Brief an Clara Zetkin

Berlin, 25. Dezember 1918

Liebste Klara,

     heute sitze ich zum ersten Mal seit Breslau an meinem Schreibtisch und will Dir einen Weihnachtsgruß senden. Wieviel lieber wäre ich zu Dir gefahren! Aber davon kann keine Rede sein, da ich an die Redaktion [der «Roten Fahne»] angekettet bin und jeden Tag dort bis Mitternacht in der Druckerei bin, um auch den Umbruch zu beaufsichtigen, außerdem treffen bei diesen aufgeregten Zeiten erst um 10 und 11 Uhr nachts die dringendsten Nachrichten und Weisungen ein, auf die sofort reagiert werden muß. Dazu fast jeden Tag vom frühen Morgen Konferenzen und Besprechungen, dazwischen noch Versammlungen, und zur Abwechslung alle paar Tage die dringende Warnung von «amtlichen Stellen», daß Karl [Liebknecht] und mir von Mordbuben aufgelauert wird, so daß wir nicht zu Hause schlafen sollen, sondern jede Nacht anderswo Obdach suchen müssen, bis mir die Sache zu dumm wird und ich einfach wieder nach Südende zurückkehre. So lebe ich im Trubel und in der Hatz seit dem ersten Augenblick und komme nicht zur Besinnung. Ich habe dabei nur eine kleine Aussicht: Bald erwarten wir den Julek (Marchlewski), dann könnte ich vielleicht für eine kurze Zeit ausspannen und zu Dir fahren. Es kommt nur darauf an, wann es ihm gelingt, über die Grenze zu kommen.1

     Hier spitzen sich die Verhältnisse zu, sowohl außen — zu Ebert-Leuten — wie innen, in der USP. Du erhältst wohl die «Rote Fahne» jetzt regelmäßig und siehst, daß wir nicht aufhören, nach einem Parteitag zu schreien. Gestern erfolgte darauf die förmliche Absage. Die Partei ist in voller Auflösung — Strobel, Haase, Bock (!), die »Freiheit« fordern offen eine «Abgrenzung nach links», d.h. gegen uns. Andererseits ist die Verschmelzung zwischen USP und den Scheidemännern in der Provinz in vollem Gange. Die Zietz hält sich jetzt höchst zweideutig: Sie war es, die die «Reichskonferenz» an Stelle des Parteitags ausgeheckt hat und den Parteitag hintertrieben hat.

     Dienstag! Nun kam gestern natürlich wieder eine »revolutionäre Störung«. Es gab eine großartige Demonstration am Schloß, dann begab sich spontan ein Teil der Demonstranten zum »Vorwärts« und besetzte ihn! Man fand darin 18 Maschinengewehre und ein Panzerauto versteckt! Ich wurde dann schnell zu einer Sitzung gerufen und kam erst ½ 12 nach Hause. Heute muß ich sofort wieder nach der Stadt. So geht es alle Tage. Also bleibt es wenigstens bei diesem eiligen Gruß.

     Tausend Grüße!
     Deine


1 Julian Marchlewski, der sich in Moskau aufhielt konnte erst nach Oberwindung großer Schwierigkeiten am 18. Januar 1919 nach Berlin zurückkehren.


Zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 5., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 422-423.