Erinnerungen an Rosa Luxemburg
Arthur Gertel frühe 1950er Jahre
Im Jahre 1918, dem letzten Kriegsjahr, wurde ich dem Militärgefängnis von Breslau als Kassenführer zugewiesen, da ich für den Kriegs-Etappendienst als Unteroffizier für tauglich befunden worden war.
Während des Krieges benutzten die Militärbehörden – das Hauptquartier des VI. Reserve-Korps der Armee [Breslau] – von diesem Zivilgefängnis [eigentlich] nur den Männertrakt. Rosa Luxemburg befand sich als einzige vom Militär eingewiesene Inhaftierte im Frauentrakt – neben den zivilen Häftlingen. Sie war in Schutzhaft genommen worden und somit inhaftiert, ohne zu einer Strafe verurteilt worden zu sein. Davor war sie schon in anderen Gefängnissen inhaftiert gewesen. Sie verfügte über eine relativ geräumige und helle Zelle, die ein normales Fenster mit zwei Flügeln hatte, und durfte je nach Wunsch im Hof spazieren gehen – genauso wie die zehn männlichen Inhaftierten, die im Quartier des Militärs lebten. Außerdem durfte sie unter Aufsicht eines Soldaten Besucher empfangen, wenn dies zuvor von der Kommandantur genehmigt worden war. Ab und zu wurden ihr auch Spaziergänge in die Stadt und die Umgebung unter militärischer Aufsicht genehmigt.
Das Militärgefängnis, in dem 350 bis 400 Häftlinge untergebracht waren, wurde von einem Hauptmann geführt, der jeden Morgen lediglich für eine halbe Stunde erschien, das Gefängnis inspizierte und seine Unterschrift gab. Die tatsächliche Führung lag in den Händen eines leitenden Unteroffiziers und eines Soldaten, die zusammen die sogenannte Rechtshilfe führten. Der eine war im Zivilleben Rechtsanwalt, der andere Rechtshelfer. Der leitende Offizier, der für die Einhaltung des Gefängnisrechtes zuständig war, hatte ihnen strikte Anweisungen bezüglich Rosa Luxemburg erteilt. Sie hatten insbesondere den Befehl, bei Besuchen und Spaziergängen immer selbst anwesend zu sein und weder den Stabsunteroffizier noch einen der Unteroffiziere damit zu beauftragen. Wegen der häufigen Einweisung und Entlassung von Tatverdächtigen, deren Akten von den beiden Männern aufbereitet werden mussten, was viel Zeit verschlang, belasteten die Rosa Luxemburg gewidmeten Stunden erheblich den vorhandenen Zeithaushalt. Da wir uns privat kannten und sie mir vertrauten, wurde ich nach einigen Wochen gebeten, sie gelegentlich bei Rosa Luxemburg zu vertreten. Bei mir an der Kasse arbeiteten schließlich vier Männer, und demzufolge war meine dauernde Anwesenheit nicht erforderlich. Es gelang ihnen, dass ich mein anfängliches Zögern – es war mir einfach peinlich, bei privaten Unterhaltungen zugegen zu sein und den Zerberus zu spielen – aufgab. Sie lobten Frau Luxemburgs Geschicklichkeit, die peinliche Seite dieser Situation vergessen zu machen. Ohnehin war ich nie dazu gezwungen, Konversationen über die Partei zu verbieten, weil Rosa Luxemburg über die Vorschriften Bescheid wusste und mit ihren Gesprächspartnern nie über politische Angelegenheiten sprach. Demzufolge habe ich mehrmals solchen Besuchen beigewohnt und auch mehrfach Rosa Luxemburg während ihrer Spaziergänge begleitet. Die meisten Besucher kamen aus Berlin; am häufigsten kam Frau Liebknecht. – Rosa Luxemburg machte auf mich einen außergewöhnlichen Eindruck. Einerseits war sie intellektuell ein Genie und gleichzeitig jedoch voller Güte und Mitgefühl für das Leiden jeglicher Wesen, Mensch oder Tier. Sie verurteilte alle Ungerechtigkeiten, die sie schmerzten, und zeigte ein vollendetes Taktgefühl. Das also war »die blutige Rosa«, wie sie in den Zeitungen oft bezeichnet wurde. Die Schärfe und die Verweigerung grundlegender Zugeständnisse, die [Rosa Luxemburgs] politische Reden und Schriften prägen, hatten zweifelsohne ihren Ursprung in ihrer Empörung über jegliche Ungerechtigkeit. Ich begriff schrittweise, dass sie intellektuell allen Parteiführern überlegen war, einschließlich Liebknecht, was ich später irgendwo [auch] las. Ich habe niemals mehr einen Menschen von einer solchen Größe getroffen. Es wird behauptet, dass ein genialer Mensch sich von anderen Menschen durch ein außergewöhnlich großes Gedächtnis unterscheidet, das es ihm ermöglicht, alle gewonnenen Eindrücke zur Geltung zu bringen; diese Dame schien ein solches Genie zu sein.
Bevor ich meinen Bericht fortführe, scheint es mir unabdingbar, Rosa Luxemburgs merkwürdige äußere Erscheinung zu beschreiben. Sie war ungefähr 45 Jahre alt, ihre geringe Größe ließ sie fast wie einen Zwerg aussehen, doch war sie kein Zwerg, da ihre Körperglieder und ihr Oberkörper ein normales Körpermaß hatten. Wahrscheinlich waren ihre Beine einfach nicht lang genug gewachsen. Die fast gebeugte Haltung verlieh ihr ein kräftiges Aussehen, das durch einen sehr großen Kopf verstärkt wurde, was die Disproportionen ihres Körpers [noch] beeindruckender aussehen ließ. Das Gesicht, sehr dem entsprechend, was allgemein als jüdisches Stereotyp verstanden wurde, spiegelte einen scharfen Intellekt wider; ihre harten Gesichtszüge ließen sie zweifellos älter aussehen, als sie in Wirklichkeit war. Ihr Haar war schwarz und graumeliert. Ihre Heiterkeit und Lebensfreude standen in absolutem Widerspruch zu ihrer äußerlichen Erscheinung, was sich auch in ihrem fast schon übertriebenen Kleidungsstil manifestierte.
Während ihrer Spaziergänge trug sie helle und duftige Sommerkleider, die ein zwanzigjähriges Mädchen hätte tragen können, fingerlose mit Hohlsaum dekorierte Handschuhe, einen breiten goldfarbigen Strohhut aus Italien, mit Blumen und mit einem himmelblauen Band geschmückt, welche in zwei Teilen auf ihren Rücken herunterfielen. Mit einer Hand hielt sie einen farbigen Sonnenschirm. Wegen ihrer geringen Größe, ihrer auffallenden Kleidung und ihrer gealterten Gesichtszüge war ihr Anblick so auffällig, dass die Leute sich umdrehten, wenn dieses sonderbare Paar – ich als 36 Jahre alter Unteroffizier und seine Begleitung – vorbeiging. Die Kommandantur hatte es verboten, mit ihr öffentliche Orte zu betreten, aber ich beachtete dies nicht. [Rosa Luxemburgs] größte Freude war, den Nachmittag mit Kaffee und Kuchen (nach deutscher Art) zu verbringen, worum sie mich übrigens gleich bat. Wir nahmen zuerst die Straßenbahn, um an die frische Luft zu fahren, und liefen danach ungefähr eine halbe Stunde lang, um ein Restaurant unter den Bäumen zu erreichen, in dem wir den traditionellen und reichhaltigen Café-Kuchen genossen. Sie verzehrte nicht nur das servierte Gebackene, sondern auch noch mitgebrachten Kuchen.
Wie ich schon erwähnt habe und nach allem, was [Rosa Luxemburg] während dieser wenigen Nachmittagsstunden äußerte bzw. fast schon lehrte, schien ihr Wissen in allen Bereichen grenzenlos zu sein, obwohl sie sich immer im freundlichen Ton ausdrückte und taktvoll zuhörte, was ich zu erwidern oder zu fragen hatte. Sie sprach »wie ein Buch«, das heißt, dass sie vermutlich alles wortwörtlich wiederholte, was sie gelesen hatte. Ihre Art, ihre Ideen vorzutragen, erweckte manchmal den Eindruck einer Vorlesung, wenn sie die wissenschaftlichen Informationen hintereinander aufzählte. Ihre Lieblingsbereiche, woran ich mich immer noch nach mehr als 30 Jahren erinnere, waren Pflanzenkunde, Zoologie, Malerei und Architektur. Da ich mich auch dafür interessierte, waren unsere Konversationen nicht nur ein Vergnügen für mich, sondern vermutlich auch für sie eine Anregung, weil ich ihren Ausführungen folgen konnte. Am meisten interessierte sie sich sicherlich für Politik, jedoch fürchtete ich, dieses heikle Thema zu erwähnen, so dass sie das Feingefühl bewies, sich dieser Thematik nicht anzunähern. Ich wusste aus einigen Berichten in der Presse, wieweit sie in der Lage war, sich während einer politischen Ansprache zu erzürnen und ihre Wut ausbrechen zu lassen, und es wäre von mir, meiner Meinung nach, nicht richtig gewesen, ihren Zorn während dieser friedlichen Sommernachmittage, die für Rosa Luxemburg eigentlich Entspannung und Ruhe bedeuteten, herauszufordern.
Die russische Revolution war im Gange. Ich hatte ein kleines Buch über sozialistische Ideen im XIX. Jahrhundert mit den Vorläufern Fourier, Proudhon, Bakunin, Lassalle, Marx, usw. gekauft, eines Tages bat ich sie, mir einige Informationen darüber zu geben, was ich gelesen hatte. Sie tat es mit einer brillanten Art während der für uns noch verfügbaren Stunde, und ich hütete mich, mit ihr über meine zweite Neuanschaffung »Das Erfurter Programm« von Karl Kautsky1 zu sprechen, da sie mir zuvor gesagt hatte, dass Karl Kautsky und seine Frau sie besucht hatten. Ich tat gut daran, mich nicht an die Politik heranzutasten. Denn als ich ihr eines Tages einen in der »Zukunft von Maximilian2 Harden erschienenen Artikel von Plutus, der Pseudonym von Georg Bernhard, über die soziale Wirtschaft zeigte – Bernhard wurde später Chefredakteur der »Vossischen Zeitung« – wurde sie beim Gedanken an diesen ehemaligen Sozialisten und heutigen Renegaten, der sich dem bürgerlichen Lager angeschlossen hatte, rot vor Zorn und Empörung. Natürlich wusste ich nicht Bescheid. Der schon erwähnte leitende Unteroffizier, der in der Rechtshilfeabteilung arbeitete und auch Rechtanwalt im zivilen Leben war, teilte meine Skrupel nicht und später im Herbst, als in Russland die bolschewistische Partei als Sieger hervorging, erzählte er mir, dass er sich mit Rosa gestritten hatte, weil er selbst ein überzeugter Demokrat war und ihr die in Petrograd von den Bolschewiki begangenen Gräueltaten gegen die »Bourjoys« (Bourgeois) vorgeworfen hatte. Sie hatte ohne zu zögern geantwortet, dass sie keineswegs mit diesen Maßnahmen einverstanden sei und dass sie in diesem Sinne schon Lenin und Trotzki über die deutsche Waffenstillstandskommission geschrieben habe. Sie erzählte ihm, dass Trotzki am Anfang der Verhandlungen über den Friedensvertrag von Brest-Litowsk den bevollmächtigten deutschen General Hoffmann gefragt habe: »Wie geht es meiner Freundin Rosa? Werden Sie sie bald freilassen?« Sie wurde tatsächlich einige Zeit später freigelassen.
Meine Gespräche mit Rosa Luxemburg waren demnach von Natur aus sehr friedlich und wagten sich nicht in die unangenehmen Bereiche der Politik. Wer nicht wusste, wer sie war, hätte glauben können, dass sie eine Gelehrte der Pflanzenkunde sei, denn sie sprach am liebsten und längsten über Pflanzen und Blumen. Ich glaube, dass sie in einer Wohnung in Berlin-Südende wohnte, um so nahe wie möglich an ihrem Garten mit ihren geliebten Pflanzen zu sein, in dem sie den ganzen Tag oder mehrere Stunden täglich verbrachte. Diese Liebe für Pflanzen wirkte auf mich wie eine Verzauberung. Während unserer Spaziergänge wurden jede Blume, jedes Gebüsch, jeden Grashalm, jeden Baum Thema längerer Erörterungen, nicht nur über diesen Gegenstand selbst, sondern auch über ihre Familie, ihre Eltern in den Tropen in Südamerika, Asien und Afrika und über die Pflanzenexemplare, die sie mir später im Botanischen Garten in Berlin zeigen würde, wenn ich sie besuchen kommen würde.
Sie sprach so präzise, so als ob sie Studenten lehrte – wie ich schon erwähnt habe –, darüber, welche Vögel wir trafen und welche Insekten unseren Weg kreuzten. Ihre Neigung zu Tieren äußerte sich rührend in ihrer Liebe zu einem Ziegenbock. Als wir für unseren ersten Spaziergang aus dem Eingangsportal gingen, sagte sie mir, dass sie bei jedem Spaziergang ihr Weg zuerst zu ihrem Ziegenbock-Freund führe. Jenes Tier wurde in einem kleinen eingezäunten und nur einige Quadratmeter breiten Garten festgehalten, der sich vor einem der hohen gleichförmigen Häuser befand, die an die Straße, in der das Gefängnis stand, angrenzten. Rosa Luxemburg kaufte zuerst in einem kleinen Laden einen Kohlkopf, den sie ihrem Freund Blatt für Blatt über das Eisengitter zum Fressen gab, was die neugierigen Kinder des Viertels belustigte. Gleichzeitig sprach sie zum Tier mitfühlende Worte wie zum Beispiel: »Armes Tier, du bist ein Gefangener wie ich!« Eine wunderbare Beschreibung Rosa Luxemburgs der duftenden und üppigen Pflanzenwelt auf Korsika – der Macchie – ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Sie hatte eine Weile in Paris gelebt und war mit Marcel Sembat nach Korsika verreist, was dazu führte, uns über das vor dem Krieg von 1914–1918 erschienene Buch von Sembat »Macht einen König, sonst schließt Frieden« zu unterhalten. Ich besaß nämlich das Buch, und sie gab mir so manche Erklärungen darüber. Wir tauschten unsere Erinnerungen über Paris aus, wo wir beide zur selben Zeit gelebt hatten. Sie hatte in der Rue St-Anne gewohnt und ihre Mahlzeiten in einem kleinen Restaurant in der gleichen Straße eingenommen. Wir amüsierten uns dabei, uns vorzustellen, dass wir uns dort wahrscheinlich ab und zu getroffen haben, da ich fast täglich in dieser Straße zu tun hatte. Sie hatte diese Straße ausgewählt, weil sie sich neben der Nationalbibliothek befand, in der sie arbeitete. Leider habe ich vergessen, was sie über Jaurès sagte. Sie wurde, so glaube ich, zu ihm eingeladen oder unternahm eine Reise mit ihm und seiner Frau. Noch heute bereue ich, dass ich sie nicht über Sprachen und ihre linguistischen Kenntnisse ausgefragt habe. Da sie über ein beachtliches Gedächtnis verfügte, muss sie mehrere Sprachen beherrscht haben. Ihre Muttersprachen waren scheinbar polnisch und jiddisch, denn als ich den von ihr mitgebrachten Kuchen mit dem aus der schlesischen Folklore bekannten Name »Babe« benannte, antwortete sie, dass der Name wahrscheinlich einen polnischen Ursprung habe, da er bei ihr [zu Hause] »Baba« genannt wurde. Die russische Sprache war ihr bestimmt auch geläufig. Sie hatte mir ein kleines Gedichtbuch in deutscher Übersetzung von einem Russen ausgeliehen, dessen Name mit der Silbe »enko« endete. Sie hatte ein mehrseitiges Vorwort dieses Buches geschrieben, was mich vermuten ließ, dass sie russisch beherrschte.
Das Vorwort war in einem exzellenten, klaren und konzisen Deutsch geschrieben. Trotz ihrer Universalität hat sie [offensichtlich] am liebsten in der Umgebung der deutschen Kultur gelebt. So war ihr Lieblingsdichter Eduard Mörike, dessen Gedichte sie immer bei sich in ihrer großen Handtasche trug. Wenn sie verhaftet wurde, und das geschah oftmals, las sie im Auto, das sie ins Polizeipräsidium oder ins Gefängnis fuhr, immer Mörikes Gedichte, um ihre Emotionen zu verbergen. Ihre Vielseitigkeit war so breit, dass sie sich auch für das Kochen und für Haushaltsfragen interessierte. Als eine gewisse Dame oder Fräulein namens Jacob aus Berlin zu Besuch kam, die sich bestimmt um ihre Wohnung in Südende kümmerte, sprach Rosa Luxemburg immer wieder über alle möglichen köstlichen Gerichte, die sie nach ihrer Entlassung zubereiten würde. Ihre besondere Freude schien im Backen und Kosten von Kuchen zu bestehen, und sie versprach mir, dass sie mich reichlich in dieser Richtung bewirten würde, wenn ich sie eines Tages besuchen käme.
Sie hatte immer Bücher um sich herum, und in ihrer Zelle war eine große Bücherkiste, über die sie oft sprach und die bis zum Rand, scheinbar ungeordnet und durcheinander, mit Büchern gefüllt war. Wenn sie während eines Besuchs die Konversation auf ein Thema gelenkt hatte, über das sie ein Buch anbieten konnte, fischte sie das betreffende Buch aus der Kiste, nachdem sie es nur ganz kurz gesucht hatte. So zeigte sie mir eines Tages Nachbildungen von Gemälden aus den Uffizien in Florenz, wo sie gewesen war und jedes Gemälde kannte, so dass sie mir erneut erstaunte Bewunderung für ihre immense Gelehrtheit einflößte. Schon früher hatte sie mich während eines Gespräches über unsere Erinnerungen an Paris mit ihren detaillierten Kenntnissen der Kunstwerke im Louvre und der französischen Maler im Musée du Luxembourg überrascht. Ein von ihr angesprochenes anderes Gebiet, woran ich mich noch erinnere, weil ich mich auch dafür interessierte, war die Architektur und insbesondere die Architektur in Rom. Sie hatte über die Radierungen des Kupferstechers Piranesi, von Meisterhand im 17. Jahrhundert angefertigt und die bedeutendsten Monumente und Gebäude Roms darstellend, gesprochen. Diese Radierungen hingen unter anderem in Goethes Geburtshaus und hatten beim Dichter den Wunsch geweckt, eine Reise nach Italien zu unternehmen.
Mehr als zehn Jahre später brachte mich Rosa Luxemburgs früherer Anstoß dazu, mir die vollständige Sammlung, von einer Kunstbuchhandlung veröffentlicht, anzuschauen und die schönsten dieser Radierungen zu erwerben.
Am Ende jenes Sommers, als die deutsche Krise sich ausbreitete, kamen dem leitenden Unteroffizier, der für die Rechtshilfe zuständig war, Bedenken über das von uns dreien (den zwei Juristen und mir) eingegangene Risiko [und die Gefahr], dass die Kommandantur erfahren könnte, dass ich diese beiden Männer ersetzt hatte. Er sagte uns, dass jeder von uns mindestens für vier Wochen wegen einer in der Armee begangenen Straftat ins Gefängnis gehen könnte. – Ich sah Rosa Luxemburg ein einziges Mal – bei ihrer Entlassung – wieder, die im Herbst war. Zwei Tage zuvor hatten die Zeitungen die Entlassung von Liebknecht in Berlin angekündigt, und es schien, dass ihre Entlassung bald folgen sollte.
Sie hatte ihre Wächterinnen, die inzwischen ihre Freundinnen geworden waren, dazu gebracht, Blumen zu lieben und einzupflanzen, und diese Frauen begleiteten sie in die Rechtshilfeabteilung, in der die gesamten Entlassungsformalitäten stattfanden. Man erzählte sich, dass die Kameraden der sozialdemokratischen Partei vor dem Gefängnis auf sie warteten, um sie in der Stadt zu einem feierlichen Empfang zu begleiten, bevor sie nach Berlin führe, wo sie mit Liebknecht die Führung der Partei und die Schriftführung der Zeitung »Die Rote Fahne« übernehmen sollte. Rosa Luxemburg war tief bewegt während ihrer Entlassung und strahlte vor Glück. Sie war ganz in Weiß, wie für eine Feier, gekleidet. Sie trug einen weißen Rock, eine taillierte Strickkostümjacke aus weißer Wolle und einen großen, hellen Hut. Sie hielt einen riesigen Blumenstrauß auf den Armen. Sie verabschiedete sich von uns dreien, den zwei Juristen und mir, die sie persönlich kannte, und wiederholte ihre Einladung, sie in Südende zu besuchen, wenn ich nach Berlin kommen sollte, um einen angenehmen Nachmittag samt Verköstigung mit Kaffee und Kuchen mit ihr zu verbringen.
Danach las ich fast täglich ihre Artikel in »Die rote Fahne«, die mir eine bis dahin unbekannte Seite von ihr offenbarten: Ihr Elan, ihre Entschlossenheit und ihr wunderbares Deutsch. Die beiden Juristen meinten, dass sie es vermutlich geschafft hatte, aus dem Gefängnis die Partei zu führen und genug Gelegenheiten gefunden habe, ihre Post heraus- und hereinzuschmuggeln und so die Zensur umgangen sei.
Einige Wochen nach ihrer Entlassung, am Tag der Novemberevolution von 1918, führte Paul Löbe – der sozialistische Breslauer Abgeordnete und später Reichstagpräsident – eine riesige Menge an, die die Gefängnistüre gewaltsam durchbrach und alle anderen Gefangenen befreite. Alle Fenster wurden zerbrochen und die gesamte Inventur wurde, sofern es nicht in der Wand verankert war, geplündert. Am folgenden Tag fand ich im aufgebrochenen Tresor einen beschädigten Gewehrkolben und ein verbogenes Bajonett. Doch dies sind Erinnerungen an die Revolution, die mit meinem Thema nichts mehr zu tun haben. Ich habe Rosa Luxemburg bei meiner letzten Reise nach Berlin nicht besuchen können, da die arme Frau zuvor in schrecklicher Weise von der Konterrevolution ermordet worden war, als sie in einem Auto vom Eden-Hotel bis zum Tiergarten abtransportiert worden war. Ihre Leiche wurde von der Lichtensteiner Brücke3 in den Landwehrkanal4 geworfen, nicht unweit der Stelle, an der Karl Liebknecht »auf der Flucht erschossen« wurde. Als ich später in Berlin wenige Schritte entfernt vom Tiergarten wohnte, hielt ich mich oft beim Spaziergang auf dieser Brücke zum Andenken an Rosa Luxemburg. […]
1 In der Originalfassung wurde Karl Kanstky geschrieben (S. 4).
2 In der Originalfassung wurde Maxililian Harden geschrieben (S. 4).
3 In der Originalfassung wurde „tchenbach“ geschrieben. (S. 8)
4 In der Originalfassung wurde „Landivchr-Kanal“ geschrieben. (S. 8)
Arthur Gertel war zugeteilt als Kassenführer des Militärgefängnisses während des Ersten Weltkrieges.
Der Bericht wurde Anfang der 1950er Jahre verfasst.
Übersetzung aus dem Französischen: Sabine Prudent 2018.