Publikation Partizipation / Bürgerrechte - Israel - Palästina / Jordanien Auswirkungen der israelischen «Justizreform» auf die palästinensische Bevölkerung

Was der Levin-Plan für die Palästinenser*innen auf beiden Seiten der Grünen Linie bedeutet

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April 2023

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Israelische Soldaten stehen nach einem Angriff in Nablus im besetzten Westjordanland in Alarmbereitschaft, 26. März 2023.
Israelische Soldaten stehen nach einem Angriff in Nablus im besetzten Westjordanland in Alarmbereitschaft, 26. März 2023. Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Am 29. Dezember 2022 wurde die 37. Regierung des Staates Israel vereidigt. An ihrer Spitze steht Ministerpräsident Benjamin Netanjahu von der Likud-Partei, die mit zwei rechtsextremen Parteien eine Koalition eingegangen ist: Otzma Jehudit («Jüdische Stärke») unter dem Vorsitz von Itamar Ben-Gvir und HaTzionut HaDatit («Religiöser Zionismus») unter dem Vorsitz von Bezalel Smotrich.

Weniger als eine Woche später gab der neu ernannte Justizminister Yariv Levin von der Likud-Partei eine Pressekonferenz, auf der er Pläne für eine «Justizreform» vorstellte, in der die einen eine «Revolutionierung des Rechtssystems», die anderen eine Art «Coup d’état» sehen. In der Öffentlichkeit ist meist nur noch vom Levin-Plan die Rede. Simcha Rotman («Religiöser Zionismus»), Vorsitzender des für «Verfassung, Recht und Justiz» zuständigen Knesset-Ausschusses, setzte den Levin-Plan ganz oben auf dessen Tagesordnung und sorgte dafür, dass die Debatte der Änderungsvorschläge des Justizministers und der damit zusammenhängenden Koalitionsvereinbarungen die gesamte Sitzungszeit einnahm.

Sollte der Levin-Plan umgesetzt werden, würde dies das israelische Rechtssystem fundamental verändern. Das wichtigste Ziel ist, die Macht und Kontrollfunktion des Obersten Gerichtshofs Israels einzuschränken und gleichzeitig der Knesset und der Regierung unbegrenzte Befugnisse bei der Gesetzgebung einzuräumen, was diese für die Durchsetzung undemokratischer und menschen- und bürgerrechtswidriger Gesetze nutzen könnten.

Der Levin-Plan sieht im Wesentlichen die folgenden Änderungen vor: a) Der Oberste Gerichtshof soll nicht länger die Rechtmäßigkeit von Grundgesetzen prüfen und bei Bedarf intervenieren können. b) In dem Ausschuss, der über die Ernennung und Entlassung von Richter*innen entscheidet, sollen zukünftig die Knesset-Abgeordneten die Mehrheit stellen. Dadurch würde der politische Einfluss bei der Richterwahl steigen. c) Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs können mit parlamentarischer Mehrheit überstimmt werden, das heißt, es können Gesetze wieder in Kraft gesetzt werden, die zuvor vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt worden waren. d) Stärkung des politischen Einflusses auf die Ernennung von Rechtsberater*innen der Ministerien. e) Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsüberprüfung, die es Gerichten ermöglicht, Regierungs- und Behördenentscheidungen aufzuheben. f) Einschränkung des Rechts öffentlicher Einrichtungen, staatliche Entscheidungen gerichtlich anzufechten.

Seit der Ankündigung Levins, dieses Gesetzesvorhaben auf den Weg zu bringen, kam es in mehreren israelischen Städten zu massiven Protesten und Demonstrationen, vor allem von jüdische Israelis  die sich gegen seine Verabschiedung aussprechen. Die Demonstrant*innen und Vertreter*innen der Oppositionsparteien beklagen unter anderem, bei einer Umsetzung des Levin-Plans würde die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs geschwächt und der Grundsatz der Gewaltenteilung verletzt. Dies, zusammen mit der Ausweitung der Macht von Politiker*innen bei der Ernennung von Richter*innen, drohe wesentliche Prinzipien zu unterlaufen oder ganz außer Kraft zu setzen, die Israelis als die Grundlagen ihres «demokratischen und jüdischen Staats» betrachten. Am 27. März erklärte Ministerpräsident Netanjahu daraufhin, das Gesetzgebungsverfahren zu stoppen und erst in der Sommersitzung der Knesset über die umstrittene «Justizreform» abstimmen zu lassen.

Sawsan Zaher, Anwältin und palästinensische Menschenrechtsaktivistin, lebt in Haifa. Sie hat sich auf verfassungsrechtliche Klagen vor dem Obersten Gerichtshof spezialisiert, in denen sie die Interessen von palästinensischen Familien auf beiden Seiten der Grünen Linie vertritt. Sie hat mehrere relevante verfassungsrechtliche Fälle vor israelischen Gerichten verhandelt. Bis August 2021 war sie stellvertretende Generaldirektorin und leitende Anwältin des «Adalah Legal Center», wo sie 16 Jahre tätig war.

Obwohl bei den Massenprotesten Verstöße gegen demokratische Grundwerte und auch Menschenrechtsverletzungen ein zentrales Thema sind, ist es kein Zufall, dass sich die palästinensische Bevölkerung bislang daran kaum beteiligt hat. Denn der Staat Israel sorgt dafür, dass demokratische Prinzipien und Rechtstaatlichkeit, insbesondere der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, für sie gar nicht oder nur sehr eingeschränkt gelten. Zum letzten Mal hatte die Verabschiedung des «Grundgesetzes über Israel – Der Nationalstaat des jüdischen Volkes» von 2018 (besser bekannt als das Nationalstaatsgesetz), das Israel als einen ethnischen Nationalstaat definiert und die jüdische Vorherrschaft festschreibt, eine Art Verfassungs- und Staatskrise in Israel ausgelöst, die sich auch auf die Rolle des Obersten Gerichtshofs bezog. Dieser enttäuschte die Hoffnungen der zahlreichen Kritiker*innen des Nationalstaatsgesetzes, als er diesem in seinem Urteil vom Juli 2021 bescheinigte, es habe keinen diskriminierenden Charakter und widerspreche auch nicht dem Charakter Israels als einem demokratischen Staat. Ein weiterer Grund, warum sich die meisten Palästinenser*innen vom aktuellen Kampf für die Wahrung demokratischer Prinzipien und Werte in Israel wenig angesprochen fühlen, ist die anhaltende israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete, einschließlich der Blockade des Gazastreifens.

Während die Verhandlungen über die «Justizreform» bis zur Sommersitzung der Knesset weitergehen werden, bleibt in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung meist eine Frage ausgespart, nämlich die, was das Vorhaben der jetzigen Regierung, weitreichende, zum Teil verfassungsrechtliche Änderungen vorzunehmen und das System der Gewaltenteilung umzubauen, für die palästinensische Bevölkerung auf beiden Seiten der Grünen Linie bedeuten würde. Die hier zu erwartenden rechtlichen Auswirkungen sind Gegenstand dieses Beitrags. Er knüpft dabei an Positionspapiere verschiedener Menschenrechtsorganisationen in Israel an, die bereits detailliert auf die Koalitionsvereinbarungen der neuen Regierung und deren juristische Implikationen für die Palästinenser*innen eingegangen sind. Dieser Beitrag konzentriert sich auf den Levin-Plan und analysiert, wie dessen einzelnen Komponenten bei einer Umsetzung die Rechtslage der palästinensischen Bevölkerung vermutlich noch weiter verschlechtern würden.
 

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