Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Globalisierung - Westafrika Sahel-Exit in Westafrika

Drei Sahelstaaten verlassen die regionale Organisation ECOWAS

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Mali, Bamako, Januar 2022: Demonstration gegen die Sanktionen der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten ECOWAS
Mali, Bamako, Januar 2022: Demonstration gegen die Sanktionen der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten ECOWAS Foto: Imago / Starface

Es bröckelt schon länger, aber so stark wie jetzt wackelte das Fundament der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) noch nie. Auslöser der aktuellen Krise der Regionalorganisation sind deren Schwierigkeiten im Umgang mit den Militärputschen in vier Mitgliedstaaten seit 2020. Nun erklärten am 28. Januar 2024 die Militärregierungen in Burkina Faso, Mali und Niger in einem gemeinsamen Communiqué ihren Austritt aus der ECOWAS – ihr Hauptvorwurf: die Vereinnahmung der ECOWAS durch «ausländische Mächte». Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Die ECOWAS-Mitgliedschaften Burkina Fasos, Guineas, Malis und Nigers sind seit den Regierungsumstürzen in den Ländern suspendiert. Sie ruhen, bis die einst angekündigte Übergangszeit jeweils beendet würde und nach Neuwahlen eine demokratisch legitimierte Regierung wieder das Ruder übernähme. Alle vier Staaten haben die zuletzt anvisierten Wahltermine bis auf Weiteres verschoben. Der Schritt von Mali, Burkina Faso und Niger, die sich seit September in der Allianz der Sahelstaaten (AES) zusammengeschlossen haben, wird auch als Zeichen gelesen, sich den von ECOWAS und dem Westen diktierten Neuwahlen zu verwehren. In jedem Fall demonstrieren die drei Regierungen einmal mehr ihren Bruch mit bis dahin für gegeben gehaltenen Strukturen und ihre Abwendung vom Westen.

Claus-Dieter König leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung Westafrika in Dakar.

Franza Drechsel ist Referentin und Projektmanagerin Westafrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Unter dem Motto «Néosouverainisme» (in etwa «neuer Souveränismus») handeln die Regierungen Malis, Burkina Fasos und Nigers gegen die Ex-Kolonialmacht Frankreich und reklamieren für sich, revolutionäre Ziele zu verfolgen, darunter die Selbstbestimmung ihrer Staaten. Vor diesem Hintergrund überrascht die Begründung für den – bisher nicht offiziell eingereichten – Austrittswunsch nicht: So habe sich die 1975 gegründete ECOWAS mit zuletzt 15 Mitgliedstaaten von den Idealen ihrer Gründerväter und vom Panafrikanismus entfernt. «Darüber hinaus ist die ECOWAS unter dem Einfluss ausländischer Mächte und dem Verrat ihrer Gründungsprinzipien zu einer Bedrohung für ihre Mitgliedstaaten und ihre Bevölkerung geworden, deren Glück sie eigentlich sichern sollte», heißt es im Communiqué.

Auch wenn die ECOWAS für viele Westafrikaner*innen ein abstraktes Gebilde ist, wird die Ankündigung des Austritts, der erst ein Jahr nach der offiziellen Einreichung des Gesuchs in Kraft träte, in den sozialen Medien und auf den Straßen kontrovers diskutiert. Einig sind sich die Westafrikaner*innen darin, dass die ECOWAS aktuell nicht im Interesse der Menschen handelt. Die Politik der Staatengemeinschaft werde zunehmend von der Europäischen Union (EU) und vor allem von Frankreich beeinflusst. Es gehe hauptsächlich um ausländische, konkret um europäische Interessen statt um diejenigen der Westafrikaner*innen.

Lässt sich dieser Wahrnehmung zustimmen? Inwiefern hat die Politik der Europäischen Union dazu beigetragen, dass die ECOWAS nun droht auseinanderzubrechen? Es lässt sich in der Tat nicht leugnen, dass der Staatenbund zunehmend zum Instrument der EU geworden ist, um die politischen und wirtschaftlichen Interessen Europas zu verfolgen, anstatt im Sinne der Menschen in Westafrika  zu agieren.

Die Notwendigkeit, in Frankreichs Gunst zu stehen

Auf die Putsche in Mali, Burkina Faso und Niger reagierte die ECOWAS mit unterschiedlich harten Sanktionen, um ihrer Forderung von kurzen Übergangsphasen und der schnellen Durchführung von Wahlen Nachdruck zu verleihen. In Mali wurden die Sanktionen aufgehoben, als eine Roadmap hin zu Neuwahlen mit der ECOWAS ausgehandelt worden war. In Niger wurde zunächst sogar ein militärisches Eingreifen mit der Konsequenz eines Regionalkriegs erwogen – was die EU unterstützte. Dies fand letztlich nicht statt, aber die Sanktionen bleiben hart und die humanitäre Lage spitzt sich weiter zu.

Das Wohl der Bevölkerungen dieser drei Staaten wurde dabei ignoriert. In Mali und Burkina Faso hatten vor den Putschen Massenbewegungen gegen die Regierungen stattgefunden und sie zum Rücktritt aufgefordert. Auch in Niger war vor dem Putsch die Unzufriedenheit mit der Regierung groß. Die möglichst schnelle Rückkehr zum Präsidialsystem französischer Prägung und damit die Wiedereinsetzung der früheren politischen Klasse, die ja die politische Krise herbeigeführt hat, stehen nicht im Interesse der Menschen, wie auch die letzte Umfrage des «Mali-Mètre» von 2023 gezeigt hat. Hierbei handelt es sich um eine sich selbst bereichernde politische Klasse, die sich selten zu schade ist, die Opposition repressiv auszuschalten. Sie repräsentiert also weder die Bevölkerung, noch lässt sie Partizipation zu. Somit ging es den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der ECOWAS mit ihren Sanktionen nicht um mehr Demokratie für die Bevölkerungen von Mali, Guinea, Burkina Faso und Niger oder allgemein um ihr Wohlergehen, sondern einzig um ihren eigenen Machterhalt.

Die Sanktionen wurden aus verschiedenen Gründen verhängt; dass sie jedoch gegen Mali und Niger besonders hart ausfallen, hat nicht zuletzt mit der Relevanz der Länder für Frankreich bzw. die EU zu tun. In Mali hatte Frankreich zu dem Zeitpunkt viele Truppen stationiert, um die malische Armee im Kampf gegen dschihadistische Gruppen zu unterstützen. Nachdem die Soldat*innen dort unerwünscht geworden waren, wurden sie nach Niger geschickt. Das Land galt als Europas regionale Bastion gegen den dschihadistischen Terrorismus und als Fokusland, mithilfe dessen die Migration gen Europa unterbunden werden müsste.

Kein Wunder, dass die Bevölkerungen der ECOWAS-Staaten die Regionalorganisation als verlängerten Arm Frankreichs sehen und die Sanktionen als implizit von Frankreich diktiert verstehen. Das liegt auch daran, dass die Staats- und Regierungschefs der früheren französischen Kolonien de facto noch immer in der Gunst des französischen Präsidenten stehen müssen, um gewählt zu werden bzw. sich halten zu können.

Statt allerdings ein Umlenken der Putschisten zu bewirken, führten die Sanktionen vielmehr dazu, dass die Bevölkerung sich klarer hinter die Militärregierung stellte – in der Hoffnung, dass endlich eine Regierung ihre Belange ernst nimmt. Ein Großteil der aktuell von Militärs Regierten fühlt sich von der ECOWAS verraten und im Stich gelassen – und führt das auch auf den Einfluss Frankreichs und der EU zurück.

Verhinderung wirtschaftlicher Entwicklung

Die EU und besonders Frankreich spielen auch bei der Festigung unfairer Handelsbeziehungen eine große Rolle. Die kolonial gewachsenen und postkolonial fortgeschriebenen Ausbeutungsverhältnisse sollten im von EU und ECOWAS ausgehandelten und 2014 angenommenen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) vertieft werden. Dieses sollte zwar den ECOWAS-Staaten Zugang zur EU ohne Handelszölle sichern, sah aber auch vor, dass die Einfuhrzölle von EU-Waren in die ECOWAS über einen gewissen Zeitraum sinken. Damit hätten EU-Waren westafrikanische Märkte fluten und lokale Wirtschaftszweige kaputt machen können. Es kam nicht dazu, denn tatsächlich unterzeichneten die Mitgliedstaaten das Abkommen nicht. Die zu erwartenden wirtschaftlichen Konsequenzen und deren Auswirkungen auf die Einkommensquellen der Bevölkerungen waren ein Grund dafür. Schwer wog auch, dass Zolleinkünfte einen bedeutenden Teil der westafrikanischen Staatseinnahmen ausmachen und ihr Wegfall kaum zu kompensieren wäre.

Gleichzeitig nutzte die EU die Gelegenheit, bilaterale Interimsabkommen mit Ghana und Côte d’Ivoire auszuhandeln. Die beiden Länder hatten selbst ein großes Interesse daran, weil sie damit einen besseren Zugang zum EU-Markt bekamen (anders als die meisten anderen ECOWAS-Staaten zählen sie nicht zu den «least developed countries», die sowieso keine EU-Einfuhrzölle zahlen). Allerdings sind die beiden Länder angesichts der multiplen Freihandelsabkommen der EU mit anderen Staaten nicht ausreichend konkurrenzfähig, um ihre Exporte nach Europa auszuweiten. Da innerhalb der ECOWAS die Freizügigkeit von Waren gilt, sind die bilateralen Abkommen für die anderen ECOWAS-Staaten gleichzeitig von Nachteil – denn obwohl sie das EPA nicht unterzeichnet haben, kommen nun erleichtert EU-Waren über Ghana und Côte d’Ivoire in ihre Länder (was auch die Zahlen über die deutlich gestiegenen Exporte der EU nahelegen). Nicht selten sind diese, zum Beispiel im Lebensmittelbereich, subventioniert und damit günstiger als nicht subventionierte westafrikanische Lebensmittel. Das ist zwar für die Verbraucher*innen positiv, nicht aber für die Bäuer*innen, die ihre Erzeugnisse schlechter verkaufen können.

Wie alle Freihandelsabkommen sind auch EPAs ein Hindernis für die Industrialisierung und wirtschaftliche Entwicklung westafrikanischer Staaten. Auf ausländischen Märkten können sie lediglich mit mineralischen Rohstoffen und wenigen landwirtschaftlichen Gütern (z. B. Kakao und Baumwolle) konkurrieren. Eine international konkurrenzfähige Industrie aufzubauen, ohne Importe industrieller Güter einschränken zu können oder mit Schutzzöllen zu belegen, ist nicht möglich. Somit zementieren die Freihandelsabkommen und EPAs die industrielle Schwäche westafrikanischer Volkswirtschaften. ECOWAS hätte mehr zu deren Entwicklung beigetragen, wenn ihre Wirtschaftsexpert*innen ihre Zeit und Kreativität in ein internes Abkommen zur abgestimmten Industrialisierung mit einer diese flankierenden gemeinsamen Handelspolitik investiert hätten, statt in Verhandlungen mit der EU. So aber hat die EU mit den bilateralen EPAs zur Unterminierung des Handels innerhalb Westafrikas beigetragen und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in der Region erschwert.

Verlagerung der EU-Außengrenzen innerhalb der ECOWAS

Ein anderes Beispiel dafür, wie die EU die ECOWAS untergräbt, betrifft nicht die Freizügigkeit von Waren, sondern diejenige von Menschen. Sie ist im ECOWAS-Statut von 1979 festgehalten: Es bedarf keiner Visa für Menschen, die in einem der Mitgliedstaaten der ECOWAS wohnhaft sind und innerhalb des Wirtschaftsraums reisen; ein ECOWAS-Pass ist dafür ausreichend. Das ist auch sehr sinnvoll in einer Region, in der Migration seit Jahrhunderten zum Alltag gehört. Menschen arbeiten saisonal im Nachbarland, gehen für einige Jahre fort, in seltenen Fällen auch für immer. In jedem Fall ist Migration existenziell, da Subsistenzwirtschaft in vielen Gegenden Westafrikas kaum ganzjährig zum Leben reicht.

Doch spätestens seit 2015 auf Druck und im Gegenzug zu hohen Geldzahlungen der EU in Niger ein Migrationsgesetz erlassen wurde, das sowohl Migrant*innen als auch jegliche Dienstleister*innen kriminalisiert, wurde die Freizügigkeit innerhalb der ECOWAS untergraben. Die EU schaffte es anhand verschiedener Instrumente, darunter Migrationspartnerschaften und der Einsatz der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, seine Außengrenzen nach Afrika zu verlagern – mitten hinein in die ECOWAS.

Nicht nur Menschen, die innerhalb der Region oder darüber hinaus migrieren wollen, sondern auch Händler*innen und Reisende wurden und werden zunehmend an Grenzüberschreitungen gehindert, auch mit ECOWAS-Pass. Die Westafrikaner*innen wissen nur zu gut, dass sie die Kontrollposten letztlich der EU zu verdanken haben – was ihre Ablehnung der EU-Politik vergrößert, genauso wie ihre Enttäuschung gegenüber ihren eigenen Regierungen, die es nicht schaffen, sich gegen die EU durchzusetzen (bzw. das gar nicht wollen). Dass in Niger das umstrittene Gesetz im November 2023 wieder aufgehoben wurde, vermittelt im Gegenzug vielen Nigrer*innen den Eindruck, die Regierung handele nun in ihrem Interesse.

Fazit

Die ECOWAS galt lange als Vorbild regionaler Organisationen in Afrika, weil die Visafreiheit und das Wegfallen von Zöllen innerafrikanischen Handel förderten. Die kolonial künstlich ausgehandelten Staatsgrenzen wurden dadurch zumindest abgebaut und man konnte dem Ziel des Panafrikanismus ein klein wenig näher kommen. Die EU hat mit ihrer Politik die ECOWAS geschwächt – sie hat westafrikanischen Handel unterminiert und die Bewegungsfreiheit untergraben. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten folgen entweder den Interessen der EU und Frankreichs oder setzen ihnen wenig entgegen. Die Putsche haben gezeigt, dass die ECOWAS hier keine wirkliche Handhabe hat und dass Frankreich seine Position, welche Regierungsstürze akzeptabel sind (Tschad) und welche nicht (Guinea, Mali, Burkina Faso und vor allem Niger), nicht mehr machtvoll durchsetzen kann.

Dass nun drei Länder die ECOWAS verlassen wollen, stellt die Regionalorganisation als Ganzes infrage. Drei Länder in ihrer Mitte wollen aussteigen – aus dem impliziten europäischen Imperialismus. Das wird wirtschaftliche Herausforderungen mit sich bringen und Burkinabè, Malier*innen und Nigrer*innen vor die Schwierigkeit stellen, dass sie sich voraussichtlich über die drei Staaten hinaus in der Region nicht mehr frei bewegen können. Inwiefern das Streben nach neuer Souveränität den Bevölkerungen letztlich nützt, bleibt abzuwarten. Entscheidend dafür wird nicht zuletzt sein, wie sich die Allianz der Sahelstaaten wirtschaftlich und finanzpolitisch aufstellen kann und welche internationale Unterstützung sie dabei von wem bekommt, ohne sich auf eine neue Form des Imperialismus einzulassen.

Die EU und ECOWAS sollten auf den Austritt nicht mit neuen Sanktionen, Handelsbeschränkungen und Einschränkungen des freien Personenverkehrs reagieren. Um die regionale Integration in Westafrika zu retten, ist sie neu zu konzipieren: im Interesse der Menschen. Dazu gehören eine aktive regionale Industrialisierungsstrategie und eine Handelspolitik, die diese schützt, sowie eine Stärkung des freien Personenverkehrs. Die EU kann dies unterstützen, indem sie durch Abkommen die Handlungsspielräume dafür erweitert.