Nach Jahrzehnten weitgehenden Stillstands auf dem Gebiet der Arbeitszeitpolitik hat das Thema im europäischen Ausland in den letzten Jahren wieder deutlich an Fahrt aufgenommen. Von Island über Großbritannien bis Spanien experimentieren immer mehr Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und öffentliche Dienststellen erfolgreich mit der Vier-Tage-Woche. Der bislang größte derartige Feldversuch fand im vergangenen Jahr in Großbritannien statt. Über 60 Unternehmen mit insgesamt rund 2.900 Beschäftigten erprobten von Juni bis Dezember 2022 eine Vier-Tage-Woche in Form des 100-80-100-Modells: 100 Prozent Bezahlung, 80 Prozent Arbeitszeit, 100 Prozent Leistung. Die wissenschaftliche Auswertung dieses Versuchs, die hiermit in deutschsprachiger Übersetzung vorliegt, zeigt den durchschlagenden Erfolg.
92 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, die Vier-Tage-Woche fortführen zu wollen, 96 Prozent der Beschäftigten befürworteten das ebenfalls. Angstzustände, Müdigkeit, Schlafprobleme und andere Burnout- Symptome gingen zurück, eine deutliche Mehrheit berichtete von einer besseren Work-Life-Balance sowie von positiven Auswirkungen auf ihr Familien- und Sozialleben.
Philipp Frey ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe «Digitale Technologien und gesellschaftlicher Wandel» am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe, Research Affiliate von Autonomy sowie Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg.
Aber auch wichtige Unternehmenskennzahlen veranschaulichen die Vorteile kürzerer Arbeitszeiten. So ist der Umsatz während des Versuchszeitraums im Großen und Ganzen gleich geblieben bzw. nach Unternehmensgröße gewichtet sogar um durchschnittlich 1,4 Prozent angestiegen – die Einführung einer Vier-Tage-Woche scheint also nicht den Unternehmenserfolg beschränkt zu haben, im Gegenteil: Die Autor*innen der vorliegenden Studie konstatieren angesichts eines leicht gestiegenen Umsatzes bei reduzierter Arbeitszeit sogar deutliche Produktivitätssteigerungen. Die Unternehmen profitierten zudem von steigenden Bewerber*innenzahlen und von einer deutlich höheren Mitarbeiter*innenbindung – die Anzahl der Kündigungen ging während des Experiments im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 57 Prozent zurück. Auch wirkten sich die längeren Erholungszeiten und das niedrigere Stresslevel günstig auf die Krankenstände aus. Die Krankheitstage gingen um zwei Drittel zurück.
Dieses rundweg positive Gesamtergebnis ist nicht zuletzt auf eine umfangreiche zweimonatige Vorbereitungsphase zurückzuführen, in der die teilnehmenden Unternehmen ihre Umsetzungsstrategien für eine Vier-Tage-Woche entwickelten. Dabei profitierten sie von der wissenschaftlichen Begleitung durch Forscher*innen des Boston College, der University of Cambridge und des Thinktanks Autonomy, die bei der Strategieentwicklung halfen und Erfahrungswerte aus anderen Unternehmen einbrachten, die die Umstellung auf kürzere Arbeitszeiten bereits vollzogen hatten.
Von zentraler Bedeutung war aber auch die Innovationskraft der Belegschaften selbst. Wie die Geschäftsführerin einer Wohnungsbaugesellschaft mit einer rund 250-köpfigen Belegschaft im Rahmen eines Forschungsinterviews bemerkte, sind alle Beschäftigten jeweils Expert*innen ihres eigenen Arbeitsalltags. Dieser inklusive Ansatz des Feldversuchs dürfte ein wesentlicher Faktor für die gestiegene Zufriedenheit der Beschäftigten bei gleichzeitig zunehmender Produktivität gewesen sein. Zudem scheint diese Herangehensweise auch zum Abbau von Ängsten vor einer Arbeitsverdichtung als möglicher Folge einer Vier-Tage-Woche beigetragen zu haben. Statt Rationalisierungsmaßnahmen von oben verordnet zu bekommen, wurden die Beschäftigten selbst zur treibenden Kraft hinter Verbesserungen in der Arbeitsorganisation. Die meisten Unternehmen und Organisationen stellten dabei ihre Arbeitsabläufe ganz grundsätzlich zur Disposition – unnötige Meetings wurden abgeschafft und die verbleibenden Treffen deutlich verkürzt, es wurde in neue Technologien investiert und Zeit innerhalb des Arbeitstags geschaffen, in der ungestört von Unterbrechungen konzentriert gearbeitet werden kann. Die Einführung einer Vier-Tage-Woche wirkte so als eine Art Katalysator für organisatorische und technische Weiterentwicklungen und setzte das ungeheure Innovationspotenzial der Beschäftigten frei.
Was können wir von dem britischen Fall lernen?
Zunächst einmal: Die Vier-Tage-Woche funktioniert – und das über verschiedenste Qualifikationsniveaus, Branchen und Betriebsgrößen hinweg und ohne dabei die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der Unternehmen in Mitleidenschaft zu ziehen. Es handelt sich nicht um einen Tagtraum, der nicht eingelöst werden könnte. Tausende Beschäftigte haben sie ausprobiert und werden weiter von ihr profitieren. Trotz dieses durchweg positiven Fazits ist allerdings nicht davon auszugehen, dass sich die Vier-Tage-Woche ohne weiteres Zutun in den kommenden Jahren von allein immer weiter durchsetzen wird. Der in der britischen Wirtschaft besonders spürbare Arbeitskräftemangel – forciert durch das massenhafte Ausscheiden gerade älterer Beschäftigter im Zuge der Corona-Pandemie und des Verlusts europäischer Fachkräfte infolge des Brexits – zwingt viele Unternehmen zu Überlegungen, wie sie ihre Attraktivität als Arbeitgeber steigern können. Es bleibt abzuwarten, inwiefern der zunehmende Fachkräftemangel in den nächsten Jahren auch in Deutschland vergleichbare positive Entwicklungen befördern wird.
Die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche wurde in den letzten Jahren zunehmend und systematisch popularisiert. In Großbritannien existiert ein robustes Netzwerk von Organisationen, die die Vorzüge einer Vier-Tage-Woche in den traditionellen wie den sozialen Medien permanent in Erinnerung halten, Positivbeispiele und Implementierungsstrategien wissenschaftlich aufarbeiten und medial in ihrer Wirkung verstärken und so ein positives Momentum befördert haben. Progressive Gewerkschaften wie die Communication Workers Union (CWU) haben umfassende Kampagnen zu diesem Thema organisiert. Und auch parteiübergreifend gibt es prominente Fürsprecher* innen: Unter dem Vorsitz von Jeremy Corbyn setzte sich die Labour Party als größte Oppositionspartei des Vereinigten Königreichs die Einführung der 32-Stunden-Woche zum Ziel, der Petitionsausschuss des walisischen Parlaments sprach sich für einen entsprechenden Versuch im öffentlichen Sektor aus und die schottische Regierung gab bekannt, Pilotprojekte zur Arbeitszeitverkürzung im Land zu unterstützen.
Großbritannien ist allerdings kein isolierter Ausreißer: Von Privatunternehmen durchgeführte Experimente gab es in den letzten Jahren auch in Irland und den USA. Der Erfolg der 35-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst Islands hat in der Inselnation eine breite Bewegung in Richtung Arbeitszeitverkürzung angestoßen und in Spanien hat die progressive Regionalregierung Valencias einen Feldversuch gestartet, in dessen Rahmen Unternehmen die Einführung einer Vier-Tage-Woche erleichtert wird, indem Lohnkosten übergangsweise subventioniert werden.
Ein Blick über den deutschen Tellerrand hinaus
Angesichts der internationalen Erfolge bei der Einführung einer Vier-Tage-Woche stünde es Gewerkschaften wie progressiven Parteien in Deutschland gut zu Gesicht, sich ihrer bestehenden Beschlusslagen zu erinnern, offensiv für eine Vier-Tage-Woche einzutreten und für entsprechende Mehrheiten zu werben – auf der Straße, in den Betrieben und in den Parlamenten. Diese Aufgabe scheint umso dringlicher angesichts einer öffentlichen Debatte über den Arbeitskräftemangel, dem nicht durch Produktivitätssteigerungen, sondern durch längere Wochenund Lebensarbeitszeiten begegnet werden soll. Das britische Beispiel zeigt: Ein solches Denken ist rückschrittlich. Es geht darum, smarter und nicht länger zu arbeiten. In diesem Sinne liefert die Vier-Tage-Woche auch einen wichtigen Impuls für eine zukunftsfähige Neuausrichtung der hiesigen Arbeitsmarktpolitik.
Der Kampf um die Vier-Tage-Woche bietet insbesondere den Gewerkschaften – nach den zurückliegenden Jahrzehnten sinkender Arbeitsqualität und erodierender Löhne – eine Chance, ihre gesamtwirtschaftliche Gestaltungskompetenz unter Beweis zu stellen und sich so auch selbst als gesellschaftspolitischer Akteur zu erneuern. Mit Blick auf die sukzessiven Erfolge bei der Ost-West-Angleichung von Arbeitszeiten im Organisationsbereich der Industriegewerkschaft (IG) Metall, bei den Optionen für eine verkürzte Vollzeit und bei der zunehmenden Zahl von Tarifverträgen, die zusätzliche Urlaubstage für sämtliche Beschäftigte oder zumindest eine geförderte Möglichkeit zur Entgeltumwandlung in zusätzliche freie Zeit vorsehen, ließe sich bereits von einer Renaissance der betrieblichen Arbeitszeitpolitik sprechen. Pläne für ambitionierte arbeitszeitpolitische Initiativen lagen schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie – etwa bei der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) – vor, die wieder aufgenommen werden könnten. In Anbetracht der starken Fragmentierung des Arbeitsmarkts ist zu hoffen, dass sich – statt einer Stärkung individueller Wahloptionen (die im Zweifel auch durch individuellen Lohnverzicht bezahlt werden müssten und dementsprechend eher besserverdienende Beschäftigte ansprechen) – ein klarer Fokus auf kollektive Arbeitszeitverkürzungen in der gewerkschaftspolitischen Debatte durchsetzen wird. Die Ankündigung der IG Metall, eine 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich als Kernforderung in die Ende 2023 anstehende Tarifrunde in der Stahlindustrie einzubringen, stellt einen großen Schritt nach vorn für die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland dar und holt diese Forderung in die Mitte der Gesellschaft. Die Kolleg*innen in diesem Kampf zu unterstützen wird in der nächsten Zeit eine zentrale Aufgabe für progressive Akteur*innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik sein.
Im historischen Rückblick treten die Vorzüge kollektiver Arbeitszeitverkürzungen besonders deutlich zutage. Denn heute sehen sich die Gewerkschaften mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie in der Zeit vor der Einführung der Fünf-Tage-Woche – das heißt mit einer zunehmenden Polarisierung des Arbeitsmarkts, einer sinkenden Tarifbindung und schwächelnden Organisationsgraden. Mit dem Aktionsprogramm des Jahres 1955 erfolgte eine strategische Neuausrichtung auf ein erreichbares, aber ambitioniertes und branchenübergreifendes Kampagnenziel. Dadurch ist es den Gewerkschaften damals gelungen, die eigene Gestaltungskompetenz im Interesse der Beschäftigten unter Beweis zu stellen, deren alltägliche Lebensrealität zu verbessern, das Kräftegleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt zu ihren Gunsten zu verschieben und so die eigene Relevanz und Strahlkraft zu steigern.
Die strategischen Vorzüge einer Vier-Tage-Woche sind jedoch nicht auf den gewerkschaftspolitischen Bereich beschränkt, im Gegenteil: Diese Forderung eignet sich für breite gesellschaftliche Bündnisse – von der Gewerkschaftsbewegung über feministische Gruppen und die Klimabewegung bis hin zu den Kirchen. Sämtliche Parteien links der Mitte haben Beschlüsse gefasst, in denen sie sich mehr oder weniger konkret zu Arbeitszeitverkürzungen bekennen. Entsprechende Feldversuche im öffentlichen Dienst nach isländischem Vorbild oder die Förderung von privatwirtschaftlichen Initiativen nach spanischem Vorbild könnten als wirtschafts- und arbeitspolitische Leuchtturmprojekte im Sinne einer progressiven Mehrheit fungieren und ganz praktisch den Wert linker Regierungsbeteiligungen aufzeigen.
Der nachfolgende Report bietet einen umfassenden Einblick in das weltweit größte Pilotprojekt zur Vier-Tage-Woche. Als solcher liefert er wichtige Hinweise hinsichtlich ihrer Wirkung, aber auch hinsichtlich praktischer Fragen ihrer Einführung. Und er gibt detailliert Auskunft über die Entwicklung zentraler Kennzahlen der teilnehmenden Unternehmen sowie über die Erfahrungen der Beschäftigten, insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Wohlbefinden und Work-Life-Balance. Diese allgemeinen Erkenntnisse werden anhand exemplarischer Betriebsfälle vertieft – aufgezeigt wird hierbei, wie die Beteiligten mit Herausforderungen im Rahmen des Versuchs umgegangen sind und wie sie ihre Erfahrungen reflektieren. Dieser Bericht gewährt somit einen Blick über den deutschen Tellerrand und auf einen Trend, der – hoffentlich – in der näheren Zukunft zunehmend prägend für die Arbeitswelt werden wird. Dabei richtet er sich an Aktivist*innen, Gewerkschaftsfunktionär*innen und progressive Unternehmer*innen sowie an Politiker*innen gleichermaßen.
Philipp Frey (Vorwort)