Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Geschlechterverhältnisse - Gesundheit und Pflege - Feminismus Um-Care

Gesundheit und Pflege neu organisieren. Zweite, überarbeitete Auflage.

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August 2017

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«Mehr von uns ist besser für alle» schrieben die streikenden Pflegekräfte am Berliner Universitätsklinikum Charité 2015 auf ihre Transparente. Sie brachten damit eine neue Qualität der Proteste im Gesundheitswesen auf den Punkt. Inzwischen fordern Pflegekräfte nicht nur an der Charité, sondern bundesweit mehr Personal in Krankenhäusern. In ihren Arbeitskämpfen geht es nicht mehr «nur» um bessere Löhne, sondern um ein Ende von Stress und Kostendruck. Ihr Kampf zielt auf eine gute öffentliche Gesundheitsversorgung, die allen zugutekommt. Damit sind sie nicht allein: In vielen deutschen Städten legen sich Pflegekräfte bei Flashmob-Aktionen gemeinsam demonstrativ auf die Straße aus Wut darüber, dass die «Pflege am Boden» liegt. In unzähligen, oft wenig bekannten Initiativen unterstützen und vernetzen sich Menschen mit Pflege- oder Assistenzbedarf oder pflegende Angehörige. Sie wollen raus aus der Vereinzelung und ringen um Teilhabe und Anerkennung. Hinzu kommen Initiativen, die nach konkreten Alternativen im Hier und Jetzt suchen: die «Medibüros», die seit Jahrzehnten die Lücken in der öffentlichen Versorgung geflüchteter Menschen füllen, ebenso wie die neu gegründeten Gesundheitskollektive und Poliklinik-Projekte, die alternative Angebote der ambulanten Versorgung entwickeln.

In all diesen Auseinandersetzungen geht es um die Folgen einer zunehmenden Ökonomisierung und Sparpolitik. Viele erleben den Alltag als ein ständiges Rennen im Hamsterrad, das keinen Raum lässt für die Sorge für sich und andere. Sie fordern eine Gesellschaft, die die Sorge ins Zentrum stellt und allen Menschen die Unterstützung zukommen lässt, die sie benötigen. Das erfordert einen radikalen Perspektivwechsel, eine «UmCare».

Denn die Breite des Protests zeigt auch das Ausmaß der Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge, die viele Menschen Tag für Tag vor unlösbare Widersprüche stellt: Pflegekräfte können ihren eigenen Ansprüchen an ihre Arbeit immer weniger gerecht werden. Gesundheitliche Risiken werden zunehmend den Einzelnen aufgebürdet. Armut, Ausgrenzung und Stress erleben auch pflegende Angehörige und FreundInnen – für ihre Sorgearbeit gibt es kaum Anerkennung und Absicherung. So verstärkt die Care-Arbeitsteilung die vorhandenen sozialen Ungleichheiten. Nach wie vor sind es überwiegend Frauen, die unter prekären Bedingungen Sorgearbeit verrichten, einen großen Teil davon gänzlich unbezahlt. Im reichen Norden wird Care-Arbeit zunehmend zu schlechten Bedingungen an MigrantInnen delegiert und damit die Ungerechtigkeit globaler Arbeitsteilung vertieft.

All diese Krisenerscheinungen im Gesundheitswesen verdeutlichen die Absurdität unserer Wachstumsökonomie. Wenn es um menschliches Leiden geht, um Pflege und Sorgearbeit, ist vielen unverständlich, warum so elementare gesellschaftliche Arbeiten in privaten Unternehmen nach Profitkriterien organisiert werden sollten. Solche Widerspruchserfahrungen werden mehr und mehr zum Ausgangspunkt von Protest und der Suche nach Alternativen. Das Gegenbild ist eine sorgende Gesellschaft, die die Bedürfnisse der Menschen, ihre gegenseitige Angewiesenheit zum Maßstab nimmt und Care-Arbeit radikal aufwertet.

Hier liegt ein politisches Potenzial, das weit über den Gesundheitsbereich hinausgeht: Eine wirklich bedürfnisgerechte und solidarisch finanzierte Infrastruktur erfordert auch die Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen und eine Demokratisierung des Öffentlichen. Eine solche Politik ist auch «Klassenpolitik», denn es sind insbesondere arme und gering verdienende Menschen, die von entgeltfreien sozialen Infrastrukturen profitieren (würden) und die am stärksten unter der Sparpolitik und Ökonomisierung leiden. Und nicht zuletzt ist die Aufwertung von Pflege und Gesundheitsarbeit ein feministischer Kampf: gegen die Unsichtbarkeit und Ausbeutung von weiblicher Arbeit, für die gerechte Verteilung von Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern.

Die Krise in Gesundheit und Pflege von links aufzugreifen scheint gebotener denn je: Sie zeigt die Schattenseiten und Risse, die Spaltungen und den Druck, den das scheinbar krisenfeste «Exportmodell» Deutschland im Inneren produziert. Auch hier im neoliberalen Vorzeigestaat kriegen alltäglich Millionen Menschen «die Krise», zerrieben zwischen Sorgeverpflichtungen und zunehmend prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen. Dieses Unbehagen gilt es ernst zu nehmen und Alternativen zur herrschenden Politik aufzuzeigen. Dass diese Bewegungen effektiv Kräfteverhältnisse verschieben und solidarische Bündnisse schließen, ist jedoch nicht ausgemacht und passiert keinesfalls von selbst. Die Akteure brauchen aktive und solidarische Unterstützung. Die unterschiedlichen Interessen müssen praktisch verbunden werden, Kritik und Konfliktfähigkeit muss gemeinsam entwickelt werden. Hier liegt eine zentrale Aufgabe für die gesellschaftliche Linke.

In diesem Sinne werfen die Beiträge in der vorliegenden zweiten Auflage des Materialienbands «UmCare» einen Blick auf Auseinandersetzungen um Pflege und Gesundheit. Sie sind zum Teil aus den Diskussionen rund um die Konferenz «UmCare» hervorgegangen, die vom 16. bis 18. Oktober 2015 in Berlin stattfand und auf der rund 300 TeilnehmerInnen – Pflegekräfte, ÄrztInnen, pflegende Angehörige, Menschen mit Assistenz und Pflegebedarf, VertreterInnen von Gewerkschaften und Sozialverbänden sowie Aktive aus sozialen Bewegungen – zusammenkamen.

Wie die Konferenz suchen auch die Texte nach strategischen Interventionspunkten und Potenzialen für eine andere Gesundheits- und Pflegepolitik. Sie arbeiten neue Ansätze der Organisierung heraus – Organisierung in einem doppelten Sinne: im Sinne einer Interessenvertretung derjenigen, die Pflege- und Gesundheitsarbeit leisten oder in verschiedener Weise auf sie angewiesen sind, und Organisierung im Sinne einer gesellschaftlichen Neuorganisation der Daseinsvorsorge, des Aufbaus und Ausbaus einer bedürfnisgerechten Infrastruktur.

Andreas Aust, Olaf Klenke, Katrin Mohr und Sabine Zimmermann zeigen in ihrem Beitrag, warum das Ringen um eine öffentliche Daseinsvorsorge im Sinne einer «Sozialen Infrastruktur » ein Kernstück linker Sozialpolitik ist: Es erfordert eine Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum, sichert soziale Grundbedürfnisse politisch ab und eröffnet neue Möglichkeiten einer demokratischen Gestaltung des Öffentlichen.

Julia Dück und Barbara Fried arbeiten das strategische Potenzial heraus, dass die aktuellen Auseinandersetzungen um Pflege und Gesundheit für eine feministische Klassenpolitik bieten können. In Kämpfen um soziale Reproduktion sehen sie eine Chance zur Erneuerung linker Organisierungsstrategien: indem die (unbezahlte) Sorgearbeit und der Alltag als Terrain gesellschaftlicher Veränderung endlich ernst genommen werden.

Aus einem anderen Blickwinkel untersucht Luigi Wolf den Arbeitskampf der Beschäftigten an der Berliner Charité, dem größten Universitätskrankenhaus Europas. Die hochgradig ökonomisierte Krankenpflege bietet seiner Ansicht nach neue Möglichkeiten für die Interessenvertretung, die dazu beitragen können, Care-Arbeit insgesamt aufzuwerten.

Sarah Schilliger beschäftigt sich mit einem Feld, das in Gewerkschaften häufig randständig bleibt, aber zentral ist für die globale Care-Arbeitsteilung: die prekäre Pflegearbeit von MigrantInnen in Privathaushalten. Sie schildert die Selbstorganisierung von polnischen Pflegekräften in der 24-h-Pflege in der Schweiz und deren Unterstützung durch die schweizerische Dienstleistungsgewerkschaft VPOD.

Schließlich beleuchten Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert auf Basis einer Studie zu alternativen Gesundheitszentren in Europa, inwiefern diese Projekte Ansatzpunkte für eine gesamtgesellschaftliche Transformation bieten. Sie zeigen, wie radikale soziale Gesundheitsarbeit aussehen kann, die PatientInnen als politische Subjekte begreift und die sozialen Determinanten von Gesundheit mit einbezieht.

Berlin, Juli 2017 Barbara Fried und Hannah Schurian
 

Beiträge:
  • Andreas Aust, Olaf Klenke, Katrin Mohr und Sabine Zimmermann:
    Gute soziale Dienstleistungen und Infrastruktur für eine bessere Gesellschaft
  •  Julia Dück und Barbara Fried:
    «Caring for Strategy». Transformation aus Kämpfen um soziale Reproduktion entwickeln
  • Luigi Wolf:
    «Mehr von uns ist besser für alle!». Die Streiks an der Berliner Charité und ihre Bedeutung für die Aufwertung von Care-Arbeit
  •  Sarah Schilliger:
    «Wir sind doch keine Sklavinnen!». (Selbst-)Organisierung von polnischen Care-Arbeiterinnen in der Schweiz
  • Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert:
    «Futuring Health Care». Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation

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