Ein Pyrrhussieg

Rosa Luxemburg am 21. Dezember 1918

Die erste Tagung des Rätekongresses ist zu Ende. Überblickt man seine Leistungen, wie sie sich äußerlich in den Debatten und Beschlüssen darbieten, so sind sie ein Sieg der Ebert-Regierung, ein Sieg der Gegenrevolution auf der ganzen Linie. Aussperrung der revolutionären «Straße», Annullierung der politischen Macht der A.- u. S.-Räte, Einberufung der Nationalversammlung, diktatorische Gewalt der Clique des 6. Dezember — was könnte wohl die Bourgeoisie in der heutigen Situation mehr und Besseres wünschen? «Die Diktatoren wollen von der ihnen zugedachten Diktatur nichts wissen», triumphiert die «Freiheit», das traurige Organ der politischen Zweideutigkeit. 

     Gewiß, das selbstgewählte Organ der Arbeiter- und Soldatenräte hat, statt sich der politischen Gewalt für die Sache der Revolution zu bemächtigen, was seine Mission war, sich selbst entleibt und die ihm anvertraute Macht dem Feinde ausgeliefert.

     Hier kommt nicht bloß die allgemeine Unzulänglichkeit des ersten unreifen Stadiums der Revolution, sondern auch die besondere Schwierigkeit dieser proletarischen Revolution, die Eigenart ihrer historischen Situation zum Ausdruck.

     In allen früheren Revolutionen traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse, Programm gegen Programm, Schild gegen Schild. Und hat es in jeder Gegenrevolution Zettelungen, Ränke und Schliche gegeben, so waren es eben notorische Zettelungen, Ränke und Schliche der Gegenrevolution, der Royalisten, Aristokraten, reaktionären Militärs. Es waren stets Anhänger des gestürzten oder bedrohten Systems, die im Namen und zur Rettung dieses Systems gegenrevolutionäre Maßnahmen ergriffen. Es genügte, die kompromittierten Schilder und Wappen aus dem Dunkel ans Licht zu zerren, damit die Volksmenge mit lautem Hallo die alten Vogelscheuchen zerpflückte.

     In der heutigen Revolution treten die Schutztruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer «sozialdemokratischen Partei» in die Schranken. Würden die Ebert-Haase ehrlich und offen Heydebrand, Gröber, Fuhrmann heißen — nicht einer unter den A.- u. S.-Delegierten hätte ihnen zu folgen gewagt. Würde die Kardinalfrage der Revolution offen und ehrlich Kapitalismus oder Sozialismus lauten, ein Zweifeln, ein Schwanken wäre in der großen Masse des Proletariats heute unmöglich.

     Allein so einfach, so bequem macht es uns die Geschichte nicht. Die bürgerliche Klassenherrschaft kämpft heute ihren letzten weltgeschichtlichen Kampf unter fremder Flagge, unter der Flagge der Revolution selbst. Es ist eine sozialistische Partei, es ist das ureigenste Geschöpf der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes, das sich in das wuchtigste Instrument der bürgerlichen Gegenrevolution verwandelt hat. Kern, Tendenz, Politik, Psychologie, Methoden — alles ist gut kapitalistisch. Nur Schilder, Apparat und Phraseologie sind vom Sozialismus übriggeblieben. Und doch genügen Schilder, Apparat und Phraseologie, um breite Massen über Kern und Inhalt der Politik zu tauschen, um einen Delegiertenrat des revolutionären Proletariats zum Mameluckentrupp der Gegenrevolution zu degradieren!

     Das ist die Schule der deutschen Sozialdemokratie, das ist die Quittung über die letzten 25 Jahre ihrer Tätigkeit. Der Geist des 4. August 1914 herrschte über dem Sitzungssaal des Rätekongresses; das alte vorrevolutionäre Deutschland der Hohenzollern, der Hindenburg und Ludendorff, des Belagerungszustandes und der Henkerarbeit in Finnland, Baltenland und der Ukraine war noch intakt im Saal des Abgeordnetenhauses — trotz Zusammenbruch auf den Schlachtfeldern Frankreichs und trotz 9. November!

     Und doch: jenes Deutschland besteht nicht mehr. Es ist das wunderbare Geheimnis aller innerlich herangereiften, geschichtlich notwendigen sozialen Umwälzungen, daß ein Tag Revolution das Antlitz der Gesellschaft verändert, das Alte zur Vergangenheit für ewige Zeiten macht.

     Der Ausbruch des 9. November, so schwach, so unzulänglich, so verworren er war, er hat zwischen dem Gestern und dem Heute einen Abgrund gegraben, über den es keine Brücke mehr gibt. Wie eine kleine Schneeflocke genügt, um gigantische Lawinen ins Rutschen zu bringen und Felsen, Täler, Dörfer unter ihnen zu begraben, so hat der schwache Anstoß des 9. November genügt, um das Gleichgewicht der Klassenverhältnisse in Deutschland auszurenken und ein allgemeines Schwanken und Beben ihrer Grundfesten herbeizuführen.

     Dieser Prozeß der Erschütterung und des Umsturzes der bürgerlichen Klassenherrschaft kann keinen anderen Ausweg finden als den Triumph der sozialen Revolution, weil aus dem Bankrott des Imperialismus kein Ausweg, keine Rettung mehr übrigbleibt denn im Sozialismus.

     Jeder Tag verschärft die Situation, jeder Tag meißelt das weltgeschichtliche Dilemma schroffer, unerbittlicher heraus.

     Die zurückflutende Masse der Soldaten verwandelt sich allmählich in Arbeitermasse, zieht die Livree des Imperialismus aus und den Proletarierkittel an. Damit berühren die Soldaten wieder den Mutterboden, in dem ihr Klassenbewußtsein wurzelt, und die Fäden, die sie vorübergehend an die herrschenden Klassen knüpften, zerreißen.

     Zugleich steigen die Riesenprobleme der Arbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit, des finanziellen Staatsbankrotts auf. Die innere Auflösung der kapitalistischen Wirtschaft zeigt ihren Medusenkopf. Hier in dem wirtschaftlichen Gegensatz ist die heiße Esse, aus der mit jedem Tage neue Gluten des Klassenkampfes emporlodern werden.

     Und damit ist gegeben, daß die revolutionäre Spannung, daß das revolutionäre Bewußtsein der Masse mit jedem Tage akuter und schärfer wird. Gerade der Rätekongreß hat durch den schroffen, unvermittelten Gegensatz, in den er sich zu der Situation und Stimmung der Massen gesetzt, selbst zu ihrer Klärung und Schulung sein Bestes getan. In den wenigen Tagen seiner Beratungen hat er dem Proletariat wie der Soldatenmasse den Kampf aufs Messer gegen die Regierung der Gegenrevolution als unausweichliche Lebensfrage vordemonstriert.

     Nur Unklarheiten, Halbheiten, nur Schleier und Nebel sind der Sache der Revolution gefährlich. Jede Klarheit, jede Enthüllung ist Öl ins Feuer der Revolution.

     Der Rätekongreß hat in den wenigen Tagen eine so gründliche, ganze Arbeit geleistet, so alle schleppenden Schleier von dem Kern der Gegenrevolution hinweggezogen, daß seine Tagung wie eine Sprengmine die Gewissen der proletarischen Massen aufrütteln muß.

     Von der Stunde ab, da die Rätedelegierten ausgeredet haben, haben die A.- u. S.-Räte in ganz Deutschland, haben die Arbeitermassen das Wort. Sie werden reden, und sie werden handeln. Der Sieg der Ebert-Regierung wird — wie alle Siege der Gegenrevolution — ein Pyrrhussieg bleiben.

 


 Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 36 vom 21. Dezember 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 468-471.