Die kleinen Lafayette

Rosa Luxemburg am 12.10.1918

Das alte bekannte Spiel der Geschichte wiederholt sich regelrecht in Deutschland. Wenn der Boden der alten Klassenherrschaft zu wanken und zu beben beginnt, dann erscheint in zwölfter Stunde ein «Reformministerium» auf der Bildfläche. Im Jahre 1789, als der Donner der großen Revolution in Frankreich schon vernehmlich zu grollen begann, entschloß sich Ludwig XVI. schweren Herzens zu dem Ministerium Necker. Am Vorabend der Julirevolution im Jahre 1830 versuchte es die bourbonische Restauration einen Augenblick mit dem Ministerium Martignac, das an die Opposition Zugeständnisse machen sollte. Und im Jahre 1848, als schon die ersten Barrikaden der Februarrevolution von den Parisern errichtet wurden, erschien auf der Bildfläche das Eintagsministerium Thiers-Odilon Barrot.

     Der historische Sinn und Zweck solcher «Reformministerien» in letzter Stunde, bei heraufziehendem Vollgewitter, ist stets derselbe: die «Erneuerung» des alten Klassenstaates «auf friedlichem Wege», d. h. die Änderung von Äußerlichkeiten und Lappalien, um den Kern und das Wesen der alten Klassenherrschaft zu retten, um einer radikalen, wirklichen Erneuerung der Gesellschaft durch die Massenerhebung vorzubeugen.

     Das historische Schicksal dieser Ministerien der zwölften Stunde ist auch stets dasselbe: Sie sind durch ihre innere Halbheit und ihren inneren Widerspruch mit dem Fluche der Ohnmacht beladen. Das Volk empfindet sie instinktiv als einen Schachzug der alten Mächte, um sich am Ruder zu erhalten. Die alten Mächte mißtrauen ihnen als unzuverlässigen Dienern ihrer Interessen. Die treibenden Kräfte der Geschichte, die das Reformministerium erzwungen haben, eilen alsbald über dasselbe hinaus. Es rettet nichts und verhindert nichts. Es beschleunigt und entfesselt nur die Revolution, der es vorbeugen sollte. Dies ist auch der Sinn und dies das künftige Schicksal des Reformministeriums Prinz Max-Gröber-Scheidemann-Payer.1

     Das Neue an dem historischen Spiel ist nur dies: Bisher gaben sich zu solcher Blitzableiterrolle in letzter Stunde nur die verwaschensten, lendenlahmsten Liberalen her: ein Necker, ein Martignac, ein Odilon Barrot. Nie hat sich ein entschiedener Radikaler, ein Führer der bürgerlichen Opposition, ein Republikaner zu dieser schoflen Rolle verstanden. Diesmal, zum ersten Mal in der Geschichte, gibt sich eine Partei, die sich sozialdemokratisch nennt, dazu her, bei sichtbar nahender Katastrophe der bestehenden Klassenherrschaft den Retter in der Not zu spielen, durch Scheinreformen und Scheinerneuerung dem herannahenden Volkssturm den Wind aus den Segeln zu nehmen, die Massen im Zaum zu halten.

     Schon ruft das politische Allerweltsmädchen «Vorwärts» den deutschen Arbeitern zu:

     «Das Ziel einer deutschen Demokratie wird in kurzer Zeit auf dem Wege der friedlichen Umwälzung erreicht sein. Dann tritt die gewaltige Frage der weltwirtschaftlichen Neuordnung an uns heran, und der Sozialismus wird seinen Vormarsch antreten. Jetzt kommt alles darauf an, daß von dem, was uns bleibt, nichts überflüssig zerstört und vernichtet wird. Wir dürfen uns nicht von Gefühlen leiten lassen, sondern nur von der klaren Erkenntnis dessen, was unserem schwergeprüften Volk not tut. — — Not tut ihm die Vermeidung alles dessen, was nur zu altem Unglück neues Unglück fügt

     Also die Sache ist klar. Die Demokratie ist erreicht, und zwar «auf friedlichem Wege». Denn ein badischer Thronfolger als Reichskanzler und Scheidemann und Bauer auf dem Ministersessel — das ist «Demokratie». Und dann beginnt der «Sozialismus». Gröber rechts, Payer links, Scheidemann in der Mitte, ein Nationalliberaler hinten und Prinz Max an der Spitze — so wird der «Sozialismus seinen Vormarsch antreten». Marx und Engels meinten im Kommunistischen Manifest in ihrer Naivität, die Befreiung der Arbeiterklasse müsse das Werk der Arbeiterklasse sein. Diese Toren! In Deutschland wird die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Nationalliberalen, des Zentrums, der Freisinnigen und ihrer regierungssozialistischen Schleppträger sein!  Und der Zweck dieser politischen Unzucht: «Ordnung! Ruhe!» Nur keine Anschläge gegen das Privateigentum und die Kapitalsherrschaft! Ihr Arbeitermassen, die ihr hungert und friert, die ihr grollt und aufbegehrt, rührt euch ja nicht, «vernichtet» nichts, «zerstört» nichts, fügt «neues Unglück» nicht zum «alten Unglück». Denn Zusammenbruch der Hindenburg-Diktatur und des deutschen Imperialismus — das ist «altes Unglück», und eine proletarische Revolution in Deutschland — das ist «neues Unglück». Kein Wunder, daß das Mosse-Blatt zu diesem Ruf des «Vorwärts» sagt: «Diese besonnenen Richtlinien werden in den weitesten Kreisen des liberalen Bürgertums entschlossene Zustimmung finden.» Na, und ob!

     Das Programm des Regierungssozialismus in diesem Augenblick ist also klar und deutlich ausgesprochen, mit dem ganzen Zynismus der in politischer Prostitution Langerprobten.

     Und darin liegt der Kernunterschied des heutigen deutschen Ministersozialismus von dem französischen und belgischen. Als Guesde und Sembat, als Vandervelde in das bürgerliche Ministerium eintraten, war in ihren Ländern nicht die proletarische Revolution im Anzuge, sondern die deutsche Invasion.2 Es war die erste gewaltige Springflut des entfesselten Imperialismus, die sie vom Klassenstandpunkt hinweggespült und in eine Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie zum Behufe der «nationalen Verteidigung» hineingestoßen hat.

     Die deutschen Regierungssozialisten traten zur Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie ins Ministerium nicht zu Beginn, sondern am Schluß des Krieges, nachdem sich das ministerialistische Experiment in Frankreich wie in Belgien völlig abgetragen, zerschlissen, korrumpiert hat, nachdem dort bereits die Ernüchterung der proletarischen Massen und ihre Rückkehr zum Klassenkampf auf dem Anmarsche ist, nachdem die russische Revolution das Gefüge der bürgerlichen Gesellschaft in der ganzen Welt erschüttert hat, nachdem der Imperialismus militärisch, politisch und moralisch ausgespielt hat, nachdem der Bestand des Klassenstaates in Österreich in eine hoffnungslose Krise geraten ist, nachdem im deutschen Heere die Auflösung der Disziplin und die Revolutionierung der Soldatenmassen in vollem Gange ist, nachdem in Deutschland, in Österreich, in Bulgarien die Volksmassen in heftigster Gärung sind, kurz: nachdem der vierjährige Krieg durch seine Dialektik die internationale Revolution des Proletariats unvermeidlich gemacht hat! Die Guesde und Vandervelde desertierten vom Klassenstandpunkt im ersten Augenblick des Krieges vor dem Anmarsch der deutschen Militärbataillone, die Scheidemann und Bauer treten in die Regierung der Bourgeoisie ein am Schluß des Krieges, vor dem drohenden Anmarsch der revolutionären Bataillone des sozialistischen Proletariats. Die Guesde und Vandervelde dienten dem Popanz der «nationalen Verteidigung», die Scheidemann und Bauer dem blutigen Ernst der «kapitalistischen Verteidigung».

     Deshalb ist es nur ein sichtbares Symbol, daß sie ihre Ministersessel neben einem fürstlichen Thronfolger einnehmen, daß sie ihre «Demokratie» mit einer feierlichen demonstrativen Huldigung vor der Monarchie einleiten.

     Als am 5. Oktober 1789 in Paris die Massenrevolution ausbrach und der Zug der Pariser Weiber mit Trommelwirbel und dem Ruf «Brot! Brot!» nach Versailles ging, wo die königliche Familie mit ihren Schranzen schreckensbleich im Schloß versteckt saß, da führte Lafayette, der revolutionäre Hanswurst zweier Weltteile3, seine berühmte Balkonszene auf. Er überredete die schlotternde Marie Antoinette dazu, mit ihm auf den Balkon zu treten, und hier, vor der wogenden Volksmenge, küßte er der Königin feierlich die Hand. Diese rührende monarchische Huldigung verwirrte für einen Augenblick die Menge und riß sie sogar zum Beifall hin. Die Posse aber hinderte nicht, daß das Drama weiter seinen Gang nahm, daß die Marie Antoinette ihrem Gemahl bald auf die Guillotine folgen und daß Lafayette selbst sich vor dem Groll der Revolution durch die Flucht ins Ausland retten mußte. Die Scheidemann und Bauer, die jetzt mit einem Kuß auf die Hand der deutschen Monarchie beginnen, werden noch mit blauen Bohnen gegen streikende und demonstrierende deutsche Arbeiter enden. Der Regierungssozialismus stellt sich mit seinem jetzigen Eintritt in die Regierung als Retter des Kapitalismus der kommenden proletarischen Revolution in den Weg. Die proletarische Revolution wird über seine Leiche hinwegschreiten. Ihr erster Ruf, ihre erste Etappe muß sein: Deutschland — Republik.



1 Am 3. Oktober 1918 war Prinz Max von Baden zum Reichskanzler ernannt worden. Er bildete eine sogenannte parlamentarische Regierung, die die revolutionäre Bewegung in Deutschland aufhalten, die imperialistische Klassenherrschaft retten und gegenüber der Entente verhandlungswürdig erscheinen sollte. Dieser Regierung gehörten u. a. der Führer der Zentrumsfraktion des Reichstags Adolf Gröber, als Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei Friedrich von Payer und als Vertreter der Sozialdemokratie die Opportunisten Philipp Scheidemann und Gustav Bauer an.

2 Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges waren Marcel Sembat und Jules Guesde, führende Vertreter der Sozialistischen Partei Frankreichs, und Emile Vandervelde, Vertreter der belgischen Arbeiterpartei, in die bürgerlichen Regierungen ihrer Länder eingetreten.

3 Joseph Marie Lafayette, ein führender konstitutioneller Monarchist und von 1789 bis 1792 Kommandant der französischen Nationalgarde. Vorher hatte er als Freiwilliger am Nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg teilgenommen und war zum General befördert worden. Er ging 1792, nachdem die bürgerlichen Republikaner die Macht erobert hatten, ins Lager der Konterrevolution über.


Zuerst veröffentlicht in: Spartacus, Nr. 12 vom Oktober 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 393-396.