Publikation Deutsche / Europäische Geschichte Unrechtsstaat DDR?

Sichtweisen in europäischen Nachbarländern

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Reihe

Buch/ Broschur

Erschienen

Januar 2013

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Der Terminus „Unrechtsstaat“ ist unter Historikern und Juristen gleichermaßen umstritten. Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs gäbe es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften, urteilte der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages im März 2009. Dennoch wird in politischen Diskussionen oft das Gegensatzpaar „Rechtsstaat – Unrechtsstaat“ verwendet. Dabei geht es zumeist darum, die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturierten System abzugrenzen und moralisch zu diskreditieren. Insbesondere auf die DDR wird der Begriff „Unrechtsstaat“ immer wieder angewandt. Eine wissenschaftliche Begründung wird indes nicht geliefert.

Welche Sichten zu dieser Problematik dominieren außerhalb Deutschlands  in verschiedenen europäischen Nachbarländern? Diese Problematik diskutieren auch anhand persönlicher Erfahrungen namhafte Wissenschaftler aus Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien und Polen mit deutschen Kolleginnen und Kollegen am 14. Juni 2012 in Potsdam. Sie setzen damit eine 2009 begonnene Veranstaltungsreihe fort, in der die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg ihre Besucher mit Sichtweisen in europäischen Nachbarländern auf den vor mehr als 20 Jahren vollzogenen Weg in die deutsche Einheit konfrontieren möchte.

Referenten dieser Tagung waren Prof. Dr. Stefan Berger (Universität Bochum, zuvor University of Glamorgan bzw. Manchester), Prof. Dr Seppo Hentilä (Universität Helsinki), Prof. Jean Mortier (Universität Paris 8), Krzysztof Pilawski (Journalist, Warschau), Dr. Thomas Wegener Friis (Universität Odense), Dr. Holger Politt (RLS Berlin / Warschau) sowie Prof. Dr. Dörte Putensen (Universität Greifswald, stellv. Vorsitzende der RLS Brandenburg) und Prof. Dr. Mario Keßler (Zentrum für zeithistorische Forschung, Universität Potsdam, Mitglied des Kuratoriums der RLS Brandenburg).

Von dieser Tagung liegen jetzt die Beiträge von Stefan Berger, Seppo Hentilä, Mario Keßler, Jean Mortier und Krysztof Pilawski vor. Zusätzlich haben wir einen Beitrag des Völkerrechtlers Prof. Dr. Gerhard Stuby (Bremen) mit dem Titel „War die DDR ein „Unrechtsstaat“ und ist die Berliner Republik ein Friedensstaat?“ aufgenommen, in dem der Autor aus staatsrechtlicher und rechtshistorischer Sicht die „Unrechtsstaatsthese“ untersucht.

Die hier veröffentlichten Beiträge verdeutlichen die Schwierigkeiten die man in europäischen Nachbarländern mit dem zu Beginn der neunziger  vollzogenen Weg in die deutsche Einheit hatte. Klar war wohl den Teilnehmern an der Veranstaltung, dass die DDR kein parlamentarisch-demokratischer Staat gewesen ist. Sie hat sich selbst als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnet und hat oppositionelle politische Strukturen erst im Herbst 1989 unfreiwillig zugelassen. In der DDR waren die Rechte aus der Verfassung nicht einklagbar, es hat ein Ungleichgewicht sozialer und politischer Rechte gegeben, und das Strafrecht ist nicht selten politisch instrumentalisiert worden.  Aber: diese vermeintlichen Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit gelten auch in einigen nachweislich demokratischen Staaten nicht. So gibt es in Großbritannien keine klare Gewaltenteilung, in der Schweiz nur eine begrenzte Verfassungsgerichtsbarkeit und in den USA – wie übrigens auch in der DDR – keine Verwaltungsgerichte, an denen sich die Bürger gegen Anordnungen staatlicher Stellen wehren können. Sind diese Länder nun „Unrechtsstaaten“?

Das Rechtssystem eines Landes besteht zweifellos aus mehreren Elementen. Neben dem Strafrecht, dem Verwaltungsrecht, dem Verfassungsrecht existieren auch Arbeitsrecht, Familienrecht und Zivilrecht, die für eine Bewertung ebenso relevant sind

In den Vorträgen stellten die Redner  ihre Sichtweise sowie ihre persönlichen Erfahrungen im Umgang mit DDR-Wissenschaftlern aber auch mit den Behörden vor. Einigkeit herrschte unter den Beteiligten, dass der Begriff „Unrechtsstaat“ ein politischer Kampfbegriff sei, der sich für eine wissenschaftliche Analyse grundsätzlich nicht eignen würde. Der „sehr deutsche Begriff“ fände auch bisher keinen Eingang in die Sprachen der Teilnehmer und ließe sich nur sehr umständlich übersetzen.

Dennoch zog man eine kritische Bilanz zum Rechtssystem in der DDR. Durchaus modern ausgestatteten Rechtsgebieten wie dem Arbeitsrecht, dem Zivilrecht oder dem Familienrecht stünden das Fehlen eines Verwaltungsrechts, der Mangel an Überprüfbarkeit staatlicher Entscheidungen mit Verfassungsrang sowie das nicht selten politisch motivierte Strafrecht gegenüber. Bärbel Bohleys bitteres Wort aus den frühen neunziger Jahren „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen“ verdeutlichte, dass sich eine „Schwarz-Weis-Sicht“ auf staatliche Rechtssysteme ausschließt.