Brief an Clara Zetkin
Berlin, Rosa Luxemburg am 29. November 1918
Liebste,
ich komme um, nicht nur vor Arbeit und Trubel, sondern auch vor Kummer um die »Rote Fahne«, in der noch so vieles fehlt und noch so vieles schlecht ist. Thalheimer hilft uns mit rührendem Eifer, ist aber redaktionell noch etwas unerfahren, und der gute Rück ist noch sehr jung. Seine neuliche Notiz von «Juvenis»1, die natürlich ohne mein Wissen reingeschlüpft ist, mit der hanebüchenen «Polemik» gegen die Unabhängigen hat mir beinahe den Schlag gebracht. Ich habe Vorsorge getroffen, daß dergleichen nicht mehr passiert.
Im allgemeinen hören wir nur eine Stimme von allen Seiten und namentlich von den Unabhängigen: Die »Rote Fahne« sei das einzige sozialistische Blatt in Berlin. Über die «Freiheit» sind alle ihre Leute enttäuscht bis zum äußersten. Neulich war sowohl in der Sitzung des Zentralvorstandes Großberlins wie in der Preßkommission der «Freiheit» eine allgemeine scharfe Kritik über die «Freiheit», der man die «Rote Fahne» als Muster entgegenstellte, zum Ausdruck gekommen. Nur Haase und Hilferding (der Chef) verteidigten sie schwach. Däumig, Eichhorn usw. behaupten, ganz auf unserem Boden zu stehen, ebenso Ledebour, Zietz, Kurt Rosenfeld und — die Massen! Diese Linke billigt nicht nur unsere Kritik, sondern macht uns zum Teil Vorwürfe, daß wir an ihnen, den Unabhängigen, zu wenig Kritik üben. Ihre Sehnsucht geht offenbar dahin, so rasch als möglich aus der fatalen Verkoppelung mit den Scheidemännern sich zu befreien und mit uns zusammenzugehen. Wir fordern deshalb den Parteitag.
Jetzt zu unserer «Fahne». Es ist beschlossen, eine Wochenbeilage von einem halben Bogen als Frauenzeitung zu machen. Du sollst sie machen. Disponiere darüber, wie Du für richtig hältst. Wir denken uns die Beilage nicht theoretisch — etwa im Stile der Beilage der «Leipziger Volkszeitung» sondern populär agitatorisch, ungefähr in dem Zuschnitt wie die «Rote Fahne» im ganzen. Material dazu mußt Du Dir natürlich aus der Presse selbst schaffen. Wir möchten Dich bitten, stets etwa einen Leiter in dieser Beilage zu bringen, so von einer bis eineinhalb Spalten, dann allerlei Rubriken und Nachrichten aus dem Ausland, Inland, bürgerliche Frauenbewegung, Wirtschaftliches etc. Wen Du an Mitarbeitern für nötig hältst, zieh selbst heran, aber aus Leuten, die auch offiziell auf unserem Boden stehen (z. B. Zietz und M. Wurm nicht, denn das würde jetzt zur Verwirrung führen). Wir sind in den besten Beziehungen mit jenen persönlich, wollen aber abwarten, bis sie auch offen zu uns kommen, was ja nicht zu vermeiden ist. Es käme da, fürchte ich, nur die Käte D[uncker], Regina Ruben und — ich weiß nicht mehr — in Betracht. Die Hauptarbeit fiele natürlich auf Dich selbst, übrigens disponierst Du ja selbst und wirst schon sehen, wie es zu machen ist. (Pekuniär ist die Gruppe in der Lage, alle nötigen Kosten zu tragen und auch Dir, wie uns allen, ein Gehalt zu zahlen.) Noch ein Haken! Alle diese Pläne hängen vom Papier ab, um das hier täglich gerungen werden muß. Jedenfalls ist es nur eine Frage von Wochen, vielleicht von Tagen, wann wir sechsseitig erscheinen und wöchentlich die Frauenbeilage bringen können. Vor allem antworte sofort, ob Du mit dem Plan einverstanden bist und wie Du die Sache zu machen gedenkst, d. h., ob wir Dir irgend etwas zur Hilfe vorbereiten können.
Dein Vorschlag betr. Flugblätter ist allgemein akzeptiert, das erste sollst Du so bald als möglich schreiben. Nur Bedingung: kurz! Wir kriegen nämlich kein Papier für doppelte Flugblätter, rechne also nur mit zwei Seiten. Wir warten auf das Manuskript. Es soll ein allgemeines Flugblatt über Arbeiterinnen und Revolution sein.
Wir wollen außerdem in der «Roten Fahne» täglich eine kleine Rubrik «Aus der Frauenbewegung» von etwa 1/3 bis 1/2 Spalte einführen, die hauptsächlich kleine laufende Nachrichten bringt, manchmal eine Notiz etc. Käte Du[ncker] soll diese Rubrik machen. Allerdings erst dann, wenn wir sechsseitig erscheinen.
Wenn Du wüßtest, wieviel ich Dir zu sagen hätte und wie ich hier lebe — wie im Hexenkessel! Gestern nacht um 12 Uhr bin ich zum ersten Mal in meine Wohnung gekommen, und zwar nur deshalb, weil wir beide — Karl [Liebknecht] und ich — aus sämtlichen Hotels dieser Gegend (um den /Potsdamer und Anhalter Bahnhof) ausgewiesen worden sind!
Tausend Grüße, ich muß schließen. Ich umarme Dich.
Deine R
Eben bekomme ich nach Rücksprache die Mitteilung, daß mit Papier für die Frauenbeilage keine Schwierigkeit besteht. Sie kann also beginnen, sobald Du fertig bist!
Nochmals Kuß und Gruß!
1 Gemeint ist «Der Weg zum Nichts», veröffentlicht unter dem Pseudonym Juvenis in der «Roten Fahne» vom 28. November 1918
Zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 5., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 419-421.