Ein gewagtes Spiel

Rosa Luxemburg am 24. November 1918

Von der «Kreuz-Zeitung» bis zum «Vorwärts» hallt die deutsche Presse von Schmähungen gegen «Terror», «Putschismus», «Anarchie», «Diktatur» wider.

     Quis tulerit Gracchos de seditione querentes? Wen rührt es nicht, wenn die Kapitolwächter der bürgerlichen Anarchie, wenn diejenigen, die in vier Jahren Europa in einen Trümmerhaufen verwandelt haben, über «Anarchie» der proletarischen Diktatur schreien?

     Die besitzenden Klassen, die in tausendjähriger Geschichte bei der geringsten Rebellion ihrer Sklaven vor keinem Gewaltakt und keiner Niedertracht zurückschreckten, um das Palladium der «Ordnung»: Privateigentum und Klassenherrschaft, zu schützen, sie schreien seit jeher über Gewalt und Terror — der Sklaven. Die Thiers und Cavaignac, die in der Junimetzelei des Jahres 1848 Zehntausende Pariser Proletarier, Männer, Frauen und Kinder, hingemordet hatten, sie erfüllten die Welt mit Geheul über die angeblichen «Greueltaten» der Pariser Kommune.

     Die Reventlow, Friedberg, Erzberger, die ohne mit der Wimper zu zucken anderthalb Millionen deutscher Männer und Jünglinge zur Schlachtbank getrieben — um Longwy und Briey, um neuer Kolonien willen —, die Scheidemann-Ebert, die vier Jahre lang für den größten Aderlaß, den die Menschheit erlebt, alle Mittel bewilligten, sie schreien jetzt im heiseren Chor über den «Terror», über die angebliche «Schreckensherrschaft», die von der Diktatur des Proletariats drohe!

     Die Herrschaften mögen in ihrer eigenen Geschichte nachblättern.

     Terror und Schreckensherrschaft haben gerade in den bürgerlichen Revolutionen eine ganz bestimmte Rolle gespielt. In der großen englischen wie in der Großen Französischen Revolution war die Hinrichtung des Königs der weltgeschichtliche Bruch mit dem Feudalismus, ein notwendiger Akt der Selbstverständigung der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft, die sich erst spontan im Laufe der Revolution bis an den schroffen Gegensatz zum alten Regiment tastend herangearbeitet hatte. In dem Aufblitzen des Henkerbeils über dem Haupte Karl Stuarts wie der Guillotine über dem Speckkopf des Bourbonen leuchtete blitzartig der bürgerlichen Gesellschaft selbst, die ahnungslos in die Revolution eingetreten war, ihr eigener unüberbrückbarer Gegensatz zur alten Feudalherrschaft ein.

     Das Schreckensregiment der Jakobiner in Frankreich war nichts anderes als ein verzweifelter Versuch des radikalen Kleinbürgertums, seine Dauerherrschaft in Frankreich in einer Zeit anzutreten und zu behaupten, wo geschichtlich erst die Großbourgeoisie zum Antritt der Herrschaft in ganz Europa berufen war. Ein Versuch, die große Revolution auf ihre ideologische Phrase, auf die formale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, festzunageln — gegen den realen Inhalt dieser Phrase: den Herrschaftsantritt der Industrie und des Finanzkapitals. Ein Versuch der Masse des Kleinbürgertums, nachdem ihre Rolle des Sturmbocks zur Sicherung der notwendigen Minimalerrungenschaften der bürgerlichen Revolution ausgespielt war, sich an die Macht zu klammern und eine Durchgangsphase der Revolution zu ihrem Endziel, ihre Phrase zu ihrem Inhalt, ihr Hilfsmittel zu ihrem Zweck zu machen. Der Jakobinerterror war also gleichfalls ein Mittel der Selbstverständigung der Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Abgrenzung voneinander.

     Mit einem Wort: Terror und Schreckensherrschaft waren in den bürgerlichen Revolutionen ein Mittel, geschichtliche Illusionen zu zerstören oder hoffnungslose Interessen gegen den Strom der Geschichte zu verteidigen.

     Das sozialistische Proletariat tritt dank der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus in seine Revolution ohne alle Illusionen ein, mit fertigem Einblick in die letzten Konsequenzen seiner historischen Mission, in die unüberbrückbaren Gegensätze, in die Todfeindschaft zur bürgerlichen Gesellschaft im ganzen. Es tritt in die Revolution ein, nicht um gegen den Gang der Geschichte utopischen Hirngespinsten nachzujagen, sondern um, gestützt auf das eherne Triebwerk der Entwicklung, zu vollbringen, was das Gebot der geschichtlichen Stunde ist: den Sozialismus zur Tat zu machen. Als Masse, als gewaltige Mehrheit der Arbeitenden soll das sozialistische Proletariat seine historische Mission erfüllen.

     Es hat deshalb nicht nötig, die eigenen Illusionen erst durch blutige Gewaltakte zu zerstören, erst zwischen sich und der bürgerlichen Gesellschaft einen Abgrund zu graben. Was es braucht, ist die gesamte politische Macht im Staate, ist der Gebrauch dieser Macht zur rücksichtslosen Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums, der Lohnsklaverei, der bürgerlichen Klassenherrschaft, zum Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung.

     Aber es gibt jemand anderen, der heute Terror, Schreckensherrschaft, Anarchie dringend braucht, das sind die Herren Bourgeois, das sind alle Parasiten der kapitalistischen Wirtschaft, die um ihren Besitz und ihre Privilegien, um Profite und um Herrschaftsrechte zittern. Diese sind es, die erdichtete Anarchie, erlogene Putsche dem sozialistischen Proletariat in die Schuhe schieben, um wirkliche Putsche, um reelle Anarchie durch ihre Agenten im gelegenen Augenblick zu entfesseln, um die proletarische Revolution zu erdrosseln, die sozialistische Diktatur im Chaos untergehen zu lassen und auf den Trümmern der Revolution die Klassendiktatur des Kapitals für immer zu errichten.

     Hirn und Herz der heutigen Hetze gegen den revolutionären Vortrupp des Proletariats ist das Kapital und sein Existenzkampf. Dessen Hand und Werkzeug ist die abhängige Sozialdemokratie. Das Dienstverhältnis hat die Revolution überdauert, die Herrschaft wie die Domestiken haben nur rote Abzeichen auf die Kleider geheftet.

     Das Zentralorgan der abhängigen Sozialdemokratie, der «Vorwärts», ist jetzt Zentralorgan der gegenrevolutionären Treibjagd gegen die Spartakusleute.

     Der abhängige Stadtkommandant von Berlin bewaffnet die Sicherheitswachen mit scharfen Patronen gegen erdichtete «Anschläge» der Spartakusleute. Die Trabanten der Wels und Genossen hetzen die unklarsten Elemente unter den Soldaten gegen Liebknecht und seine Freunde auf. Drohbriefe, Warnungen fliegen uns fortwährend zu.

     Wir sehen dem Schauspiel von der geschichtlichen Warte mit kaltblütigem Lächeln zu. Wir durchschauen das Spiel, die Akteure, die Regie und die Rollen.

     Was, denkt man aber wohl, was würden die Massen der revolutionären Proletarier tun, wenn die Hetze ihren Zweck erreichte, wenn etwa demjenigen ein Haar auf dem Haupte gekrümmt werden sollte, den sie auf ihren Armen aus dem Zuchthaus geholt und als den berufenen Führer erkannt haben? Wer hatte wohl dann die Macht, diesen Massen Kaltblütigkeit zu predigen?

     Ihr Herren Bourgeois und ihr Dienstmannen des todgeweihten Kapitals vom «Vorwärts», ihr spekuliert wie Bankrotteure auf die letzte Karte: auf die Unwissenheit, auf die politische Unerfahrenheit der Massen. Ihr lauert auf den Augenblick, ihr lechzt nach den Lorbeeren der Thiers, Cavaignac und Galliffet.

     Es ist ein gewagtes Spiel. Der Diktatur des Proletariats, dem Sozialismus, gehört der Tag und die Stunde. Wer sich dem Sturmwagen der sozialistischen Revolution entgegenstemmt, wird mit zertrümmerten Gliedern am Boden liegenbleiben


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 9 vom 24. November 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 411-414.