Der Sieg von Hugo Chávez bei den Präsidentschaftswahlen ist für die venezolanische Linke ein wichtiger Erfolg, doch auch die Opposition geht deutlich gestärkt aus den Wahlen hervor.
Bei den Präsidentschaftswahlen in Venezuela haben die Vertreter des bolivarischen Prozesses und allen voran Präsident Hugo Chávez einen bedeutenden Erfolg errungen. Auch nach 14 Jahren an der Regierung steht mehr als die Hälfte der venezolanischen Wählerinnen und Wähler hinter dem Kandidaten der Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV). Welche Auswirkungen der erneute Wahlsieg auf das Transformationsprojekt hin zu einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ hat, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.
Chavismus: „Wahlbewegung des Volkes“
Das vielleicht deutlichste Merkmal dieser Präsidentschaftswahlen in Venezuela war die enorme Wahlbeteiligung. Bereits am frühen Nachmittag des Wahlsonntags zeichnete sich in allen Regionen ein in der venezolanischen Geschichte einmaliger Rekord ab. Im Vorfeld hatten sich fast 19 Millionen Menschen (Gesamtbevölkerung knapp 29 Millionen) und damit etwa 64 Prozent der Bevölkerung für die Wahl registrieren lassen[1]. Nach letzten Zahlen des Nationalen Wahlrates (CNE) lag die Wahlbeteiligung bei über 80 Prozent, d.h. mehr als 15 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner nahmen an der Abstimmung teil. Damit ist zunächst deutlich, dass der bolivarische Prozess seine kontinuierliche Aktivierungswirkung hinsichtlich der politischen Beteiligung der Bevölkerung noch einmal deutlich verstärkt hat – ein Aspekt, der für das Selbstverständnis des venezolanischen Transformationsprojektes als Wahl- bzw. als legislative Bewegung von elementarer Bedeutung ist. Ausnahmen von der kontinuierlichen politischen Aktivierung bildeten nur die Parlamentswahl im Jahr 2005, als die Opposition kurzfristig zum Boykott aufrief, sowie das Referendum über die Verfassungsänderung im Jahr 2007, bei dem es der bolivarischen Bewegung nicht gelungen war, die eigenen Unterstützer ausreichend zu mobilisieren (Diagramm 1). Aber auch gegenüber einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von etwa 11 Millionen Menschen bei den letzten Abstimmungen kamen am vergangenen Sonntag noch einmal 4 Millionen Personen hinzu.
Gegenüber den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1993 hat sich die Zahl der Wähler mit dem aktuellen Ergebnis fast verdreifacht[2], während die Bevölkerungszahl nur um etwas mehr als ein Drittel angestiegen ist. Insbesondere ab dem Jahr 2000 ist der Anteil der ins Wählerregister eingetragenen Personen von etwa 46 Prozent auf 64 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Dies hat wesentlich mit Maßnahmen der Regierung zu tun, die Ausstellung von Personalausweisen zu erleichtern und die Menschen durch Kampagnen dazu zu motivieren, sich für die Wahlen zu registrieren. So richtete die Chávez-Regierung mit der Misión Identidad ein eigenes Sozialprogramm ein, um vor allem die armen Bevölkerungsteile mit Ausweisen auszustatten und ihnen die Ausübung ihrer bürgerlichen Rechte zu ermöglichen. Zuvor waren mehrere Millionen vorwiegend armer Venezolanerinnen und Venezolaner nicht nur von den Wahlen ausgeschlossen, sondern auch in allen anderen Bereichen zu einem Leben in Informalität gezwungen, weil sie über keine Identitätsnachweise verfügten.
Für den aktuellen Wahlgang hatte die hohe Beteiligung auch deshalb eine besondere Bedeutung, weil es zuvor Hinweise darauf gegeben hatte, dass die im „Tisch der Demokratischen Einheit“ (MUD) organisierten bürgerlichen Parteien einen Sieg von Hugo Chávez mit weniger als zehn Prozent Vorsprung nicht anerkennen würden. Tatsächlich hatten sich deren Sprecher bis zum Wahltag geweigert, sich auf eine bedingungslose Anerkennung der Ergebnisse festzulegen, obwohl internationale Organisationen wie die Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) oder das US-amerikanische Carter-Zentrum wiederholt die Vertrauenswürdigkeit des Wahlsystems hervorgehoben hatten.
Sowohl die Unterstützer des bolivarischen Prozesses als auch die Anhänger der Opposition mobilisierten am Wahltag zu einer möglichst frühzeitigen Stimmenabgabe. In vielen Wahllokalen waren bereits gegen 14 Uhr (Ortszeit) mehr als 80 Prozent der abgegebenen Stimmen ausgezählt. Zusammen mit dem elektronischen Wahlsystem, dass die Auszählungsergebnisse praktisch in Echtzeit an den CNE überträgt, sorgte dies dafür, dass bereits am Nachmittag eine eindeutige Tendenz vorlag.
Als der Herausforderer, Henrique Capriles Radonski, gegen 16 Uhr (Ortszeit) seine Stimme abgab, erklärte er nicht nur eine Anerkennung des Ergebnisses, sondern forderte seine Anhängerinnen und Anhänger auf, die Verkündung der Resultate „zu Hause im Kreis der Familie“ abzuwarten. Gemeinsam mit der offensiven Mobilisierung der chavistischen Basis, die am Abend auch in von der Opposition dominierten Stadtteilen deutlich sichtbare Präsenz zeigte, trug dies wesentlich zu einem weitgehend friedlichen Verlauf der Wahlnacht bei. Bereits vor der offiziellen Verkündung des Ergebnisses durch den CNE um 23 Uhr waren viele öffentliche Plätze von feiernden Unterstützern des alten und neuen Präsidenten besetzt.
Die Ergebnisse
Nach dem amtlichen Endergebnis erhielt der Kandidat der PSUV 55,25 Prozent der Stimmen und kann nun bis zum Jahr 2019 im Amt bleiben. In 21 von 23 Bundesstaaten sowie im Hauptstadtdistrikt stimmte die Mehrheit für Chávez, der damit auch drei von fünf durch die Opposition regierte Bundesstaaten gewann. Besonders schmerzhaft für Capriles Radonski dürfte die Tatsache sein, dass er in seinem eigenen Bundesstaat Miranda knapp unterlag. Auch in absoluten Zahlen hat der Chavismus mit 8,1 Millionen Stimmen gegenüber den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2006 (7,3 Millionen Stimmen) noch einmal deutlich zugelegt.
Sehr viel stärker hinzugewonnen hat allerdings die Opposition: Auf Capriles Radonski entfielen mit 6,5 Millionen Stimmen 44,13 Prozent, während sein Vorgänger Manuel Rosales im Jahr 2006 nur 4,3 Millionen Stimmen (damals 36,91 Prozent) erreicht hatte. Vier weitere Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt liegen mit 0,02 bis 0,47 Prozent weit abgeschlagen auf irrelevanten Positionen. Das Oppositionslager kann mit deutlich mehr als 2 Millionen Stimmen Zuwachs den größeren Anteil an der Wählermobilisierung für sich verbuchen, was sich in einem deutlich reduzierten Vorsprung von Hugo Chávez niederschlägt. Allerdings kann die Freude über den erfolgreichen zweiten Platz für die Opposition nicht ganz ungetrübt sein: In drei der fünf von ihnen regierten Bundesstaaten stimmte die Mehrheit für Chávez (Miranda, Carabobo, Nueva Esparta) und auch der Sieg für Capriles im Bundesstaat Mérida fiel mit 51 Prozent denkbar knapp aus. Einzig in Táchira (56 Prozent) erreichte der Herausforderer ein eindeutiges Ergebnis.
Der regionale Vergleich gibt jedoch auch der bolivarischen Bewegung keinen Anlass zu Triumphalismus. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 gewann Hugo Chávez noch alle Bundesstaaten und den Hauptstadtdistrikt – in 19 der 24 sogar mit mehr als 20 Prozentpunkten Vorsprung (Grafik 3). Diese Zahl hat sich nun auf zehn reduziert und in acht Staaten beträgt sein Vorsprung weniger als zehn Prozentpunkte (Grafik 1). Verglichen mit den weniger erfolgreichen Regionalwahlen im Jahr 2008 (Grafik 2) ist die politische Landkarte Venezuelas zwar wieder etwas röter geworden, legt man jedoch den Wahlgang 2006 zugrunde, so sind viele damals tiefrote Gegenden nun wesentlich rosafarbender.
Diese Entwicklung sollte vor allem ein ernst zu nehmendes Zeichen für die im Dezember 2012 bevorstehenden Regionalwahlen sein. Traditionell gelingt es der Person Hugo Chávez wesentlich mehr Wähler hinter sich zu vereinen, als den anderen Kandidatinnen und Kandidaten der PSUV, etwa bei Gouverneurs-, Bürgermeister- und Parlamentswahlen. Neben den fünf seit 2008 von der Opposition regierten Bundesstaaten ist ein Sieg der bolivarischen Bewegung auch in den Bundesstaaten Bolivar, Mérida, Lara, Anzoátegui und Amazonas keineswegs gesichert.
Bei einem Vergleich zwischen urbanen und ländlichen Räumen musste Hugo Chávez – ähnlich wie schon 2008 – teilweise sogar starke Verluste unter der städtischen Bevölkerung hinnehmen (Diagramm 2). So gewann er zwar die Staaten Zulia, Lara, Carabobo und Aragua, verlor aber in deren Hauptstädten Maracaibo, Barquisimeto, Valencia und Maracay. Im Bundesstaat Miranda, in dem auch ein Teil vom Großraum Caracas liegt, gewann er sehr knapp; der bevölkerungsreichste und von Armenvierteln geprägte Teil Mirandas (Sucre) ging jedoch an Capriles. Zwar siegte Chávez wieder im traditionell linken Hauptstadtdistrikt Libertador, dem größten Wahlbezirk Venezuelas. Rechnet man jedoch die Region Groß-Caracas zusammen, kann die Opposition hier weiterhin den Sieg für sich verbuchen.
Diese sozialgeografische Verteilung der Stimmen bildet vor allem die relativ starke soziale Polarisierung ab, da die Ober- und Mittelklasse zumeist in Städten lebt und Capriles hier deutlich mehr Unterstützung genießt. Allerdings wählen nach Angaben des regierungsnahen Meinungsforschungsinstituts GIS XXI[3] etwa ein Drittel aus den Einkommensgruppen A und B (Ober- und gehobene Mittelklasse) auch Hugo Chávez, was für den bolivarischen Prozess langfristig von großer Bedeutung ist, denn bereits jetzt zeichnet sich ein „Kannibalismus-Effekt“ ab: Die erfolgreiche Umverteilungspolitik nach unten erhöht die soziale Mobilität und ermöglicht einen massenhaften Aufstieg der unteren Einkommensgruppen D und E (Armut und extreme Armut) in die Mittelklasse (Einkommensgruppen B und C). Wenn der Chavismus hier keine starke Unterstützung genießt, macht er sich selber zu einem Übergangsphänomen, das nur solange andauert, bis einer kritischen Masse der Aufstieg in die bürgerlich dominierte Mittelklassen ermöglicht wurde.
Umfragen und Medienberichterstattung
Der deutliche Wahlsieg von Hugo Chávez kommt nicht überraschend. Alle etablierten Meinungsforschungsinstitute (Datanálisis, Hinterlaces, IVAD, GIS XXI) sagten dem Amtsinhaber seit dem Frühjahr einen Vorsprung von 10 bis 20 Prozentpunkten voraus[4]. Eine Besonderheit dieses Wahlkampfes bestand allerdings darin, dass sich zusätzlich zahlreiche Institute mit sich widersprechenden Ergebnissen zu Wort meldeten, so dass Beobachter bereits von einem „Krieg der Umfragen“ sprachen. Einzelne Umfragen ergaben einen Gleichstand oder sogar einen Vorsprung für Capriles Radonski, allerdings waren deren Ergebnisse offensichtlich unplausibel. Zumeist handelte es sich um unbekannte und unregelmäßig arbeitende Institute. So veröffentlichten bspw. Varianzas und Consultores 21 unbeeindruckt von politischen Konjunkturen über einen Zeitraum von zehn Monaten fast unveränderte Ergebnisse. Keller & Associates sowie Predicmática behaupteten monatelang entgegen jedem Trend einen Vorsprung für Capriles Radonski von 5 bis 12 Prozentpunkten. Wieder andere wollten ein Vorsprung für Chávez von weit über 30 Prozent festgestellt haben.
Die privaten Medien Venezuelas versuchten offensichtlich einen Bandwagon-Effekt herzustellen, indem sie in den letzten Wochen vor der Wahl (genau wie die internationale Presse) fast nur noch für Capriles günstige Ergebnisse zitierten und darauf setzten, dass sich Unentschlossene dem vermeintlichen Sieger anschließen würden. Auch wenn die mediale Berichterstattung sicher Effekte auf das Wählerverhalten hatte, blieb eines gleich: Der Meinungstenor der mehrheitlich privaten Medien und die Grundeinstellungen der Mehrheit der Bevölkerung weichen deutlich voneinander ab – ein Phänomen, das auch in Bolivien, Ecuador und teilweise in Argentinien festzustellen ist.
Bei dieser Wahl kam verstärkend hinzu, dass der Kandidat der Opposition selber aus einer Familie von Medieneigentümern kommt. Die Familie seiner Mutter besitzt Anteile an CIMEX, einer der großen Kinoketten Venezuelas. Die Familie seines Vaters kontrolliert mit Cadena Capriles eines der größten Medienunternehmen Venezuelas, das neben zahlreichen anderen Presseerzeugnissen auch die größte Tageszeitung des Landes (Últimas Noticias) herausgibt und Anteile am Radio-, Fernseh- und Onlinegeschäft besitzt. Gegründet wurde die Firma im Jahr 1958 von dem Exil-Kubaner Miguel Ángel Capriles, der beim Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 als Vertreter der privaten Medienunternehmen das Dekret über die Auflösung der verfassungsmäßigen Institutionen unterzeichnete[5].
Wie immer unterstützten die privaten Medien deutlich die Opposition, während die Minderheit der staatlichen und öffentlichen Medien genauso deutlich parteiisch für Chávez berichtete. Wie schon bei den vergangenen Abstimmungen setzten die privaten Medien allerdings weniger auf eine personalisierte Anti-Chávez-Berichterstattung (mit der die Opposition 2006 gescheitert war), sondern fokussierten stärker auf die politischen Schwächen des Prozesses. Trotzdem blieb auch die Berichterstattung über die Kandidaten deutlich polarisiert: Das Meinungsforschungsinstitut Hinterlaces erhob bspw. im Juli die zehn häufigsten Attribute für die Kandidaten in sechs landesweit erscheinenden Tageszeitungen. Sämtliche Ausstattungen für Capriles waren positiv (jung, für den Wechsel, gegen die Unsicherheit, Autobus des Fortschritts), während neun von zehn Attributen für Chávez deutlich negativ ausfielen (Lügner, Kandidat der Vergangenheit, Machtmissbrauch, autoritär).
Der Nationale Wahlrat (CNE) ermittelte wegen Verstößen gegen die Ordnung über Wahlwerbung sowohl gegen private als auch gegen staatliche Medien. Die betroffenen privaten Medien sind die größte Tageszeitung der Familie Capriles, Últimas Noticias, sowie der größte Fernsehsender des Landes, Televen. Ihnen warf der CNE vor, dem Kandidaten der Opposition übertrieben viel Platz einzuräumen. Gegen den staatlichen Kanal VTV besteht der Vorwurf, dass gesendete Wahlwerbung (vermutlich für Chávez) nicht in Rechnung gestellt wurde, die staatliche Zeitung Correo del Orinoco soll Bilder eines Kandidaten ohne dessen Autorisierung verwendet haben.
Die Kampagnen
Während Hugo Chávez und sein Team im Wahlkampf viel Zeit darauf verwendeten, die unbestreitbaren Erfolge von 14 Jahren bolivarischer Regierung hervorzuheben und mit einer relativ unpolitischen Imagekampagne stark auf die Mittelschichten orientierten, zeigte sich ein deutlicher Wandel in der Kampagnenführung der Opposition. Im Jahr 2006 war die Polarisierung zwischen Manuel Rosales und Hugo Chávez nicht nur programmatisch manifest, sondern prägte auch den Diskurs im Wahlkampf massiv. Während Chávez damals zum ersten Mal unmissverständlich für ein sozialistisches Projekt warb, warnte Rosales mit bekannten Stereotypen vor dem Kommunismus, den er über Venezuela hereinbrechen sah. Sechs Jahre später sah die Argumentation völlig anders aus. Der Diskurs von Capriles wirkte eher wie eine weichgespülte Version des amtierenden Präsidenten, der das Gute seines Vorgängers bewahren und verbessern wollte. Anstatt gegen den „Pöbel“ zu hetzen, begab sich Capriles ins Herz der chavistischen Hochburgen und versprach, die zahlreichen Sozialprogramme weiterzuführen. Die Worte „Fortschritt“ und „Versöhnung“ waren Markenzeichen einer Kampagne, die vor allem darauf abzielte, Unzufriedene aus dem chavistischen Wählerpotential abzuwerben, während die eigene Wählerbasis als sicher betrachtet wurde – eine Strategie, die sich insgesamt als erfolgreich erwies. Weniger erfolgreich scheint allerdings der Einigungsprozess im heterogenen Lager der Opposition verlaufen zu sein. Insbesondere von den sozialdemokratischen Parteien Acción Democrática und Un Nuevo Tiempo wurde Capriles nicht durchgehend unterstützt – ein Umstand, der auch seine überraschende Niederlage in oppositionell regierten Bundesstaaten bzw. den nur sehr knappen Vorsprung in Merída herbeigeführt haben dürfte.
Einen Keil in die Kampagne trieb zudem ein Dokument, dass vom Wahlkampfteam des Präsidenten veröffentlicht wurde. In dem Text, der angeblich von Capriles und den wesentlichen Kräften der Opposition verfasst wurde, werden die wirtschaftspolitischen Maßnahmen für 2013 im Falle eines Wahlsiegs umrissen. Dieses Programm spricht eine wesentlich deutlichere Sprache als das offizielle Wahlprogramm des MUD und steht in der Tradition der neoliberalen Anpassungsprogramme, die 1989 zum größten Volksaufstand der Geschichte Venezuelas geführt hatten (Caracazo). Auch wenn Capriles dementierte, dass es sich um ein Dokument aus seinem Lager handelte (andere Politiker aus dem Oppositionslager räumten ein, es zu kennen), dürfte der Text ein Stück weit dazu beigetragen haben, den Diskurs von Fortschritt und Versöhnung zu entzaubern.
Die jüngste Präsidentschaftswahl zeigt von daher eines sehr deutlich: In 14 Jahren in der Regierung hat es die bolivarische Bewegung geschafft, das eigene politische Projekt diskursiv mehrheitsfähig und im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie große Fortschritte zu machen. Capriles und die venezolanische Rechte sind gezwungen, ihren Diskurs stark nach links zu verschieben, um überhaupt eine Chance auf einen Wahlsieg zu haben. Im Jahr 2012 ist in Venezuela nicht mehr der „Castro-Kommunismus“ das Schreckgespenst, mit dem sich Wahlen gewinnen lassen, sondern der Neoliberalismus, der Venezuela in den 1980er und 1990er Jahren in eine tiefe gesellschaftliche Krise geführt hatte.
Einordnung in die politische Entwicklung
Hugo Chávez erhält durch den Wahlsieg eine Bestätigung für eine insgesamt erfolgreiche Politik, welche die bolivarische Bewegung zudem gegen den konstanten Widerstand der traditionellen Eliten und großer Teile des Staatsapparates durchsetzen muss. So war auch seine Wahlkampagne wesentlich darauf konzentriert, die Erfolge seiner Regierung seit 1998 hervorzuheben. Diese können sich durchaus sehen lassen: Die Armut insgesamt wurde halbiert, die extreme Armut sogar um 70 Prozent gesenkt. Der Analphabetismus wurde für besiegt erklärt und noch niemals haben so viele Menschen wie heute die Schule sowie Universitäten und andere Hochschulen besucht. International gehört Venezuela inzwischen zu den Ländern mit dem höchsten Anteil von Studierenden an der Gesamtbevölkerung. Für Millionen von Venezolanerinnen und Venezolanern, die vor Chávez weitgehend von medizinischer Versorgung ausgeschlossen waren, existiert heute ein flächendeckendes und kostenloses Gesundheitssystem. Hunderttausende auf besetztem Land errichtete Häuser erhielten Eigentumstitel, in unzähligen Stadtteilen wurden erstmals Anschlüsse an die netzgebunden Infrastrukturen und städtische Dienstleistungen geschaffen (Zuwasser, Abwasser, Telefon, Müllabfuhr etc.).
Hinzu kommt ein jährlich angehobener Mindestlohn, eine neue Arbeitsgesetzgesetzgebung und vieles andere mehr. Neben den zahllosen unmittelbar materiellen Verbesserungen basiert die Unterstützung des Präsidenten vor allem auf seiner symbolischer Anerkennung der bisher ausgegrenzten Bevölkerungsteile, die mit Chávez erstmals in der Geschichte des Landes einen Präsidenten haben, der sich nicht nur politisch sondern auch kulturell mit ihnen identifiziert. Gleichzeitig hat das Land einen rasanten Demokratisierungsprozessen durchgemacht, der sich in Wahlen, Referenden und neuen Formen kommunaler und betrieblicher Mitbestimmung ausdrückt.
Mit der PSUV hat die bolivarische Bewegung in den letzten Jahren eine landesweite politische Kraft aufgebaut, während die verschiedenen Parteien der Opposition bestenfalls regional eine relevante Rolle spielen. Alleine die fünf oppositionell regierten Bundesstaaten werden von fünf unterschiedlichen Parteien regiert. Hinzu kommt, dass die Regierung und die bolivarische Bewegung inzwischen ihre Positionen mit einem Netz aus staatlichen und alternativen Medien kommunizieren können. Zwar kontrollieren private Medien immer noch zwei Drittel der Radio- und Fernsehfrequenzen, die Presse ist fast ausschließlich in privatwirtschaftlicher Hand. Allerdings hat die Medienvielfalt, nicht zuletzt durch die schnelle und durch die Regierung unterstützte Ausbreitung selbstverwalteter, kommunitärer Medien deutlich zugenommen.
Trotz der sozialen und politischen Errungenschaften, welche die Chávez-Regierung nach 14 Jahren im Amt vorweisen kann, genießt die Regierung keinen Vertrauensvorschuss. Die relativen Verluste bei den Wahlen der vergangenen sechs Jahre deuten auch auf viel Unzufriedenheit an der Basis hin. In vielen Bereichen reagierte die Regierung erst, nachdem sich bereits manifeste Krisen in den entsprechenden Bereichen zeigten. Eine Modernisierung der landesweiten Infrastrukturen zur Elektrizitätsversorgung wurde etwa erst begonnen, als das Netz im Jahr 2009 zusammenbrach. Auch das aktuell begonnene Wohnungsbauprogramm und sowie Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung, wie Entwaffnungsprogramme und eine Reform des Strafvollzugs, wurden erst in Angriff genommen, nachdem die Kritik in der medialen Öffentlichkeit alle anderen politischen Themen von der Agenda zu verdrängen drohte.
Die größten Herausforderungen liegen jedoch in der Binnenstruktur des bolivarischen Prozesses. Die Versorgungslogik der Rentenökonomie führt an zahlreichen Stellen zu Korruption und Ineffizienz, so kamen etwa die Arbeiten an einem der Vorzeigeprojekte des Wohnungsbauprogramms, der Großsiedlung Ciudad Tiuna in Caracas, zum Erliegen, weil die Arbeiter monatelang nicht bezahlt wurden. In vielen Bereichen des Regierungshandelns setzt sich zudem stärker eine Versorgungslogik durch, die dem Prozess einen eher assistenzialistischen Charakter gibt, als auf die Aktivierung, die Beteiligung und den in der Verfassung festgeschriebenen Protagonismus der Bevölkerung zu setzen. Diese Probleme sind in den Regionen unterschiedlich stark ausgeprägt und führten in der Vergangenheit dazu, dass Gouverneure der PSUV bei den Regionalwahlen, wie etwa in Miranda, abgewählt wurden bzw. die Wahlergebnisse wie im Bundesstaat Bolívar äußerst knapp ausfallen.
Zusammenfassung und Aussichten
Mit dem aktuellen Wahlergebnis bestätigt sich noch einmal, dass die Zeit problemloser Siege vorbei ist. Zwar verfügt der Chavismus über eine große Stammwählerschaft, aber relevante Teile der Mittelklasse und auch der Unterschichten stimmen durchaus für die Opposition, wenn ihre Erwartungen an den Prozess enttäuscht werden.
Der Opposition gelingt es inzwischen, Probleme und Schwächen des bolivarischen Prozesses auf eine Art und Weise in den Vordergrund der öffentlichen Beschreibung zu setzen, die auch Wählerinnen und Wähler aus Chávez nahe stehenden Milieus überzeugt. Ob sie den gegenwärtig erfolgreichen Kurs der inneren Einigung und der diskursiven Fortschrittlichkeit gegen die Vielzahl von persönlichen Konkurrenzen und reaktionären Orientierungen durchhalten kann, wird sich in den nächsten Monaten entscheiden. Die Zukunft von Henrique Capriles Radonski wird auch von den bevorstehenden Regionalwahlen beeinflusst.
In den nächsten Jahren verfügt die bolivarische Bewegung mit diesem Wahlsieg über große legislative Entscheidungsspielräume, da sie sowohl den Präsidenten als auch (mindestens bis 2015) die einfache Mehrheit im Parlament stellt. Ob sie diese Erfolge bei den bevorstehenden Regionalwahlen halten bzw. sogar ausbauen kann, wird sich am 16. Dezember herausstellen. Da die PSUV die Kandidatinnen und Kandidaten unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl ernannte, anstatt sie wie bei den vergangenen Wahlen durch eine Urabstimmung der Mitglieder bestimmen zu lassen, sind in mehreren Bundesstaaten ernsthafte Zweifel angebracht, ob die Basis die ihnen vorgesetzten Kandidaten tatsächlich unterstützen wird.
Hier liegt eine der zentralen Herausforderungen des bolivarischen Prozesses: Aus der „zweiten Reihe“ muss sich in der nächsten Legislatur bis 2019 eine moralisch integre und politisch überzeugende Führungsgruppe entwickeln, die das bisher erfolgreiche Projekt nach einer Ablösung von Hugo Chávez weiterführt. Dies hat umso höhere Dringlichkeit, da der Gesundheitszustand des Präsidenten nach intensiven Krebstherapien im vergangenen Jahr keineswegs als unbedenklich gelten kann.
Mit dem Andauern des Transformationsprojektes ist die bolivarische Bewegung nicht nur durch einen Kannibalismus-Effekt bedroht, der nach einer modernen politischen Identität für die schnell wachsende Mittelschicht verlangt, in der die grundsätzlichen Werte – Verteilungsgerechtigkeit und demokratische Beteiligung – als Alternativen zum Kapitalismus erhalten bleiben. Zudem wird in den kommenden Jahren eine neue Generation mit eigenen Ansprüchen in die venezolanische Politik eintreten, welche die katastrophale politische Bilanz der alten Eliten in den 1980er und 1990er Jahren bestenfalls vom Hörensagen kennt und die bolivarischen Bewegung ausschließlich aus einer Binnenperspektive bewerten wird.
Bisher ist der bolivarische Prozess weit davon entfernt, einen modernen, selbst tragenden, alternativen Gesellschaftsentwurf präsentieren zu können. Einer alternativen wirtschaftlichen Binnenentwicklung stehen dabei auch weiterhin ungünstige wirtschaftliche Folgen der Rentenökonomie wie eine überbewertete Landeswährung und eine hohe Inflationsrate entgegen. Mindestens ebenso dringlich ist eine Reform des Staatsapparates, die ein funktionierendes Rechts- und Sicherheitssystem schafft, das nicht nur die Gewaltkriminalität eindämmt, über die sich vor allem die Mittel- und Oberschicht beklagt, sondern auch die Korruption zurückdrängt, von der Vertreter eben dieser Bevölkerungsteile bisher profitieren. Mit den bestehenden Strukturen und dem bisherigen Personal des Rechtssystems und der Sicherheitsapparate ist eine solche Demokratisierung und Verrechtlichung kaum zu erreichen.
Schließlich sind die bisherigen Erfahrungen mit der Ausweitung der direkten Demokratie auf kommunaler und betrieblicher Ebene nicht systematisch aufbereitet. Der Erwartung, dass Hugo Chávez seine voraussichtlich letzte Amtszeit nutzt, um die zentralen Reformprojekte aus dem Verfassungsvorschlag von 2007 noch einmal aufzugreifen, die einen radikalen Umbau der Wirtschaft und des Staates hin zu einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ermöglicht hätten, steht zumindest der Sachverhalt entgegen, dass die PSUV nicht über die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament verfügt. Ohnehin sind radikale Schritte alleine wegen der insgesamt knappen Mehrheitsverhältnisse und weiteren möglichen Verlusten bei den Regionalwahlen im Dezember kaum zu erwarten.
[1] Alle Zahlen zur Wahlbeteiligung und den Ergebnissen Consejo Nacional Electoral: www.cne.gob.ve/resultado_presidencial
_2012/r/1/reg_000000.html
[2] Angaben zur Bevölkerungsentwicklung Instituto Nacional de Estadística www.ine.gov.ve
[3] Ramirez, Lilido N. I. (2012): Votación Estratificada de la Población Venezolana para la Elección Presidencial 2012, Mundo Universitario, Vol X (1), S.71-76
[4] Übersicht über sämtliche Umfragen amerika21.de/wahlen-2012-venezuela
[5] Daniljuk, Malte (2012): Mediensystem im Transformationsprozess. Medien und Medienpolitik im Venezuela des 21. Jahrhunderts, in: Bruchmann et al. (2012): Medien und Demokratie in Lateinamerika, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Manuskripte 95, Karl Dietz Verlag, Berlin, S.74-99