Die Wahlen zur Nationalversammlung

Rosa Luxemburg am 23. Dezember 1918

Nach dem glänzenden «Sieg» auf dem Rätekongreß glauben die Ebert-Leute, ihr Hauptstreich gegen die Macht der A.- und S.-Räte, gegen die proletarische Revolution und den Sozialismus sei gelungen.

     Sie werden sich irren. Es gilt, diesen Plan der Gegenrevolution zunichte zu machen, die Aktion der kapitalistischen Schutztruppe durch die revolutionäre Aktion der Massen zu durchkreuzen.

     Wie wir das infame preußische Dreiklassenwahlrecht ausnützten, um im Dreiklassenparlament gegen das Dreiklassenparlament zu kämpfen, so werden wir die Wahlen zur Nationalversammlung zum Kampfe gegen die Nationalversammlung verwerten.

     Hier freilich ist die Analogie zu Ende. Die Teilnahme an der Nationalversammlung kann heute für wirkliche Verfechter der Revolution und des Sozialismus nichts gemein haben mit dem herkömmlichen Schema, mit der althergebrachten «Ausnutzung des Parlaments» zu sogenannten «positiven Errungenschaften». Nicht im alten Trott des Parlamentarismus, nicht, um an den Gesetzesvorlagen kleine Besserungsflicken und Schönheitspflästerchen anzubringen, auch nicht, um «Kräfte zu messen», Heerschau der Anhänger zu halten oder wie all die bekannten Redensarten aus der Zeit der bürgerlich-parlamentarischen Tretmühle und aus dem Wortschatz der Haase und Genossen heißen. 

     Jetzt stehen wir mitten in der Revolution, und die Nationalversammlung ist eine gegenrevolutionäre Festung, die gegen das revolutionäre Proletariat aufgerichtet wird. Es gilt also, diese Festung zu berennen und zu schleifen. Um die Massen gegen die Nationalversammlung mobil zu machen und zum schärfsten Kampf aufzurufen, dazu müssen die Wahlen, dazu muß die Tribüne der Nationalversammlung ausgenutzt werden.

     Nicht, um mit der Bourgeoisie und ihren Schildträgern zusammen Gesetze zu machen: um die Bourgeoisie und ihre Schildträger zum Tempel hinauszujagen, um die Festung der Gegenrevolution zu erstürmen und die Fahne der proletarischen Revolution auf ihr siegreich zu hissen — dazu ist die Beteiligung an den Wahlen nötig.

     Man bedürfe dazu der Mehrheit in der Nationalversammlung? Das glaubt nur, wer dem parlamentarischen Kretinismus huldigt, wer Revolution und Sozialismus durch Parlamentsmehrheiten entscheiden will. Auch aber die Schicksale der Nationalversammlung selbst entscheidet nicht die parlamentarische Mehrheit in der Nationalversammlung, sondern die proletarische Masse draußen in den Betrieben und auf der Straße.

     Das möchte den Herrschaften um Ebert-Haase, das möchte den Junkern, Kapitalisten und ihrem Troß so passen, wenn man sie hübsch unter sich ließe und die revolutionären Proletarier sich mit der Rolle der Zaungäste begnügten, die ruhig zuschauen, während da drinnen ihre Haut zu Markte getragen wird!

     Aus dieser Rechnung wird nichts. Mögen sie noch so rasch, dank dem Mameluckenkongreß der A.- und S.-Räte zwischen Tür und Angel, ihr gegenrevolutionäres Werk unter Dach und Fach gebracht haben — dennoch war und bleibt es eine Rechnung ohne den Wirt. Der Wirt ist die proletarische Masse, der wirkliche Träger der Revolution und ihrer sozialistischen Aufgaben. Sie, die Masse, hat aber die Schicksale und den Verlauf der Nationalversammlung zu bestimmen. Von ihrer eigenen revolutionären Aktivität hängt ab, was in, was aus der Nationalversammlung wird. Das Hauptgewicht liegt in der Aktion draußen, die an die Tore des gegenrevolutionären Parlaments ungestüm pochen muß. Aber schon die Wahlen selbst und die Aktion der revolutionären Vertreter der Masse drinnen muß der Sache der Revolution dienen. Alle Kniffe und Schliche der werten Versammlung rücksichtslos und laut denunzieren, ihr gegenrevolutionäres Werk auf Schritt und Tritt vor der Masse entlarven, die Massen zur Entscheidung, zur Einmischung anrufen — dies ist die Aufgabe der Beteiligung an der Nationalversammlung.

     Die Herren Bourgeois mit der Ebert-Regierung an der Spitze wollen den Klassenkampf durch die Nationalversammlung bannen, lahmen, der revolutionären Entscheidung ausweichen. Diesem Plan zum Trotz soll der Klassenkampf in die Nationalversammlung selbst hineinstürmen, er soll die Wahlen wie die Verhandlungen der Nationalversammlung gerade zur Beschleunigung der revolutionären Entscheidung ausnutzen.

     Wir gehen heißen Zeiten entgegen. Die Arbeitslosigkeit, die wirtschaftlichen Konflikte werden in den nächsten Wochen und Monaten unaufhaltsam wachsen. Die große Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, die die Zukunft der Revolution in ihrem Schoße trägt und die im Endresultat keine andere Entscheidung zulässt als den Niederbruch der kapitalistischen Klassenherrschaft und den Triumph des Sozialismus: sie wird schon dafür Sorge tragen, daß die revolutionäre Stimmung und Aktivität der Massen im Lande mit jedem Tage wachst.

     Die Nationalversammlung soll nach dem Plan der Ebert-Leute dieser revolutionären Flut einen Damm entgegenstellen. So gilt es, die Flut gerade mitten, in und durch die Nationalversammlung zu leiten, um den Damm hinwegzuspülen.

     Die Wahlaktion, die Tribüne dieses gegenrevolutionären Parlaments, soll ein Mittel werden zur Schulung, Sammlung, Mobilisierung der revolutionären Masse, eine Etappe im Kampf um die Aufrichtung der proletarischen Diktatur.

     Ein Sturm der Massen an die Tore Nationalversammlung, die geballte Faust des revolutionären Proletariats, die sich mitten in der Versammlung erhebt und die Fahne schwenkt, auf der die feurigen Lettern leuchten: Alle Macht den A.- und S.-Räten! — das ist unsere Beteiligung an der Nationalversammlung.

     Proletarier, Genossen, ans Werk! Keine Zeit ist zu verlieren. Heute noch triumphieren die herrschenden Klassen über die siegreiche Aktion der Ebert-Regierung im Rätekongreß, sie harren und hoffen auf den 19. Januar als die Rückkehr ihrer ungetrübten Klassenherrschaft. Sie mögen nicht zu früh triumphieren. Die Iden des Märzes sind noch nicht vorüber und auch nicht die des Januar. Der proletarischen Revolution gehört die Zukunft, ihr muß alles dienen, auch die Wahlen zur Nationalversammlung.


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 38 vom 23. Dezember 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 472-474.