Parteien gelten als wesentlicher Teil des politischen Systems und der politischen Kultur westlicher Gesellschaften und sind somit auch ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften. So gibt es eine Reihe makroanalytischer Studien zu ihrer Funktionsbestimmung (u. a. Stammer 1965; Lenk 1982; Wiesendahl 1998; Alemann 2000; Kreckel 2004). Andere untersuchen politische Parteien in Deutschland hinsichtlich ihrer jeweiligen historischen Entwicklung (aktuell z. B. Schmid/Zolleis 2005) und vergleichen sie hinsichtlich ihrer Mitgliederstruktur (z. B. Biehl 2006; Klein/Spier 2011a), ihrer Wahlkämpfe und ‑erfolge, ihrer programmatischen Ausrichtung sowie ihrer medialen Präsenz (z. B. Falter/Schoen 2005; Korte 2009). Jede dieser Studien betont die zentrale Bedeutung der Parteien für die bundesrepublikanische Demokratie. Dennoch wird in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf ihre Legitimationsprobleme verwiesen. In diesem Zusammenhang ist häufig von Politik(er)verdrossenheit und im gleichen Atemzug von Parteienverdrossenheit die Rede. Das schlechte Verhältnis von Ein- und Austritten sowie die Zunahme von Protest- und WechselwählerInnen scheinen einerseits eine abnehmende Bindungskraft der Parteien zu belegen. Andererseits erlebten die PIRATEN vor Kurzem eine ähnliche Welle von Neueintritten in relativ kurzer Zeit wie schon zuvor die LINKE vor einigen Jahren. Offen ist daher, ob sich die vermeintlich zunehmende Ablehnung innerhalb der Bevölkerung auf die Berufsgruppe der Politiker in der Parteiendemokratie schlechthin bezieht oder nur auf die gegenwärtig agierende politische Kohorte. Offen ist auch, ob es die politischen Institutionen sind, die generell infrage gestellt werden, oder vielmehr die aktuelle Performanz und Problemlösungskapazitäten der traditionellen Mitgliederparteien.
Zum Loyalitätsverlust gegenüber den Parteien gesellt sich noch das Problem der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Perspektive der Wahrnehmung der Parteien: Zumeist wird deren Politik top down, das heißt vor allem entlang der Aussagen des Führungspersonals zur Kenntnis genommen. Sie bestimmen damit ganz wesentlich das Außenbild der Parteien. Bereits die Mitglieder der erweiterten Parteivorstände spielen in der medialen Berichterstattung oftmals eine nur untergeordnete Rolle. Konflikte in Parteien werden häufig Personen oder identifizierbaren Flügeln beziehungsweise Strömungen zugeschrieben, weniger aber divergierenden Interessen auf unterschiedlichen Akteursebenen innerhalb der Parteien. So wird das komplexe Innenleben von Parteien auf den unteren Gliederungsebenen und an der Basis in den Medien kaum erfasst. Entgegen des medial vermittelten Bildes prägen jedoch nicht allein die Bundes- oder Landesgremien und deren ProtagonistInnen die Politik einer Partei, sondern auch die nachgelagerten regionalen und örtlichen Gliederungen und deren Mitglieder. Auf diesen Ebenen stellen sich andere politische Probleme, sind andere Handlungsressourcen vorhanden und bekommen programmatische Ziele der Partei als Gesamtorganisation einen anderen Stellenwert.
Diese Ebene der Parteibasis und ihrer politischen Praxen der alltäglichen Parteiarbeit bilden den Untersuchungsschwerpunkt des vorliegenden Forschungsberichts – in bewusster Abkehr vom gängigen Fokus auf die Parteiprominenz und -eliten oder die Parteiprogramme. Ziel ist es, einen spezifischen Ausschnitt des Parteilebens zu beleuchten, der häufig im Dunkeln bleibt. Präsentiert werden die Befunde der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegebenen Untersuchung, die in ihrer Analyseperspektive an die ebenfalls vom Institut Arbeit und Gesellschaft für die Rosa-Luxemburg-Stiftung durchgeführten Studie «Politische Praxen und Orientierungen in linksaffinen Alltagsmilieus» (Matuschek u. a. 2008; Kleemann u. a. 2009; Matuschek u. a. 2011) anknüpft. Während dort außerhalb von Parteien beziehungsweise an deren Rändern politisch und/oder sozial aktive Personen im Mittelpunkt standen, konzentriert sich die aktuelle Untersuchung auf aktive Parteimitglieder und auf die politische Praxis an der Basis der LINKEN.
Gegenstand der Untersuchung ist die Partei DIE LINKE als politischer Erfahrungs- und Handlungsraum und als Organisationsform für Menschen, die sich dezidiert links im politischen Spektrum verorten. Bei den untersuchten Einheiten handelt es sich zum einen um Basisorganisationen, Stadtteilgruppen, Orts-, Stadtsowie Kreisverbände, die in manchen ländlichen Gebieten Westdeutschlands mit drei Dutzend Mitgliedern und einer Handvoll Aktiver die kleinste, wirklich handlungsfähige Einheit der Partei darstellen. Neben den Gebietsgliederungen, die organisatorisch und personell das Rückgrat der Partei ausmachen, sind zum anderen auch lokal beziehungsweise regional verankerte Arbeitsgemeinschaften und Arbeitskreise erfasst. Im Zentrum der Untersuchung steht die gelebte Mitgliedschaft auf der kommunalen Ebene. Das Augenmerk liegt auf dem gemeinsamen alltagspolitischen Handeln aktiver Parteimitglieder, ihrem politischen Selbstverständnis und ihrer Motivation sowie auf der Art ihrer Zusammenarbeit und ihres sozialen Miteinanders. Zudem werden die lokale Verankerung der Gruppen und der darin Aktiven außerhalb der Partei, ihre Einbindung in die Partei und der Bezug zu den «höheren» Ebenen der Partei analysiert. Vorausgegangen sind diesen empirischen Feldstudien eigenständige Erhebungen auf der Ebene der Bundes- und Landesgeschäftsführungen der Partei DIE LINKE.
Der folgende Bericht ist wie folgt gegliedert: Im ersten Kapitel wird kurz das methodische Vorgehen dargestellt. Kapitel 2 skizziert – als Hintergrund für die nachfolgende Analyse der politischen Basisarbeit zentrale Entwicklungslinien der LINKEN und präsentiert Befunde zu den grundlegenden Arbeitsstrukturen der Partei aus der Sicht der Bundes- und Landesgeschäftsführungen sowie auf Grundlage der ergänzenden Dokumentenanalyse. In Kapitel 3 werden zur Veranschaulichung unterschiedlicher Konstellationen der konkreten politischen Praxis an der Basis der LINKEN Fallbeispiele präsentiert. Hierbei handelt es sich um von den Autoren des Berichts konstruierte Fälle, die in Anlehnung an die empirisch untersuchten Ortsgruppen synthetisiert wurden, aber nicht real existieren. In Kapitel 4 werden dann in verdichteter und abstrahierender Form die zentralen Befunde zu den politischen Praxen an der Basis der Partei präsentiert. Die Darstellung in Kapitel 4 umfasst auch die institutionellen Rahmenbedingungen der Parteiarbeit an der Basis, die Perspektiven der Mitglieder auf parteipolitische Aktivität und die Praxis der politischen Arbeit vor Ort. Im abschließenden Kapitel 5 werden die zentralen Ergebnisse der Studie noch einmal pointiert zusammengefasst und Schlussfolgerungen gezogen.
Die Untersuchung zeigt, dass die organisatorischen Rahmenbedingungen und die politischen Arbeitsstile und Praxen vor Ort ebenso variieren wie die Vorstellungen der Mitglieder davon, wozu ihre politische Arbeit dienen soll und warum sie aktiv sind. Deutlich wird auch, wie die Vielfalt politischer Denk- und Arbeitsweisen an der Basis der LINKEN von den politisch Aktiven produktiv be- und verarbeitet und in gemeinsames politisches Handeln überführt wird und welche Konstellationen für ein konstruktives gemeinsames Arbeiten vor Ort eher hinderlich sind. In der Gesamtschau wird außerdem sichtbar, dass das, was die Mitglieder der LINKEN trotz aller Unterschiede hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und politischen Sozialisation eint, ihre kapitalismuskritischen politischen Grundeinstellungen sind, die eine Art Klammer bilden und es ermöglichen, plurale linke Positionen in der Partei zu integrieren.
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