen Probleme. Auch der ökonomische Erfolg bringt Probleme mit sich: Der enorme Zufluss ausländischen Kapitals auf der Suche nach vielversprechenden Wachstumsmärkten führt zu starken Aufwertungstendenzen bzw. heftigen Wechselkursschwankungen. Denn die volatilen Kapitalströme auf der Suche nach hohen Zinsen und »sicheren« Anlagen wechseln sich ab mit Überhitzung, Blasen und wieder schnellen Abzug von Kapital sowie tiefen Krisen. Erinnern wir uns an die Folge von Krisen in den Jahren 1980 ff. (»das verlorene Jahrzehnt«) oder 1998 ff.: Asienkrise, Russland-Krise, Lateinamerika-Krise etc. Diese unvorteilhaften internationalen Bedingungen eines neoliberalen Konsenses waren bereits vor der Krise Gegenstand heftiger Kritik. International formierte sich schon vor Jahren innerhalb der WTO eine andere G-20+, als lockerer Verbund von Ländern des »globalen Südens«, um der Verhandlungsmacht Europas, der USA und Japans etwas entgegenzusetzen und ihre Position zu stärken. Nach dem Scheitern der WTOVerhandlungen in Cancún/Mexiko 2003 setzten Brasilien, China oder auch Südafrika verstärkt auf sogenannte Süd-Süd-Kooperationen. Seit 2008 haben die USA und der von ihnen dominierte Washington Consensus als Hauptverursacher der Krise, aber auch die G-7/G-8, ihre Legitimation bei der die Schaffung einer neuen globalen Finanzarchitektur eingebüßt. Daher musste der Kreis der Beteiligten erweitert werden: Die G-20 wurden institutionalisiert. Auch wenn es diesen nach wie vor an einer demokratischen Legitimation (etwa durch die UNO) fehlt, ist dies gegenüber der kleinen Gruppe der G-7/G-8 doch ein erheblicher Fortschritt und eine Anerkennung der Verschiebung der Kräfteverhältnisse auf dem Weltmarkt: Immerhin stellen die G-20 nicht nur fast 90 % der globalen Wirtschaftsleistung, sondern vor allem 63 % der Weltbevölkerung und ca. 50 % der Armen dieser Welt. Nach dem Debakel einer Beinahe-Kernschmelze des Finanzsystems sind die USA oder Europa nicht länger in der Lage, allein die Spielregeln zu bestimmen, während aber auch kein neuer transnationaler Konsens erkennbar wird.
Die BIC-Staaten setzen auch daher verstärkt auf sogenannte Süd-Süd-Kooperationen: Sie bilden gemeinsame Plattformen innerhalb der internationalen Institutionen, um der Verhandlungsmacht Europas, der USA und Japans etwas entgegenzusetzen. Als Gegengewicht zu den transnationalen Institutionen wie IWF, Weltbank oder WTO werden darüber hinaus transregionale Integrationsprojekte vertieft, neue Institutionen geschaffen. Nicht in jedem Fall funktionieren die transregionalen Institutionen bereits, vor allem in Afrika stehen Integrationsprojekte vor schier unüberwindbaren Hürden. Gelingende Projekte werden jedoch andere nach sich ziehen. Auch in den direkten wirtschaftlichen Beziehungen untereinander wird direkter kooperiert: Immer öfter wird international direkt in der jeweiligen Landeswährung gehandelt, brasilianische Reais und chinesische Renminbi statt amerikanische Dollar. Nun wollen die BRIC-Staaten (inklusive Russland) zusammen mit dem IWF sogar mittelfristig eine neue Weltwährung ins Leben rufen, um das Problem mit dem Dollar als Weltgeld zu lösen. Nicht abkoppeln, sondern eigenständig über die Bedingungen und Formen der weiteren Integration ihrer Ökonomien in den Weltmarkt mitzubestimmen und zugleich die Abhängigkeit von den alten kapitalistischen Zentren reduzieren, ist das anvisierte Ziel. Durch Diversifizierung des Außenhandels konnte etwa Brasilien den Anteil des Exports in die USA, die EU und nach Japan in nur fünf Jahren um 12 % verringern, obwohl der Export auch in diese Länder zunahm. Dieses Vorgehen strahlt auf kleinere, zum Beispiel afrikanische Länder, die sich durch Kooperationen mit China oder Brasilien von einseitiger Abhängigkeit gegenüber der EU, den USA oder dem IWF befreien wollen, aus. Auf diese Weise sichert sich insbesondere China, aber auch Indien, den Zugang zu Rohstoffen in aller Welt. Massiv wird auch in (semi)peripheren Ländern investiert, z. B. in Südafrika. Die Struktur dieser sogenannten Süd-Süd-Kooperationen ändert allerdings wenig an den Mechanismen des Weltmarktes: China exportiert Fertigprodukte und importiert Rohstoffe und realisiert dabei Handelsbilanzüberschüsse. Damit werden Zentrum-Peripherie-Verhältnisse mit hierarchischen (imperialen) Abhängigkeiten reproduziert. Insbesondere das »Landgrabbing«, der Ankauf von Territorien
im Ausland (zur Sicherung von Rohstoffen oder von Flächen für die Agroindustrie), trägt für viele neokoloniale Züge. Von einem Modell kann mit Blick auf die unterschiedlichen Länder sicher nicht gesprochen werden, eher von kapitalistischen Varieties of Postneoliberalism. Progressive Initiativen oder Varianten stehen neben autoritären bis reaktionären Formen, sind häufig widersprüchlich verwoben.
Doch die Krise der Weltwirtschaft und des Neoliberalismus befördert die Abwendung von blinder Liberalisierung, Privatisierung und extremer Exportorientierung sowie die Suche nach alternativen Entwicklungsweisen. Wie allen stark exportorientierten Ökonomien setzt die Krise auch den genannten Ländern massiv zu: erst durch Rückgang der globalen Nachfrage, Verfall von Rohstoff- und Ölpreisen, Abzug von Kapital aus den alten kapitalistischen Zentren, dann durch Kapitalschwemme, Aufwertungsdruck und der Gefahr erneuten schnellen Abzuges des scheuen Rehs, sofern die übertriebenen Erwartungen der Anleger nicht erfüllt werden. Umso mehr wird entscheidend sein, ob es den BIC-Staaten gelingt, den sozialen Ausgleich mit einer Reorientierung auf die Binnenwirtschaft voranzutreiben, deren produktive Potentiale zu entfalten, sie zu einem selbsttragenden ökonomischen Faktor zu entwickeln und dafür – sofern vorhanden – ihren Ressourcen- und Ölreichtum für eine »postneoliberale« Transformation zu nutzen. Dafür bedarf es – insbesondere in China (aber auch Indien, Brasilien oder in Ländern wie Venezuela und den Golfstaaten) – auch einer Stärkung der Elemente der Selbstorganisation, der Zivilgesellschaft und Demokratie. Die BIC-Staaten (und Länder der Peripherien) müssen dies mit Politiken der Gewährleistung von Ernährungssicherheit, konsequenten Landreformen und ökologischer Umorientierung verbinden. Andernfalls drohen ohnehin scharfe gesellschaftliche Spannungen zu eskalieren: ethnifizierte regionale Konflikte, gewaltsame Arbeitskonflikte und Preisrevolten in China, Landkonflikte, Selbstmordwellen unter Bauern, »maoistische« Aufstände, religiös und ethnisch überformte soziale und territoriale Auseinandersetzungen in Indien, Spannungen in den brasilianischen Megacities und im Amazonasgebiet. Zugleich soll die Neuorientierung aus Sicht der Regierenden erfolgen, ohne die weltmarktorientierten Kapitalgruppen und Investoren vor den Kopf zu stoßen – angesichts der Wachstumsaussichten der BIC-Staaten stehen die Chancen dafür gar nicht schlecht. Von links gilt es diese »postneoliberalen« Strategien der Krisenbearbeitung, soziale und ökologische Reformen kritisch aufzugreifen und weiter in Richtung sozialistischer Transformationsperspektiven zu entwickeln und die repressiven und autoritären Elemente
zurückzudrängen.
Mario Candeias
Reihe «einundzwanzig» der Rosa Luxemburg Stiftung, Bd. 4
Stefan Schmalz und Matthias Ebenau
Dieter Klein (Hrsg.)
Berlin, Karl Dietz Verlag Berlin 2011
ISBN 978-3-320-02255-6