Brief an Adolf Warski

Berlin, Rosa Luxemburg Ende November/Anfang Dezember 1918

Wenn unsere Partei (in Polen) voll Enthusiasmus für den Bolschewismus ist und zugleich (in einer geheim gedruckten Broschüre) gegen den Brester Frieden der Bolschewiki und gegen ihre Agitation mit der Losung der «Selbstbestimmung der Völker» aufgetreten ist, dann ist es Enthusiasmus, gepaart mit kritischem Sinn — was können wir uns mehr wünschen! Alle Deine Vorbehalte und Bedenken habe ich auch geteilt, habe sie aber in den wichtigsten Fragen fallen lassen, und in manchen bin ich nicht so weit gegangen wie Du. Terrorismus beweist große Schwäche, gewiß, aber er richtet sich gegen innere Feinde, die ihre Hoffnungen auf das Bestehen des Kapitalismus außerhalb Rußlands bauen, von ihm Unterstützung und Ermunterung bekommen. Kommt die europäische Revolution, so verlieren die russischen Konterrevolutionäre nicht nur die Unterstützung, sondern — was wichtiger ist — auch den Mut. Also ist der bolschewistische Terror vor allem ein Ausdruck der Schwäche des europäischen Proletariats. Gewiß, die geschaffenen Agrarverhältnisse sind der gefährlichste, wundeste Punkt der russischen Revolution. Aber auch hier gilt die Wahrheit — auch die größte Revolution kann nur das vollbringen, was durch die Entwicklung reif geworden ist. Dieser wunde Punkt kann auch nur durch die europäische Revolution geheilt werden. Und diese kommt!


Der im Original in polnischer Sprache verfasste Brief wurde zuerst wiedergegeben in Adolf Warski: Rosa Luxemburgs Stellung zu den taktischen Problemen der Revolution, Hamburg 1922.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 6., Berlin, S. 211.