Die Monate nach der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers Ende 2008, zu verstehen als Kulminationspunkt der Krise auf den globalen Finanzmärkten, stellten in vielerlei Hinsicht ökonomisches wie gesellschaftliches Neuland dar. Sie hatten eine Wiederbelebung breiter linker Proteste in Deutschland zur Folge. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Krisen auf den Finanzmärkten zu verzeichnen waren, galt diese Krise als eine Art Zäsur. Nicht nur das Schnüren eines milliardenschweren Rettungspakets der deutschen Bundesregierung hat der Kritik an der jahrelangen »Sparzwanglogik« in Deutschland und weltweit neuen Aufwind gegeben. Das temporäre Schwanken des gesamten kapitalistischen Systems schien in diesen Monaten eine andere, gerechtere Welt ein Stück weit möglicher gemacht zu haben. Viele linke Aktivist_innen wurden von einer enthusiastischen Stimmung und der Hoffnung ergriffen, dass sich nun wirklich etwas ändert und die Proteste weitreichende gesellschaftliche Veränderungen bewirken könnten. Es wurden Parallelen zu anderen Weltwirtschaftskrisen gezogen, Ratschläge und Kongresse einberufen sowie Krisen-Demonstrationen initiiert. Diese verfolgten das Ziel, eine gesellschaftliche Gegen-Macht zu mobilisieren und hinsichtlich der in der Öffentlichkeit dominierenden neo liberalen oder neokonservativen Krisenanalysen und -lösungsansätze, kapitalismuskritische Ansätze zu diskutieren und hegemonial zu machen. Um diese Erfahrungen und die darin implizierten Möglichkeitsräume soll es in dieser Arbeit gehen.
(Aus der Einleitung)
Inhalt
1. Einleitung
Erkenntnisinteresse und Vorgehen
Erkenntnistheoretischer Zugang:
Die Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe
Erkenntnisprozess und Wissenschaftsverständnis:
Keine Erkenntnis ohne Interesse
Aufbau der Arbeit
2. Krisenproteste 2009/2010 und ihr gesellschaftspolitischer Kontext
2.1. Was sind »linke Krisenproteste«?
2.2. Forschungsstand
2.3. System(e) in der Krise – der gesellschaftspolitische Kontext der Krisenproteste
3. Wissenschaftliche Zugänge zu sozialen Bewegungen
3.1. Strukturzentrierte Zugänge zu sozialen Bewegungen
3.2. Framing – oder: Wieso bewegen sich die bewegten Menschen?
Der Framing-Ansatz aus diskurs- und hegemonietheoretischer Perspektive
Resümee
4. Hegemonie – Diskurs – Gegen-Hegemonie
4.1. Hegemonie. Gramsci
Grundprämissen des Hegemonieansatzes: Zivilgesellschaft als das Tor zur Gesellschaft (und ihrer Beherrschung)
Grenzen des Hegemonieansatzes
Notiz: Gramsci und der Poststrukturalismus
4.2. Hegemonie - Diskurs. Laclau und Mouffe
Theoretische Einordnung
Anti-Essenzialismus und Post-Fundationalismus:
Alles ist aufgelöst
Diskurs als artikulatorische Praxis
Wie kommt die Hegemonie in den Diskurs?
Subjekte in der Hegemonietheorie
Grenzen der Hegemonietheorie
4.3. Hegemonie – Diskurs – Gegen-Hegemonie
Gegen-Hegemonie als Strategie
Gegen-hegemoniale Perspektiven als Infragestellung,
Umdeutung herrschender und Produktion alternativer
Wahrheitshorizonte
4.4. Prämissen für eine kritische, diskurs- und hegemonietheoretisch inspirierte Bewegungsforschung
5. Forschungsaufbau und Forschungspraxis
5.1. Erkenntnisleitende Forschungsfragen
5.2. Auswahl des empirischen Materials
5.3. Forschung als Prozess. Zum Analysedesign
5.4. Forschungsrealitäten: Engagierte Wissenschaft und Besonderheiten bei der Erforschung von politischem Protest
6. Krisenproteste in Deutschland 2009/2010: Eine dichte Beschreibung von linken Interventionen
6.1. »Die K-Frage stellen!« – Antikapitalistischer Ratschlag der Interventionistischen Linken (IL)
Krisenanalysen
Die Linke in der Krise
Handlungsstrategien und Forderungen
Die Linke und die Linkspartei
Resümee: Der Antikapitalistische Ratschlag als gleichermaßen antikapitalistisch wie Ratschlag
6.2. »Kapitalismus am Ende?« – Attac-Kapitalismuskongress
Typen von Krisenanalysen und Forderungen
Heterogenität und Homogenität der Kämpfe
Resümee
6.3. »Wir zahlen nicht für eure Krise« –
Erste bundesweite Krisendemonstration
Gesellschaftsdiagnose und Krisenanalyse
Forderungen
Die Linke in Aktion – Handlungsstrategien
Die Linke im Spannungsfeld zwischen Bewegung und institutionalisierter Politik
Macht- und Herrschaftsverhältnisse
Vom »Knüppel der Privatisierung« und »Second-Hand-Dealern des Neoliberalismus«: Begrifflichkeiten und Denkfiguren
Resümee
6.4. »Die Krise hat einen Namen: Kapitalismus. Eine andere Welt ist möglich« – Drittes Deutsches Sozialforum
Gesellschaftsdiagnose und Krisenanalyse
Wachstumskritik vs. Wachstumsorientierung
Perspektiventwicklung: Abschied von großen Utopien
und gesamtgesellschaftlichen Projekten?!
Handlungsstrategien
Mobilisierung und gesellschaftliche Wirkmächtigkeit der Linken
Sensibilität für Macht- und Herrschaftsverhältnisse
Resümee
6.5. »Die Krise heißt Kapitalismus« – Zweite bundesweite Krisendemonstration
Staatliche Krisenbewältigungsstrategien in der Kritik
Forderungen und Projekte
Umgang mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen
Resümee
7. Argumentationslinien, Diskursräume und Spannungslinien
7.1. Argumentationslinien und eröffnete Diskursräume
Krisenanalysen und Forderungen
Handlungsstrategien und -räume
Umgang mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen und gesellschaftlichen Widersprüchen
Hegemonieprojekte und Verbindung von Kämpfen
7.2. Spannungsfelder
Spannungsfeld I: »Kapitalozentrismus«.
Spannungsfeld II: Divide et impera – Teile und herrsche!
Spannungsfeld III: Sphären gesellschaftlicher Veränderung und Politikverständnis
Spannungsfeld IV: Hierarchisierende Dichotomisierung, Externalisierung und Vereindeutigung von Identitäten
Spannungsfeld V: Heterogenität – Homogenität und die Frage nach dem Charakter der Verbindung der Kämpfe
8. Gegen-hegemoniale Perspektiven – eine theoretisch-politische Betrachtung
8.1. Spannungsfeld I: Dekonstruktion des kapitalozentristischen Diskurses
Darstellung der Problematik: das »Biest« des Kapitalismus
Raus aus dem Kapitalismus(-diskurs)!
8.2. Spannungsfeld II: Verbinde und werde hegemonial
Trennung als Herrschaftsmechanismus
»Das Bewusstsein für das große Ganze ...«
8.3. Spannungsfeld III: Politik und das Politische – Konzeptionen und Praxen
Organisierung, Institutionalisierung und Repräsentation – Zum Verhältnis institutionalisierter Politik und sozialer Bewegung
Revolution im Alltag – Revolution ist Alltag
8.4. Spannungsfeld IV: Verstrickungen und Entstrickungen aus gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen
Der Habitus als strukturierende Struktur
Politisierung von Paradoxie und Ambiguität, Offenhaltung von Identitäten und strategischer Essenzialismus
8.5. Spannungsfeld V: Der leere Signifikant als ein modernes Relikt?!
Hegemonie (wirklich) poststrukturalistisch denken.
9. Fazit und Ausblick
9.1. Argumentationslinien und Diskursräume
9.2. Gegen-Hegemonie ist ... – gegen-hegemoniale Perspektiven
Gegen-Hegemonie ist nicht nur Antikapitalismus!
Gegen-Hegemonie ist Verbinden!
Gegen-Hegemonie ist institutionalisierte Politik, Bewegung und Alltagspraxis!
Gegen-Hegemonie ist widersprüchlich!
Gegen-Hegemonie ist vielfältig!
9.3. Grenzen der Arbeit
9.4. Ausblick
Literatur
Die gesamte Publikation im PDF.
Judith Vey ist promovierte Soziologin, freie Wissenschafts- und Bildungsarbeiterin, Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule für Soziale Arbeit in Berlin, Gastwissenschaftlerin am »Zentrum Technik und Gesellschaft « der Technischen Universität Berlin und aktiv in der Initiative für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin. Sie ist Mitbegründerin des selbstverwalteten Hausprojekts M29 in Berlin.
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Judith Vey
Gegen-hegemoniale Perspektiven
Analyse linker Krisenproteste in Deutschland 2009/2010
272 Seiten | September 2015 | EUR 19.80
ISBN 978-3-89965-626-8