Gedenkworte an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg

Max Adler 1919

I.

Die Erinnerung an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg findet uns vereinigt, nicht nur, um das Andenken zweier Menschen zu ehren, die als Märtyrer der sozialistischen Idee gefallen sind, sondern mehr noch, um uns selbst durch die läuternde Macht, die von diesem Opfertod ausgeht, über alle traurigen Entzweiungen des sozialistischen Gedankens hinwegheben zu lassen in jene Sphäre, aus welcher alle Kraft und Einheit des Sozialismus allein gewonnen werden kann und aus welcher auch das Wirken jener Toten floß: in die Sphäre einer glutvollen Überzeugung und der todesmutigen Entschlossenheit, für diese alles zu wagen. Und in der Tat ruft der schreckliche Tod dieser beiden glänzenden Vorkämpfer des Sozialismus überall das sozialistische Gewissen wach. Denn es sind nicht allein die Empfindungen des Entsetzens über die Untat, die an jenen beiden begangen wurde, und auch nicht bloß die Gefühle des Schmerzes über den Verlust solcher Charaktergestalten, deren der Sozialismus unserer Tage leider nicht allzu viele aufzuweisen hat. Es ist vor allem der aufreizende Gedanke, daß nur der Tod dieser beiden Führer uns das unsäglich traurige Schauspiel ersparte, sehen zu müssen, wie sie beide in den Gerichtssaal geschleppt worden wären, um angeklagt und abgeurteilt zu werden von – Sozialisten.

     Gewiß, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind nicht ohne große eigene Schuld in diese Lage geraten. Aber diese Schuld wird ohne Zweifel von einer späteren geschichtlichen Würdigung, die nicht mehr durch die Leidenschaften und Vorurteile persönlicher Gegnerschaften beirrt werden wird, in hohem Maße entsühnt gefunden werden. Denn sie hängt eigentlich mit dem zusammen, was das große geschichtliche Verdienst der beiden Toten ausmacht, mit ihrem Idealismus und mit der Stärke ihrer Überzeugung von der Sieghaftigkeit des Sozialismus. Ihre Schuld war vor allem, daß sie gegenüber der hinreißenden Kraft ihrer sozialistischen Gesinnung alle entgegenstehenden Hindernisse für allzu gering erachteten. Ihre Schuld war, daß sie eine zu hohe Meinung von der bereits vorhandenen revolutionären Aufklärung und Entschlossenheit der Massen hatten, oder vielmehr ein allzu großes Vertrauen in die Macht der politischen Leidenschaft, diese fehlenden Energien hervorzuzaubern. Wir Linkssozialisten können die Wege, die beide in ihrem letzten Lebensabschnitt gingen, nicht billigen. Ja, wir beklagen es, daß so viel schöner Enthusiasmus und so unbändiger Wille wie in Liebknecht, so viel gefestigte marxistische Einsicht und Kritik wie in Rosa Luxemburg, doch zuletzt dahin abgeirrt sind, die sozialistische Bewegung in einen verderblichen Selbstwiderspruch zu bringen, indem sie das, was stets nur das Werk der ganzen Klasse des Proletariats sein kann, die Diktatur, durch den Willen eines Bruchteiles dieser Klasse der noch widerstrebenden Majorität aufzwingen wollten. So verwandelte sich bei ihnen die Diktatur des Proletariats in eine solche gegen das Proletariat. Aber wenn dies auch ein Irrtum war, furchtbar und folgenschwer, der den Sozialismus mit dem Makel eines von Arbeitern gegen Arbeiter angewendeten Terrors befleckte, so liegt doch auf der Seite der toten der große Vorzug, daß ihre Schuld nur der Irrtum des Revolutionärs war, der den trägen Widerstand der Dinge und Menschen übersah, während ihnen entgegenstand eine andere Schuld, die des Mehrheitssozialismus, die wahrlich niemals den Gefahren revolutionärer Fehlschüsse ausgesetzt war. Ja, man darf wohl sagen, daß es erst die jämmerliche Geistes- und Willensverfassung war, in welcher der Mehrheitssozialismus seine Massen danieder hielt: diese kleinliche Selbstgenügsamkeit an Gegenwartserfolgen, dieses ideallose Behagen an Machtgewinnung im Staate, wodurch doch am System der Klassenherrschaft selbst nichts geändert wurde, diese ganze realpolitische Meteorologie, den Mantel nach dem Winde zu drehen – kurz, daß es diese Herabziehung des revolutionären proletarischen Klassenkampfgeistes in diese Niederung bürgerlicher Anschauungs- und Empfindungsweisen war, was erst durch ihre Trostlosigkeit den Widerstand einer revolutionären Gesinnung bis zur Verzweiflung aufgipfeln mußte. Von da aus versteht man erst wirklich die Größe wie die Schranken an beiden so jäh Gefallenen.

     Seit dem Ausbruch des Krieges macht der Sozialismus eine furchtbare Krise durch; denn nun zeigte sich mit einem Male, daß sein mächtiger Körper, der vor Kraft und Lebensfülle zu strotzen schien und vor dessen Regungen die kapitalistische Welt bangte, keinen ebensolchen Geist beherbergte, so daß er krank und kraftlos war. Der unselige Krieg brachte der Welt nicht nur unermeßliches physisches Leid, Verwundungen und Ertötung aller Art, sondern vor allem auch eine seelische Verwundung, ja Ertötung, die um so grausamer war, als sie die Geister in ihrem hoffnungsfreudigsten Stolze traf, in dem Glauben an die Überwinderkraft des Sozialismus. An der Macht des internationalen Sozialismus, an dieser so großartigen Verbrüderung der Proletariate aller Länder, an dem revolutionären Einheits- und Zukunftsinteresse für die neue sozialistische Gesellschaft, die alle nationalen Verschiedenheiten der alten Gesellschaft weit unter sich ließ, an alledem mußten – so dachten wir alle vor dem Kriege – die alten Gewalten des Kapitalismus und Militarismus elend zuschanden werden. Und wenn sie selbst uns noch einmal körperlich zwingen sollten, so vermöchten sie es doch nicht, uns geistig zu brechen. Das Proletariat der Welt würde selbst im Kriege, wenn es noch einmal gezwungen worden wäre, sich im Felde gegenseitig zu bekämpfen, doch geistig über diesem Zwang stehen. Als Rebell, der stark und selbstbewußt weiß, daß ihm diese bürgerliche Welt keine Heimat, dieser Klassenstaat kein Vaterland ist und dieses ganz infame Privilegien- und Ausbeutersystem der herrschenden Ordnung nichts bedeutet, was es zu verteidigen hätte – in solcher unversöhnlichen Stimmung würde das Proletariat nur vergewaltigt am Kriege mittun, bereit, bei der ersten Gelegenheit dem Krieg durch seine internationale Erhebung ein Ende zu bereiten und unter den Trümmern der kapitalistischen Zwingburg sowohl den Krieg nach außen wie die Ausbeutung nach innen für immer begraben.

     Das war das leuchtende Bild, das jedem Sozialisten vorschwebte und vorschweben mußte. Was aber zeigte die Wirklichkeit? Was zeigt sie noch? Um diesen schrecklichen Abstand der Tatsachen von dem Ideal recht schmerzhaft deutlich vor Augen zu haben, darf man nicht nur an die deutsche Majoritätspartei denken, sondern heute, wo die Kriegsnot aller durch den Siegerübermut der einen Seite abgelöst wurde, vor allem an den Ententesozialismus, der in seiner Majoritätsrichtung nirgends die Kraft gefunden hat, sich von der Regierungspolitik zu trennen. Nach dem Ausbruch des Krieges hatten sich eben überall die sozialistischen Parteien, mit Ausnahme geringer Minderheiten, aus prinzipiellen Gegnern des Klassenstaates in seine eifrigen Verteidiger verwandelt. Die scheußliche Verblendung des Burgfriedens begann die Gehirne zu umnebeln und die Gefühle der Massen zu beirren. Mit trugvoller Berechnung wußte der Imperialismus gerade die Proletarier durch Aufstachelung ihrer an sich berechtigten Bestrebungen nach Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage auf seine Seite zu bringen, indem er ihnen aus dem Siege eine Blüte der Volkswirtschaft versprach, die sie gerade im Interesse des Sozialismus wünschen mußten. Und so geschah das Unglaubliche, daß zum ersten Male in der Arbeiterbewegung die Arbeiterklasse eines jeden Landes sich stärker an die kapitalistischen Herrenklassen der Heimat als an die Klassengenossen des „feindlichen“ Landes gebunden sah. Das große Wort des „Kommunistischen Manifestes“: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ verlor seinen Sinn, oder vielmehr, es erhielt eine unerwartete Ergänzung: „vereinigt auch mit euren Herrschenden zur gemeinsamen Ausbeutung der anderen, der Feinde!“ So wurde der Sozialismus zum Sozialpatriotismus und Sozialimperialismus. Weit entfernt, den Krieg als die Konsequenz und den Gipfelpunkt des Widerspruchs zu betrachten, in den der Kapitalismus das gesellschaftliche Leben verstrickt hatte, galt nun auch b ei dem Mehrheitssozialismus aller Länder nur die Parole vom Durchhalten bis zum sieghaften Ende.

     Nicht die Kreditbewilligung bei Kriegsausbruch war der eigentliche Sündenfall des Sozialismus. Denn in der gewaltsamen Situation, in der sich urplötzlich die Völker dank der teuflischen Regie der Regierenden und der völligen Absperrung vom Ausland als Opfer eines Überfall des feindlichen Imperialismus erblickten, war die Zustimmung zur Landesverteidigung fast eine physiologische Abwehrreaktion. Aber daß die sozialistischen Führer und Parteien auch nachdem die erste Überrumpelung vorbei war und die Kritik wider Raum gewinnen konnte, sich nicht dem Kriegsbann entrafften, sondern vielmehr immer tiefer in ihm versanken, immer mehr die Sache der Herrschenden zu der ihrigen machten und für Offensiven sich fast noch mehr begeisterten als die sie anführenden Militärs, deren Geschäft dies schließlich war – das schuf jene drückende Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, in der nirgends mehr ein Ausweg zu sehen war. Wo sollte auch eine Kraft gefunden werden, stark genug, diese tobenden Mächte der Unterdrückung und Eroberung zu bannen, wenn die einzige Macht, die ihnen hätte gewachsen sein könnte, die des internationalen revolutionären Proletariats, so kläglich versagt hatte? Die Kriegsfrommheit der Sozialdemokratie bildete im Gegenteil die Mauer, hinter der sich nun alle Volksfeindschaft und aller frecher Übermut der Herrschenden schrankenlos austoben konnten.

     Wie ein Weckruf in finsterer Nacht, der von den unruhig Schlafenden einen schweren Alpdruck hinwegnimmt, wie ein Pistolenschuß im Hochgebirge, der das Schweigen der Berge jählings mit lang nachhallendem, vielfältigen Echo unterbricht, so wirkte da plötzlich die Stimme eines Mannes, der im deutschen Reichstag bei der zweiten Kriegsbewilligungsdebatte furchtlos, umbrandet von dem Zorn und den Verwünschungen der bürgerlichen Abgeordneten, aber leider auch von dem Unmute so mancher, die sich seine Parteigenossen nannten, seine Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigerte. Dieser Mann war der Abgeordnete Karl Liebknecht und diese historische Tat geschah am 2. Dezember 1914. In der Erklärung, mit der er diese Stellungnahme begründete, schrie er es hinaus, daß dieser Krieg kein Volkskrieg sei, sondern ein imperialistischer Krieg, kein Verteidigungs-, sondern ein Eroberungskrieg, kein Kampf um Befreiung vom Zarismus, wie die deutsche, und auch nicht vom Militarismus, wie die westliche offizielle Presse es vorgab, sondern ein Streit um die Vormacht raubgieriger Bourgeoisien. Nicht der Sieg vermag diesem Krieg ein wirklich volksförderndes Ende zu setzen, sondern nur ein Friede der Verständigung, ohne Sieg und Niederlage, ohne Annexionen und Entschädigungen. Seit dieser kühnen Erklärung wurde Liebknecht nicht müde, die Kriegspolitik aufs erbittertste zu bekämpfen, besonders in den unter dem Namen „Spartakus“ erschienen Aufsätzen, wodurch er in immer stärkeren Gegensatz zu der alten sozialdemokratischen Partei geriet. Weder Drohungen und Beschimpfungen, noch Spott und Hohn, was alles ihm reichlich entgegengebracht wurde, konnten ihn an seinem Vorhaben irremachen. Und er wußte wohl, daß er ein gefährliches Unternehmen begonnen hatte. Denn trotz der Immunität, die ihm sein Reichstagsmandat gewährte, war er sich wohl keinen Augenblick im unklaren, daß die gewalttätige Natur des preußischen Militarismus vor dieser Schranke nicht haltmachen werde. Er mußte damit rechnen, daß er seit seinem mutigen Auftreten ein gezeichneter Mann war, und er sollte es nur zu bald erfahren.

     Karl Liebknecht hatte seinen Mut und seine Überzeugungstreue nicht erst im Kriege erwiesen. Er war, seit er politisch tätig war, ein glühender Hasser des Imperialismus und seines mächtigsten Instrumentes, des Militarismus, und er hatte wegen dieser Gesinnung schon einmal in das Gefängnis wandern müssen. Im Jahre 1907 wurde er wegen eines Buches, das er gegen den Militarismus geschrieben hatte, zu anderthalb Jahren Festung verurteilt. Nach Verbüßung dieser Strafe widerfuhr ihm die Genugtuung, daß er im Jahre 1912 in den Reichstag gewählt wurde. Hier benützte er jede Gelegenheit, um das herrschende System an den Pranger zu stellen und die schöne offizielle Phrase zu kompromittieren. In Erinnerung sind noch seine aufreizenden Enthüllungen, mit denen er den wahren Charakter des Rüstungskapitals, vor allem der Firma Krupp, aufdeckte, indem er Akten veröffentlichte, aus denen hervorging, daß diese Schwerindustriellen und Schwerreichen, die sich stets so viel mit ihrem Patriotismus brüsteten, Agenden in Frankreich und Rußland unterhielten, um durch diese die Kriegsgefahr zu schüren, damit sich für ihre Industrie die Absatzmöglichkeiten vergrößerten. Unermüdlich war er sowohl auf den Parteitagen wie in den Reichstagsverhandlungen in der Propaganda für Abrüstung, gegen die Bewilligung des Militärbudgets, für die Bekämpfung der Kolonialpolitik und des Imperialismus. Auf dem Parteitag in Chemnitz (1912), auf welchem in der großen Debatte über den Imperialismus bereits alle die schicksalsschweren Probleme zur Sprache kamen, die später die Partei so traurig spalten sollten, berührt Liebknecht bereits den springenden Punkt, von dem aus allein die sozialistische Lösung dieser Probleme zu erhoffen ist, indem er darauf verweist, wie nur die Bereitschaft des Proletariats zum internationalen Klassenkampf die Kriegsgefahr und damit die Zerreißung der Internationale wirklich besiegen kann. Man könne, führt er dort aus, den Imperialismus als ein kapitalistisches Geschäft auffassen. Dann sei es die historische Mission des Proletariats, durch seine Klassenkampfpolitik das soziale, politische und wirtschaftliche Risiko des kapitalistischen Konkurrenzkampfes derart zu erhöhen, daß die friedfertige Verständigung den herrschenden Klassen als das gesellschaftlich Zweckmäßigere erscheint. Leider mußte Liebknecht erleben, wie umgekehrt die sozialistischen Mehrheitsparteien sich überall an dem Geschäft des Imperialismus zu beteiligen suchten, woraus denn auch sich von selbst ergab, daß der Krieg an ihnen keine äußere Schranke und keine innere Hemmung erfuhr. Kein Wunder, daß Liebknecht von einer tiefen Erbitterung erfüllt war, die sich in dem Maße steigern mußte, als er sich von der eigenen Partei im Stiche gelassen, ja verlacht sah. Dies zeigte sich deutlich in der Isolierung, in die er nach seiner Abstimmung am 2. Dezember 1914 im Reichstag geriet. Denn er ließ es bei dieser Tat nicht bewenden. Von da ab beginnt sein unermüdlicher Kleinkrieg gegen die Regierung und die Kriegsparteien durch eine Fülle von Anfragen, Zwischenrufen und Protesten, in denen er fast allein im Volkshaus der durch ein beispielloses Zensursystem und Gewaltregiment niedergehaltenen Empörung der Unterdrückten etwas Luft zu machen suchte. In diesen Anfragen wirft er immer wieder die Frage auf, ob die Regierung zu Friedensverhandlungen auf dem Boden der Verständigung bereit sei; er urgiert die Veröffentlichung des gesamten diplomatischen Materials über den Kriegsausbruch; er verlangt die Feststellung der Verantwortlichkeiten und Bestrafung der Schuldigen. Wieder ein andermal fragt er, was die Regierung zu tun gedenkt, um die Demokratisierung der Verfassung zu bewerkstelligen; ob sie bereit ist, eine Vorlage einzubringen, durch welche die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Volke zugewiesen werde? Wieder ein andermal wünscht er zu wissen, ob die Regierung der großen Not des Volkes durch Beschlagnahme der Vorräte abhelfen will; was sie unter „Neuorientierung“ der inneren Politik versteht; wieviel Städte und Dörfer in den besetzten Gebieten verwüstet, wieviel Zivilpersonen umgekommen sind usw.

     In allen diesen Anfragen, die im Hause so viel Unwillen und gespielte Heiterkeit hervorriefen, entlud sich doch der Groll der sonst zum Schweigen verurteilten Massen. Und wenn man staunt, daß Liebknecht nur zu solchen Scharmützeln Gelegenheit fand und man eine große Anklagerede vermißt, in der er volle Abrechnung mit dem verbrecherischen System der kriegerischen Gewaltherrschaft gehalten hätte, so enthüllt sich hier ein Kapitel, das einen Schandfleck dieses „hohen Hauses“ darstellt,  in dem doch so viele Männer saßen, die sich auf ihre politische Anständigkeit und auf ihren bürgerlichen Freisinn so viel zugute taten. Regelmäßig wurde Liebknecht bei allen großen Debatten das Wort abgeschnitten. Selbst wenn er nur mehr allein auf der Rednerliste stand, wurde knapp vor ihm Schluß der Debatte angenommen, und es fand sich niemand, mit Ausnahme der engeren Gesinnungsgenossen, der diesem unwürdigen Spiel entgegengetreten wäre. Liebknecht war eben durch die Rücksichtslosigkeit seines Standpunktes, durch die Gradlinigkeit und Unerbittlichkeit seiner Anschauungen die gehaßteste Person bei allen bürgerlichen Parteien geworden, und auch bei den Parteigenossen hatte ihm die Strenge seiner Konsequenzen nicht überall Sympathie eingetragen. So war er ein einsamer Mann im „hohen Haus“. Seine Worte wurden entweder niedergebrüllt oder in jener schamlosen Heiterkeit begraben, mit welcher das eigene Schuldgefühl sich und anderen ein verlogenes Alibi vorzutäuschen sucht. Und es ist kein Zweifel, daß diese ungeheuerliche seelische Mißhandlung eines ernsten idealistischen Strebens Liebknecht immer mehr in das Gefühl der brückenlosen Zerfallenheit mit einer Welt treiben mußte, deren schleuniger Untergang ihm fast mehr noch wie die Aufrichtung der neuen sozialistischen Welt das nächste Ziel alles revolutionären Wirkens sein mußte.

     Ebenso sicher aber war es, daß die finsteren Gewalten dieser alten Welt nur darauf lauerten, beim ersten geeigneten Anlaß den kühnen Streiter zu Fall zu bringen. Dieser Anlaß fand sich am 1. Mai 1916. Als an diesem Tage Liebknecht in Berlin eine Straßendemonstration gegen den Krieg veranstaltete und Flugblätter verteilte, auf denen nichts weiter stand als „Nieder mit dem Krieg“, wurde er verhaftet, von den bürgerlichen Reichstagsparteien mit Wonne ausgeliefert und im geheimen militärischen Verfahren wegen Landesverrat zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Zwei Jahre dieser Strafe mußte er absitzen, bis ihn die Revolution aus dem Kerker befreite. Und mit dem Zuchthaus wurde ernst gemacht; denn der preußische Militarismus versteht keinen Spaß, wo es ihm an sein Leben geht. Liebknecht mußte in Sträflingskleidern einhergehen, Sträflingskost genießen und Sträflingsarbeit – er mußte die Schuhmacherei erlernen – verrichten. Denn so sehr die offiziellen Herrschaften es stets geliebt hatten, über Liebknecht als einen „Narren“ zu lachen, so wußten sie doch, daß die Massen draußen im weiten Reich und in den Fronten an diesem Mann hingen, daß sie mit fliegendem Atem und mit stürmischer Zustimmung die Anfragen und Proteste Liebknechts verfolgten, und mit mühsam verhaltenem Groll die schnöde Behandlung erduldeten, die diesem unermüdlichen Ankläger der Kriegspolitik widerfuhr. Und als sich nun die Tore des Kerkers hinter Liebknecht schlossen und jetzt das Schweigen noch drückender auf den Volksmassen lastete, da wurde der Name Liebknecht zu einem Symbol des Aufschreies gegen die Vergewaltigung der Menschheit durch den Krieg weit über die Grenzen seiner deutschen Heimat hinaus. Wo immer das Proletariat sich seine revolutionäre Gesinnung erhalten hatte, verehrte es in diesem Manne zusammen mit dem bald nach seiner Einkerkerung auftretenden Fritz Adler, die zwei Männer, die dem Sozialismus den Glauben an seinen Idealismus und an seine revolutionäre Tatkraft zurückgegeben hatten.

II.

     Die leidenschaftlichste Unterstützung fand Liebknecht nach seiner Haftentlassung an jener Frau, die den gleichen schrecklichen Tod wie er erlitten hat, an Rosa Luxemburg.

     Und doch zeigt diese ein so verschiedenes Charakterbild, daß auf den ersten Blick diese Kampfgemeinschaft verwundern könnte. War Liebknecht vor allem ein Gefühlsmensch, ein Mann, der aus seinem stürmischen Idealismus heraus seine Stellung nahm und festhielt, so war die Luxemburg in erster Linie ein Gedankenmensch, der die Dinge mit einer seltenen Schärfe der Analyse und Kritik beherrschte. Darum gehört sie auch zu den gründlichsten Kennern des Marxismus. Ihre zahlreichen Abhandlungen über die verschiedenen Probleme des Marxismus in vielen Jahrgängen der „Neuen Zeit“ bis zu ihrem letzten großen Buch über die „Akkumulation des Kapitals“, ihre Schriften über den Massenstreik und über „Sozialreform oder Revolution“ gehören zu den besten Werken der marxistischen Literatur. Mit Recht hat die Partei sie als Lehrerin in die Berliner Parteischule berufen, wo sie jahrelang wirkte. Aber mochte sich auch durch diese intellektuelle Grundstimmung ihres Wesens von der Gefühlsart Liebknechts abstechen, so verband sich doch mit dieser theoretischen Interessiertheit eine so glutvolle revolutionäre Energie, daß diese dem Enthusiasmus des Liebknechtschen Ideals nirgend hintanstand. Ja man kann sagen, der revolutionäre Wille war bei dieser seltenen Frau der Schrittmacher für ihr eindringendes und nie zu beirrendes Verständnis des Marxismus, was sich besonders in ihrer Stellung zur Polenpolitik zeigte. Wenn sie in ihrer berühmten Erstlingsschrift „Die industrielle Entwicklung Polens“, obgleich sie selbst Polin war, gegen den polnischen Nationalismus auftritt und mit glänzender Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung voraussagte, daß die ökonomische Entwicklung Polens die polnische Bourgeoisie dahinführen werde, den Anschluß an Rußland zu suchen, eine Entwicklung, die tatsächlich einsetzte und erst durch den Krieg unterbrochen wurde – so waren es in erster Linie ihre Wünsche, die russische Arbeiterbewegung durch die polnische verstärkt zu sehen und den Kampf gegen den Zarismus dadurch mächtig zu steigern, welche sie für diese Entwicklungstendenzen so hellsehend gemacht hatten. Eine unbändige revolutionäre Kraft lebte in dieser kleinen, schwächlichen Frau, die immer wieder trotz der vielen Spötter und Hasser, die auch sie hatte, auf den Parteitagen die Hörer unter den Bann ihres feurigen Temperaments zwang und die Widerstrebenden zu lauten Beifallsbezeichnungen hinriß. Dabei aber wär für sie charakteristisch, daß der Intellekt nie die Zügel über ihr Temperament verlor, so daß in die Glut der Revolution, die immer aus ihr sprühte, sie auch die Kühle der Überlegung mischte, welche bewirkte, daß diese Glut nicht zerstörend, sondern erleuchtend und erwärmend wirkte. Wie kam es, daß zuletzt dann doch gerade diese geistig so starke Frau in der letzten Phase ihres Lebens mit Liebknecht jene Politik des Spartakus machte, die als ein Verzweiflungsausbruch einer hoffnungslos gewordenen politischen Leidenschaft, nicht aber als die zielbewußte Politik überlegener marxistischer Erkenntnis zu deuten war?

     Man darf zunächst nicht übersehen, daß auch Rosa Luxemburg eine Märtyrerin ihrer Überzeugung war. Zu Beginn des Krieges saß sie im Gefängnis, um eine Strafe abzubüßen. Sie veröffentlichte dann unter dem Namen „Junius“ die ausgezeichnete Schrift über „Die Krise der Sozialdemokratie“, in welcher sie die Burgfriedenspolitik der Partei an den Pranger stellte und den tiefen Verfall ihrer Prinzipien schonungslos aufzeichnete. Von da aus schritt sie zu dem kühnen Unternehmen, in einer Zeitschrift „Die Internationale“ alle revolutionär gebliebenen Kräfte der Partei zu sammeln. Diese Zeitschrift wurde gleich nach der ersten Nummer unterdrückt, Rosa Luxemburg wurde in Schutzhaft genommen, in welcher sie bis zur Revolution verblieb. Diese jahrelange Gefangenhaltung mußte wohl auf den Nervenzustand der schwächlichen Frau nicht ohne Wirkung geblieben sein und sie, als sie nun mitten in der Revolution herauskam, leicht zu einer Überschätzung revolutionärer Möglichkeiten geführt haben. Aber vielleicht war auch hier wieder jene eigenartige Verbindung des revolutionären Willens mit dem Intellekt dieser ungewöhnlichen Frau am Werke. Dafür finden wir in ihrer glänzenden Schrift „Sozialreform oder Revolution“, die sie anläßlich der Bernsteinkrise im Jahre 1899 verfaßte und im Jahre 1908 in unveränderter Auflage neu herausgab, einen bedeutungsvollen Hinweis.

     In dieser Schrift, die besonders für unsere heutigen „Kommunisten“ sehr lesenswert ist, lehnt sie die revisionistische Anschauung ab, als könnten wir auf dem Weg der Sozialreform die kapitalistische Gesellschaft stückweise abbaue und so allmählich in den Sozialismus hineinwachsen. Dies sei schon deshalb unmöglich, weil alle Grundverhältnisse der kapitalistischen Klassenherrschaft, der Mehrwert, die Ausbeutung, die ökonomische Unfreiheit der Besitzlosen sich durch Gesetze gar nicht ändern lassen. Hier hilft nur die Eroberung der politischen Macht, um die kapitalistische Wirtschaft selbst umzugestalten. Als ein unentbehrliches Mittel dazu erkannte die die Demokratie. Denn die Ergreifung der politischen Macht durch eine ganze Klasse lasse sich nicht künstlich herbeiführen. Sie kann nur das Resultat eines bestimmten Reifegrades der ökonomisch-politischen Verhältnisse sein, und dadurch unterscheidet sich der moderne Sozialismus vom blanquistischen Putschismus, der an die Staatsstreiche einer „entschlossenen Minderheit“ glaube. Die Eroberung der politischen Macht könne nur durch die große klassenbewußt gewordene Volksmasse selbst erfolgen, welche sich durch den Kampf um die Demokratie für diesen Zweck organisiert und politisch aufgeklärt hat. Aber darum – und dies ist der entscheidende Gedanke, der uns die letzte Stellungnahme Rosa Luxemburgs vielleicht erklärt – ist die Angst so vieler Sozialisten, das Proletariat könnte zu früh zur Macht gelangen, unbegründet. Vom Standpunkt der gesellschaftlichen Voraussetzungen kann nämlich das Proletariat überhaupt nicht zu früh zur Macht gelangen, weil dies ja überhaupt nur möglich ist, wenn die Verhältnisse dazu reif geworden sind. Vom Standpunkt des politischen Effekts dagegen, das heißt in Bezug auf die Frage der sicheren Festhaltung der eroberten Macht, muß diese Eroberung notwendig zu früh erfolgen. Denn erstens ist eine so gewaltige Umwälzung, wie die Überführung der Gesellschaft aus der kapitalistischen in die sozialistische Ordnung auf einen Schlag ganz undenkbar; das Proletariat wird dabei mehr als einmal zurückgeworfen. „Zweitens aber läßt sich das verfrühte Eingreifen der Staatsgewalt auch deshalb nicht vermeiden, weil diese verfrühten Angriffe des Proletariats eben selbst ein sehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen des endgültigen Sieges schafft.“ Da also das Proletariat gar nicht imstande ist, die Staatsgewalt anders als „zu früh“ zu erobern, „so ist die Opposition gegen die verfrühte Machtergreifung nichts als die Opposition gegen die Bestrebung des Proletariats überhaupt, sich der Staatsgewalt zu bemächtigen“.  

     In diesem Gedanken lohnt die ganze revolutionäre Entschlossenheit der Arbeiterklasse, deren Interpretin Rosa Luxemburg stets gewesen ist, bezeugt sich der Heroismus des proletarischen Klassenkampfes, der zeitweise auch die Opfer der Rückschläge bewußt auf sich nimmt, wenn dadurch die Erreichung der eigentlichen Ziele der Bewegung gefördert wird. Von dieser Gesinnung durchflutet hat sich Rosa Luxemburg in die Spartakusbewegung gestürzt, in der sie das geeignete Mittel vermutete, selbst auf die Gefahr des Mißlingens die antirevolutionäre Denk- und Willensart des Mehrheitssozialismus zu durchbrechen. Sie verstieß damit aber gegen ihre eigene Erkenntnis, daß die Eroberung der politischen Macht nicht das Werk einer entschlossenen Minderheit sein könne; sie verließ den richtigen Weg der revolutionären Massenaufklärung, den die Unabhängigen gehen wollten. Sie und Liebknecht schwächten dadurch gerade die einzige Bewegung, die wirklich, wenn auch nicht in einem plötzlichen Ansturm, die Diktatur des Proletariats als ganzer Klasse hätten ermöglichen können, die Partei der unabhängigen Sozialdemokratie, da diese, zwischen die träge Masse des Mehrheitssozialismus und das lohende Feuer des Spartakus gestellt, um alle werbende Kraft kommen mußte. Hier war der Punkt, wo das Wirken von Rosa Luxemburg einen folgenschweren Irrtum in sich barg; die mangelnde revolutionäre Wucht der ganzen Klasse, die wohl selbst einen erfolglosen Vorstoß als einen Gewinn revolutionärer Entwicklung betrachten darf, ersetzen zu wollen durch die Energie eines bloßen Bruchteiles dieser Klasse. So mußte sie statt der Diktatur des Proletariats über die Bourgeoisie den Terror eines Teiles des Proletariats gegen den anderen Teil erleben. Aber sie beging diesen Irrtum vielleicht bewußt, sie sprang todesmutig in die Bresche, die der Sozialpatriotismus und die Revolutionsmüdigkeit in den Geist des Sozialismus gelegt hatte und suchte sie auszufüllen mit der ganzen wilden, aber auch opferbereiten Hingebung eines revolutionären Kämpferwillens.

     Übrigens gehört es zur geschichtlichen Gerechtigkeit, hervorzuheben, daß die beiden Toten, wie dies nicht selten in solchen Situationen vorzukommen pflegt, von ihrer eigenen Bewegung überrannt wurden, daß sie nicht so „spartakistisch“ waren wie ihre Massen. Das zeigte sich an einem entscheidenden Punkte, in ihrer Stellungnahme zu den Wahlen für die Nationalversammlung. Auf dem Parteitag der Spartakisten am 30. Dezember 1918 haben sich sowohl Liebknecht als Luxemburg für die Beteiligung an diesen Wahlen ausgesprochen. Die letztere zeigte sich noch einmal als die scharfe, unerschrockene und unbeirrbare Kritikerin, die den revolutionären Willen unter die Diktatur des Intellektes zu halten vermochte. Sie rief den Gegnern der Wahlbeteiligung zu, sie schätze wohl ihren Elan. Aber sie betrachte die Versammlung mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sie vermisse den erforderlichen Ernst und bemerke eine starke geistige Bequemlichkeit. Nachdenklichkeit und Ernst müsse mit revolutionärem Elan gepaart sein. Sie sehe eine große politische Unreife der Massen in Deutschland, die es nicht verstanden hätten, das Rätesystem aufzurichten. Es wurde gesagt: entweder Maschinengewehre oder Parlament im Sinne des alten Reichstages. Sie wünsche einen etwas tieferen, verfeinerten Radikalismus. Durch eine Nichtbeteiligung am Wahlkampf schalten wir eine große Masse des Proletariats für unsre Agitation aus. Und gegenüber dem hier einsetzenden Widerspruch des Parteitages, fügte sie hinzu, das sei kein Opportunismus. Sie stehe auf dem Boden der prinzipiellen Gegnerschaft zur Nationalversammlung. Die Frage ist nur, mit welcher Methode sie zu bekämpfen ist.

     Diese Worte der Mahnung aus solchem Munde sollten gerade ihren unbedingten Anhängern ein Vermächtnis sein; sie enthalten jedenfalls die beste und schärfste Kritik der nachfolgenden Ereignisse, denen Liebknecht und Luxemburg zum Opfer fielen. Nicht ohne tiefe Erschütterung lesen wir in einem der letzten Aufsätze der Luxemburg die Worte: „Der Diktatur des Proletariats, dem Sozialismus gehört der Tag und die Stunde. Wer sich dem Sturmwagen der Revolution entgegenstemmt, wird mit zertrümmerten Gliedern am Wege liegenbleiben.“ Sie aber, Liebknecht und Luxemburg, wollten diesen Sturmwagen noch voraneilen, als die ungestümen Rufer zum Kampf, als die ehernen Herolde und Wecker des Proletariats. Da – fuhr der Wagen über sie und begrub sie mit zuckenden Gliedern.

     Wir aber stehen an ihren Leichen mit der Empfindung einer großen Verarmung des Sozialismus. Ein Feuerstrom von Licht und Kraft ist erloschen, ein Glutherd revolutionären Empfindens erkaltet, mahnende Stimmen des sozialistischen Gewissens sind verstummt. Wie immer Liebknecht und Luxemburg in der Bewegung der letzten Zeit gefehlt haben, wie immer der düstere Abschnitt des Bruderkampfes seinen blutigen Schein auf ihr Andenken werfen wird – sie werden stets mehr als die Opfer einer Entartung des Sozialismus erscheinen, gegen die sie sich empört hatten. Sie mochten Unrecht haben, diese Aufbäumung bis zum Kampf mit den Waffen zu steigern, aber sie waren voll des guten Willens für die große Sache der Befreiung des Proletariats, voll des heiligen Überwinderwillens gegenüber dem Bösen. Und darum wird die Dankbarkeit und Verehrung des Proletariats stets die Kritik an ihrem Wirken überragen. Mit ihnen fühlen sich heute Millionen von Arbeiterherzen und Arbeiterköpfen dem Geist des Sozialismus enger verbunden als mit Ebert und Scheidemann. Und darüber darf auch der Millionensieg der Mehrheitssozialisten nicht täuschen. Denn nur eine Abstimmung gegen Spartakus und seine Methoden, nicht für Ebert und Scheidemann spricht aus dem Wahlresultat. Die Ausübung der Diktatur des Proletariats – dies mag einmal mit aller Deutlichkeit gesagt sein – kann gar keinen Differenzpunkt für wirkliche Sozialdemokraten bilden, so sehr der äußere Schein des Parteizwistes dagegen spricht. Auch wir möchten diese Diktatur lieber schon heute als morgen, und uns in der gründlichen Niederwerfung der Klassenherrschaft durch nichts behindern lassen. Nur darüber geht der Streit, ob die Diktatur etwas anderes sein kann als einfach der Ausfluß der ökonomisch und sozial vorherrschend gewordenen Macht des Proletariats sowie insbesondere dieser entsprechenden revolutionären Reife der Arbeiterherrschaft, oder ob sie selbst erst der hierzu noch unreifen und daher widerstrebenden Mehrheit der Arbeiterklasse aufgezwungen werden soll durch eine sogenannte „Initiativ-Minorität“. Und wird erst einmal der verhängnisvolle Irrtum dieser terroristischen Taktik eines Teiles des Proletariats, die sich fälschlich als Diktatur des Proletariats bezeichnet, aus dem Meinungsstreit des Sozialismus ausgeschieden sein, was im Zuge der Entwicklung liegt, dann wird sich das Andenken der beiden Märtyrer als unerschütterliche Vorkämpfer gegen Sozialpatriotismus und Opportunismus, gegen die Entmannung der Revolution und Verflachung des Sozialismus durch die Scheidemännerei mächtig aufrecken, und sie werden wieder lebendig sein in der dann stürmisch entfachten, aber nunmehr einigen revolutionären Kraft des Proletariats.

     Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – ihr sein in schrecklichem Zwist mit der Arbeiterschaft von ihr geschieden –, aber das Proletariat bewahrt über diese Entfremdung hinaus euch die Treue, die ihr dem Sozialismus stets bewahrt habt. Daß ihr gemordet wurdet, daß die ganze feige Niedertracht und brutale Rachsucht eines verendenden Systems euch niederschlug, so wie es den Sozialismus niederschlagen möchte, das hat in Millionen von Arbeitergemütern das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit euch wieder erweckt. Eure Lebensbahn ist jäh unterbrochen worden an einem Punkte, wo sie euch nur noch immer tiefer in einen tragischen Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit verstrickt hätte –, aber eure Wirksamkeit beginnt erst jetzt, wo die reinen und großen Motive hervortreten, die euch beseelten und eure Fehler überdauern. Diese Motive werden immer mehr von der Seele des Proletariats Besitz ergreifen. Sie werden seinen Blick klären, seine Tatkraft stählen, seinen Opfermut aufstacheln: Und das wird eure schönste Sühne und tiefste Rache sein.


Hier zitiert nach: „Vorwärts“, Wien V. Wien 1919, Verlag der Wiener Volksbuchhandlung Ig. Brand & Co., VI.