Das alte Spiel

Rosa Luxemburg am 18. November 1918

                    Liebknecht hat in Spandau 200 Offiziere ermordet.
                    Liebknecht ist in Spandau ermordet worden.
                    Die Spartakusleute haben den Marstall gestürmt.
                    Die Spartakusleute haben in das «Berliner Tageblatt»
                    mit Maschinengewehren eindringen wollen.
                    Liebknecht plündert die Läden.
                    Liebknecht verteilt Geld unter die Soldaten,
                    um sie zur Gegenrevolution aufzustacheln.

      Die Spartakusse rückten gegen das Abgeordnetenhaus vor. In der darin tagenden Fraktionssitzung der Fortschrittlichen Volkspartei ist auf diese Kunde hin eine Panik entstanden, und die ehrenwerte Versammlung lief auseinander, unter Hinterlassung von Hüten, Schirmen und dergleichen kostbaren und heutzutage kaum zu ersetzenden Gegenständen auf dem Schauplatz der erwarteten grausigen Taten. —

     So schwirren set einer Woche in Berlin die wildesten Gerüchte über unsere Richtung. Klirrt irgendwo auf der Straße eine Fensterscheibe, platzt an der Ecke ein Pneumatik mit lautem Knall, gleich schaut sich der Philister mit gesträubten Haaren und einer Gänsehaut auf dem Rücken um: Aha, sicher «kommen die Spartakusleute»!

      Verschiedene Personen haben sich an Liebknecht mit der rührenden persönlichen Bitte gewandt, ihre Gatten, Neffen oder Tanten von dem beabsichtigten bethlehemitischen Kindermord, den die Spartakusse planten, ausnehmen zu wollen. So geschehen wahr und wahrhaftig im ersten Jahr und Monat der glorreichen deutschen Revolution.

     Wer denkt da nicht an die köstliche Szene in der «Zauberflöte», wo der kleine Strolch Monostatos, durch Papagenos Schatten erschreckt, vor Angst schlotternd, singt:

                    Ich glaub', das ist der Teufel,
                    Ja, ja, das ist der Teufel,
                    Ach, wär' ich eine Maus,
                    Wie wollt' ich mich verstecken,
                    Ach, wär' ich eine Schnecken,
                    Gleich kröch' ich in mein Haus.

     Hinter all diesen schwirrenden Gerüchten, lächerlichen Phantasien, wahnwitzigen Räubergeschichten und schamlosen Lügen steckt ein sehr ernster Vorgang: Es liegt System darin. Die Hetze wird planmäßig betrieben. Die Gerüchte werden zielbewußt fabriziert und ins Publikum lanciert: Es gilt, durch diese Schwindelmärchen die Philister in panikartige Stimmung zu versetzen, die öffentliche Meinung zu verwirren, die Arbeiter und Soldaten einzuschüchtern und irrezuleiten, um eine Pogromatmosphäre zu schaffen und die Spartakusrichtung politisch zu meucheln, ehe sie noch die Möglichkeit hatte, die breitesten Massen mit ihrer Politik und ihren Zielen bekannt zu machen.

     Das Spiel ist alt. Erinnert man sich, wie vor vier Jahren, beim Ausbruch des Krieges, die einander jagenden tollen Märchen von Goldautomobilen, französischen Fliegern, vergifteten Brunnen, ausgestochenen Augen planmäßig und zielbewußt von Kriegshetzern durch ihre Agenten in Umlauf gesetzt wurden, um den blinden Kriegsfuror hervorzurufen und die Arbeiter als Kanonenfutter zu gebrauchen? Genauso wird jetzt gearbeitet, um die Volksmassen irrezumachen, unter ihnen blinden Haß zu säen, damit sie sich besinnungslos und kritiklos gegen die Spartakusrichtung mißbrauchen lassen.

     Wir kennen die Weise, wir kennen den Text und auch die Verfasser. Es sind die Kreise der abhängigen Sozialdemokraten, der Scheidemann, Ebert, Otto Braun, der Bauer, Legien und Baumeister, die zielbewußt die öffentliche Meinung mit schamlosen Lügen vergiften und das Volk gegen uns aufhetzen, weil sie unsere Kritik fürchten und sie zu fürchten allen Grund haben.

     Diese Leute, die noch eine Woche vor Ausbruch der Revolution jeden Gedanken an Revolution in Deutschland als Verbrechen, «Putschismus», Abenteuer denunzierten, die erklärten, in Deutschland sei die Demokratie schon verwirklicht, weil Prinz Max Reichskanzler war und Scheidemann mit Erzberger in Ministerfracks herumliefen, diese Leute wollen heute dem Volk einreden, die Revolution sei schon gemacht, die Hauptziele seien schon erreicht. Sie wollen den weiteren Fortgang der Revolution aufhalten, sie wollen das bürgerliche Eigentum, die kapitalistische Ausbeutung retten! Dies ist die «Ordnung» und die «Ruhe», die man vor uns behütet.

     Hier liegt der Hase im Pfeffer. Und hier auch der Grund, weshalb die Herrschaften eine solche Todesangst und so tödlichen Haß gegen uns nähren. Sie wissen ausgezeichnet, daß wir keine Läden plündern, wohl aber das kapitalistische Privateigentum abschaffen wollen, daß wir nicht den Marstall oder das Abgeordnetenhaus stürmen, wohl aber die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zertrümmern wollen, daß wir niemanden morden, wohl aber die Revolution unnachgiebig im Interesse der Arbeitenden weiter vorwärtstreiben wollen.

     Sie verzerren mit vollem Bewußtsein und klarer Absicht unsere sozialistischen Ziele in lumpenproletarische Abenteuer, um die Massen irrezuleiten. Gegen Putsche, Morde und ähnlichen Blödsinn schreit man, und den Sozialismus meint man. Indem man die Spartakusrichtung zu meucheln sucht, will man die proletarische Revolution selbst ins Herz treffen!

     Aber das Spiel wird vorbeigelingen. Wir lassen uns nicht mundtot machen. Mögen sich unklare Schichten der Arbeiter oder Soldaten momentan noch gegen uns aufstacheln lassen. Mag uns eine momentane Wiederkehr der gegenrevolutionären Sturzwelle wieder in Kasematten sperren, die wir eben erst verlassen haben — der eherne Gang der Revolution läßt sich nicht aufhalten. Wir werden unsere Stimme laut erschallen lassen, die Massen werden uns verstehen, und dann werden sie sich um so ungestümer gegen die Hetzer und Fabrikanten der Pogromgerüchte wenden. Nicht über Marstalle, Bäckerläden und furchtsame Philister wird dann der Sturm brechen, sondern euch wird er hinwegfegen, ihr gestrigen Kumpane der bürgerlichen Reaktion und des Prinzen Max, ihr Schutztruppen der kapitalistischen Ausbeutung, ihr lauernden Vorposten der Gegenrevolution, ihr Wolfe im Schafpelz!


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 3 vom 18. November 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 401-403.