Die Reichskonferenz des Spartakusbundes
Rosa Luxemburg am 29. Dezember 1918
Morgen treten aus ganz Deutschland Vertreter der meistgehaßten, meistverleumdeten, meistgehetzten politischen Richtung, des Spartakusbundes, zusammen. Mit Stolz und Zuversicht sammeln sie sich unter der sturmerprobten Fahne, um in kurzer Beratung, vom heißen Atem der Revolution umweht, über weitere Ziele und Wege zu beschließen.
Wie einst in Flandern der Name der «Geusen», der Bettler, ist heute der Name der «Spartakusleute» in Deutschland zum Symbol des rücksichtslosen revolutionären Kampfes, der unbeugsamen proletarischen Energie, des unbeirrbaren Festhaltens an den Zielen des Sozialismus geworden, zum Symbol alles dessen, was den herrschenden Klassen, was der kapitalistischen Gesellschaft Greuel und in den Tod verhaßt ist.
Auf eine kurze, aber bewegte Vergangenheit blickt der Bund zurück. Der Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie am 4. August 1914 war des Spartakus Geburtsstunde. Der krachende Bankrott der hergebrachten Parteitaktik, ihr schmählicher Verrat an den heiligsten Aufgaben und Ehrenpflichten des Sozialismus in der großen Stunde der Entscheidung rief sofort die offene und rücksichtslose Rebellion der Spartakusleute auf den Plan. Von ihnen ging schon im August 1914 der erste öffentliche Protest gegen die Schmach der offiziellen Partei aus, der in der italienischen, englischen, holländischen Presse veröffentlicht wurde und der sozialistischen Internationale laut zurief: Hofft und rafft euch auf! Es gibt noch Sozialisten in Deutschland!
Von denselben Spartakusleuten gingen, als die Arbeitermassen noch in der erstarrenden Hypnose des Kriegstaumels dem siegreichen Dahinstürmen des Imperialismus teilnahmslos oder gar jubelnd zuschauten, als über der Partei nach dem Selbstmord des 4. August bleierne Friedhofsruhe lag, die ersten Versammlungen in Berliner Vororten — in Steglitz, Mariendorf, Charlottenburg, Neukölln — aus, die ersten Konferenzen in Stuttgart, Frankfurt a. M., Leipzig, die ersten Signale zur Sammlung gegen die offizielle Partei, die ersten Auseinandersetzungen Auge in Auge mit den Verrätern des Sozialismus und der Internationale.
Auf der Tribüne des Reichstages, in der Zeitschrift «Internationale», in der Junius-Broschüre, in Flugblättern focht die kleine Schar unter dem Belagerungszustand und der Säbeldiktatur unermüdlich, um die Ehre des deutschen Proletariats zu retten, die Massen aufzurütteln, den heiligen Funken des revolutionären Idealismus zum Brand zu entfachen.
Verfolgungen hagelten dicht auf die Störenfriede herab. Einer nach dem andern verschwanden sie für Jahre von der Bildfläche, bevölkerten Gefängnisse und Zuchthäuser oder wurden aus Betrieben in den Schützengräben verschickt. Doch blieb auch nur einer noch frei, gleich sammelte sich die Schar von neuem, gleich ging die unterirdische Arbeit weiter, die zähe Maulwurfsarbeit, die den starren Bau des Imperialismus unterminieren sollte.
Und die Bande mit der proletarischen Masse knüpften sich immer weiter, immer fester. Während die Unabhängigen sich nach zwei Jahren des geduldigen Zusammenwirkens mit den Judassen der Arbeiterbewegung zögernd und schwankend von ihnen trennten, um die morschen, bankrotten Traditionen der alten Sozialdemokratie und ihres parlamentarischen Scheindaseins hartnackig fortzusetzen, bahnten die Spartakusleute der neuen, revolutionären Taktik: der außerparlamentarischen Massenaktion, den Weg, mahnten und riefen unermüdlich zu den Massenstreiks auf, bis die ersten Erfolge das Selbstvertrauen, den Kampfmut der Arbeiterschaft gestärkt und gehoben hatten.
Nach jedem Anlauf fielen und glätteten sich die kaum bewegten Wogen des Kampfes, eine tödliche, bleierne Windstille nahm scheinbar wieder von den Geistern der Masse Besitz. Es gehörte ein eiserner Wille dazu und ein Glaube, der Berge versetzt, um in diesen viereinviertel Jahren nicht für einen Tag zu erlahmen, nicht das rastlose Minierwerk im Stiche zu lassen, nicht in den bequemen Pessimismus über die «deutschen Massen» zu verfallen, der den Unabhängigen als billiger Vorwand ihrer eigenen Indolenz diente.
Spartakusleute kannten kein Verzagen, wie sie kein Zagen kennen. Lustig pfeifend in der vergitterten Zelle wie in der Werkstatt, im Schützengraben wie in dem konspirativen, von Spitzeln umspürten, von Häschern umstellten Beratungsquartier, schärften sie ihre Pfeile, verbreiteten ihre Flugblätter, zerrten derb an dem Gewissen der Massen, warfen immer wieder dem triumphierenden Koloß des Imperialismus keck den Fehdehandschuh ins Gesicht.
Bis am 9. November der Koloß auf tönernen Füßen krachend zu Boden fiel, das deutsche Proletariat sich endlich zu seiner Größe aufrichtete und die Revolution begann.
Vom ersten Tage der Revolution an begann auch ein Kreuzzug der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums, der hohen Militärs, der Ebert-Scheidemann-Leute — aller gegenrevolutionären Elemente gegen den Spartakusbund. Das war die Quittung für seine Pflichterfüllung unter der Säbeldiktatur des Imperialismus, das war zugleich der sichere Instinkt der Hüter der bedrohten kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die alle ihre Giftpfeile dahin zielte, wo sie das Herz der proletarischen Revolution pochen fühlte.
Die Todfeinde des Proletariats und des Sozialismus sind von ihrem Instinkt nicht betrogen worden. Dem Spartakusbund fällt in der deutschen Revolution eine besondere Rolle, eine verantwortungsvolle Aufgabe, eine hohe Pflicht zu.
Ihn trennt ein gähnender Abgrund von den feilen Handlangern der Ausbeuter und Unterdrücker, von den blutbefleckten Ebert-Scheidemann-Leuten, denen er nur die geballte Faust zu bieten hat.
Ihn trennt ein Abgrund auch von den Unabhängigen, die es verstanden haben, sich in den fünf Wochen der Revolution nicht vorwärts-, sondern rückwärts zu entwickeln, aus tatenlosen Kritikern der Scheidemannschen Prostitution, die sie während des Krieges waren, zu tätigen Teilhabern dieser Prostitution zu werden, über Putsche, Intrigen und Gräber, über Infamien und Blutlachen hinweg den Ebert-Scheidemann noch die Hand zum gemeinsamen Werke zu reichen. Von diesen Leuten — mögen sie auch morgen unter dem Druck der allgemeinen Verachtung und des eigenen moralischen Zusammenbruchs endlich die schmachvollen Bande mit der Ebert-Regierung lösen — gilt das Wort: zu spät! Sie sind politisch für die Revolution, für das Proletariat erledigt. Ihr weiterer Weg führt hinüber — in den Morast der Gegenrevolution, der sie so lange die helfende Hand entgegenstreckten.
Aber auch von den schwankenden und zagenden Elementen der USP trennt uns ein Grenzrain, die, erbittert über den tiefen Fall der Haase-Dittmann und Genossen, dennoch nie den Mut und die Konsequenz fanden, sie öffentlich an den Pranger zu stellen, die große Abrechnung der Massen mit ihnen herbeizuführen, sie vor die Alternative der Loslösung von der Gegenrevolution oder der Ausstoßung aus den Reihen des kämpfenden Proletariats zu stellen.
Revolutionen kennen keine Halbheiten, keine Kompromisse, kein Schleichen und Sichducken. Revolutionen brauchen offene Visiere, klare Prinzipien, entschlossene Herzen, ganze Männer.
Die jetzige Revolution, die erst in ihrem Anfangsstadium steht, die gewaltige Perspektiven vor sich und weltgeschichtliche Probleme zu bewältigen hat, muß einen untrüglichen Kompaß haben, der in jedem Teilstadium des Kampfes, in jedem Siege und in jeder Niederlage unbeirrbar nach demselben großen Ziele weist: nach der sozialistischen Weltrevolution, nach dem rücksichtslosen Machtkampf des Proletariats um die Befreiung der Menschheit vom Joch des Kapitals.
Dieser richtungweisende Kompaß, dieser vorwärtstreibende Keil, der proletarisch-sozialistische Sauerteig der Revolution zu sein — das ist die spezifische Aufgabe des Spartakusbundes in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zweier Welten.
Die Geschichte ist die einzige wahre Lehrmeisterin, die Revolution die beste Schule des Proletariats. Sie werden dafür sorgen, daß die «kleine Schar» der Meistverleumdeten und -verfolgten Schritt um Schritt zu dem wird, wozu ihre Weltanschauung sie bestimmt: zur kämpfenden und siegenden Masse des revolutionären sozialistischen Proletariats.
Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 43 vom 29. Dezember 1918.
Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 475-478.