Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Gedächtnis

Paul Levi am 2. Februar 1919

Verehrte Anwesende! Es ist, als ob die Erde nicht satt würde des Blutes. Sie hat vier Jahre lang Blut getrunken, Blut um Blut. Die Proletarier sind gefallen auf der weiten Welt, in Rußland und in Frankreich, in Flandern und in der Ukraine, in den Wüsten Asiens und Afrikas, sie bleichen in den dürren Steppen Sibiriens, sie sind zugrunde gegangen millionenfach, gestorben, verdorben. Und immer weiter bleichen Leichen, und immer weiter fließt das Blut. Es waren junge arme Teufel, es waren schon ergraute Familienväter, es waren Männer in ihren besten Jahren, die von den Verbrechern in Europa hinausgesandt wurden, um ihr Leben zu lassen für Kapitalprofite, für Throne von Potentaten, für die Machtgier der Imperialisten aller Länder.

     Erinnern Sie sich, wie sie hinausgesandt wurden? Der Segen der Pfaffen und die Deklamationen deutscher Dichter, der Redeschwall der deutschen Professoren und das Gekläffe heimkriegerischer Redakteure geleitete sie. Und ach! in ehrlicher Begeisterung zogen wohl Hunderttausende hinaus; denn sie glaubten, was man ihnen gesagt. Sie glaubten, wenn man ihnen sagte, sie kämpften für Haus und Hof, sie glaubten, wenn man ihnen sagte, sie kämpften für ihre und ihrer Kinder Freiheit und glaubten, wenn man ihnen sagte, den ewigen Frieden sollten sie auf den Spitzen ihrer Bajonette nach Hause tragen.

     Und nun sind die Proletarier nach Hause zurückgekehrt. Vier lange Jahre haben sie das blutige Werk des Menschenmordes vollbracht. Und nun sind sie nach Hause zurückgekehrt. Frauen und Kinder sollten sie schützen? Ach, deren Wangen sind blaß und hohl, Arbeit und Hunger haben sie dem frühen Siechtum überantwortet. Haus und Hof wollten sie schützen? Und die Werkstatt, die sie verlassen, der Laden, den sie einst besessen: Sie sind leer. Dieweil sie draußen »verteidigten« gegen den äußeren Feind, kamen von innen Kriegswucherer und Kriegsschieber, um von innen den auszuplündern, der nach außen verteidigte. Kein Feind sollte das Heimatland betreten? Und über alle Schützengraben hinweg schritten die großen Würger Seuche und Tod und holten sich reichere Beute, denn je zuvor.

     Die Freiheit und den Frieden sollten sie schützen? Ja, das hatten die Proletarier geglaubt. Und wie sie draußen standen und dafür bluteten, ward zu Hause nur neues Joch aufgerichtet. Mit Schrecken hauste die Militärdiktatur, die Zuchthäuser und Gefängnisse füllten sich. Der Frieden entfloh immer weiter den unsinnigen Eroberungsgelüsten; je mehr die Proletarier für ihn kämpften, um so mehr schwand er, je näher sie sich glaubten, um so viel mehr war er fern: In langer, zäher und opferreicher Arbeit begann der Proletarier zu begreifen, daß er den Frieden und die Freiheit, die er brauchte, sich selbst holen mußte. Die deutsche Revolution brach aus.

     Kaiser und Könige flohen, Offiziere, die jahrelang Menschen wie die Tiere geschunden hatten, scherten sich zum Teufel. Der Krieg brach ab, die Proletarier kamen in hellen Scharen nach Hause.

     Hatten sie jetzt Frieden und Freiheit? Ach, nur ein Viertelstündchen lang hatten es die Millionen geglaubt. Und dann begannen sie zu erkennen, daß die Hohenzollern und die Offiziere nur ein Teil der Mächte waren, die sie, die Proletarier, in Banden geschlagen hatten. Die Jahrtausende alte Zwingherrschaft der Reichen über die Armen, der Besitzenden über die Nichtbesitzenden war geblieben. Die alte Unfreiheit, das alte Sklavenjoch war geblieben. Ja noch mehr. Die furchtbaren Lasten, die der Krieg gehäuft, lagen auf dem Proletariat. Die Armut legte sich auf seine Schultern, die ungeheuren Schulden des Krieges, hatte der Proletarier zu tragen. Es war fürwahr so: Wo er bisher einen Ziegelstein gestrichen, da mußte er jetzt zehn streichen, ward er bisher mit Ruten gezüchtigt, so sollte er jetzt mit Skorpionen gezüchtigt werden.

     Und wieder begann das Proletariat zu begreifen: Den Frieden und die Freiheit kann es sich nur erringen durch eigene Tat und nur durch eigene Tat gegen die, die ihm Frieden und Freiheit bisher gestohlen. Der zweite Krieg begann. Der Krieg nicht der Unterdrückten gegen die Unterdrückten, sondern der der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Der Sklave der Jahrtausende hat sich erhoben. Der Riese der sich Jahrtausende gebeugt, steht auf. Der, schon ehe er begonnen, die Besten aller Zeiten und Länder gefordert hatte, der Heilige Krieg begann.

     Verehrte Anwesende! Krieg ist nicht Krieg. Wie sind wir durch diese Jahre des Schreckens hindurchgewandert, die Menschen erschlugen, Häuser zerstörten, Städte verbrannten, blühendes Land in Wüsten verwandelten. Und doch wünschen wir diesen neuen Krieg. Denn dieser neue, heilige Krieg soll die Toten heiligen, die da hinabgesunken sind, soll die, die da sanken, wieder auferstehen lassen zum Leben. Denn dieser Krieg gegen die Unterdrückten: Das ist der Krieg dem Kriege. Der Krieg, den wir führen, ist das Leben der kommenden Geschlechter, der Krieg, den wir jetzt kämpfen:

     Es ist der letzte Krieg.

     In diesem Kriege, verehrte Anwesende, sind die gefallen, die da am 9. November starben und sterbend glaubten, der Welt die Freiheit gegeben zu haben. Sie hatten geglaubt, die blutige Soldateska, die ein schwindendes Kaisertum noch schützen wollte, habe ausgewütet. Doch da kam die »sozialistische« Regierung. Am 6. Dezember, als sie zum ersten Male auf den Straßen Berlins Blut fließen ließ, hat sie die Blutweihe empfangen. Sie hat im Blut zu wüten begonnen. Und sie hat weiter gewütet. Der 23., der 24. Dezember: ein neues Blutbad, wieder Dutzende von Leichen. Doch das Entsetzen kam erst. Die Woche vom 6. Januar: ein Morden und ein Wüten. Die Horden, die in Finnland und in der Ukraine mit Sengen und mit Brennen die proletarische Revolution niedergedrückt haben, werden nach Berlin berufen, um die eigenen Brüder, die Genossen, die Arbeiter von derselben Bank, die Proletarier, die da alle unter demselben Elend leiden, zu metzeln. Die deutschen Unterdrücker haben Glück. Sie haben fürwahr willige Schergen gefunden. Die Ebert und die Scheidemann haben ein Blutbad angerichtet so groß, wie keiner jemals der Hohenzollern es vermocht, ein Blutbad so groß, daß man bis zu den großen Menschenschlächtern des Altertums zurückgehen muß, um Gleiches zu finden. Sie haben gemordet und morden lassen, und ihr tückischer Stahl hat die getroffen, die wir heute beweinen. Viele Genossen, brave Genossen, Genossen, die in Treue ihre Pflicht getan, die uns Helfer waren. Viele bescheidene, brave Menschen, der Sache ergeben, gläubig an das Ziel, opferbereit im kleinen und opferbereit im großen, als es galt, das Leben zu opfern. Sie alle beweinen wir, und allen wollen wir heute in dieser Stunde unsern letzten Gruß und unser Gedenken widmen.

     Und doch, verehrte Anwesende, sind es zwei Namen. Ihr Körper liegt heute tot, gebettet neben anderen Toten, allen denen, die mit ihnen starben. Aber ihre Namen geben uns mehr. Es sind die Namen, die uns der Flamme gleich vorgeleuchtet haben in der Nacht und die dem Schwerte gleich uns vorgekämpft haben in der Schlacht. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Was sagt der starre Blick, was der von Schreck gelähmte Mund des Proletariers, wenn er von deren Tod hört? Daß er weiß, daß der Wille, der für ihn gewollt, daß das Hirn, das für ihn gedacht, heute nicht mehr sind. Was ist’s, wenn heute Millionen ihren Namen nennen? Es ist’s, daß die Millionen ihren Tod brauchten, um zu erkennen, welche Feindschaft gepflanzt sei zwischen sie und ihre Unterdrücker. Was ist’s, wenn die Proletarier aller Welt heute ihre Namen rufen? Es ist, daß die Toten heute zum Leben erwacht sind in den Herzen der Proletarier aller Welt.

     Nicht alles Sterben ist Tod. Der Knecht ist tot und ist vergessen. Die Mörder unserer Helden werden sterben, und keinen Hund wird man neben ihnen begraben.

     Die aber, die wir beweinen, werden lebendig bleiben in aller Herz und aller Mund. Ihre Namen werden verzeichnet stehen auf dem großen Altare, den einst eine freie Menschheit ihren Helden bauen wird. Und wie heute uns Kämpfern aus den Särgen, so werden dann von der Spitze des Altares den glücklicheren Geschlechtern, die daneben wandeln, so werden in fernen Aeonen noch wirken die Namen

    Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht

    Aber dieser beider Namen, die auf den Lippen einer Welt sind, müssen wir besonders gedenken. Sie starben einen schönen Tod, sie starben den Tod, der nicht die Knechtschaft bedeutete für ihre Brüder auf der Welt, sie starben den Tod für das Ideal, für das sie lebten vom ersten bis zum letzten Atemzuge, sie starben für die Befreiung des Proletariats. Und wie dieser Tod ein Leben beschloß, wie dieser Tod die höchste Krone eines Lebens war, dessen, verehrte Anwesende, müssen wir, glaube ich, in dieser Stunde gedenken.

    Rosa Luxemburg ist geboren am 5. Mai 1871 als die Tochter eines jüdischen Kaufmannes in Zamost in Russisch-Polen. Ihre Eltern lebten in ärmlichen Verhältnissen. Sie hat in ihrer Jugendzeit kennengelernt, was Armut heißt. Und doch eine seltene Armut! Denn trotz dieser Armut erhob sich ihre Familie merklich über das Niveau ihrer Umgebung. Es war nicht jenes dunkle, scheue Milieu, in dem ihre Glaubensgenossen dort in Polen zu leben pflegen, es war eine eigentümliche Umgebung von Geistigkeit in diesem niederen Hause. Es mag von seiten der Mutter gewesen sein, daß in dieser Familie ein Geist von Intellektualismus herrschte. Man sah in diesem Hause – trotz der Armut – auf irdische Güter nichtachtend herab, man zählte nicht Geld, sondern bildete den Geist, man sprach nicht jüdisch, sondern polnisch, und man las nicht den Talmud, sondern die deutschen Klassiker, Schiller und Goethe, und daneben die polnische Literatur.

    Es war ein armes Haus; doch man lebte darin ein selten enges, treues Familienleben, und namentlich zur Mutter scheinen die Beziehungen besonders herzliche gewesen zu sein. Wir wissen, mit welcher Zärtlichkeit Rosa von ihrer Mutter schrieb und sprach. Die Eltern wieder suchten ihren Kindern die beste Ausbildung zuteil werden zu lassen, die in Rußland möglich war. So kam Rosa auf das Mädchengymnasium in Warschau. Sie zeigte schon dort, in jüngsten Jahren, die Eigenschaft, die auch später jeden, der mit ihr in Berührung trat, in Erstaunen setzte: die Schärfe des Verstandes, die ohne Beispiel war. Sie war in allen Klassen der Schule die Jüngste und die Kleinste und nahm stets den ersten Platz ein und erhielt Belobigungen bis zur letzten Klasse. Man wollte ihr für ihre Leistungen die goldene Medaille verleihen – das war ihr erstes politisches Opfer: Die konnte sie nicht erhalten, weil sie politisch nicht als so wenig anrüchig erkannt wurde, wie man es in Rußland verlangte. Denn die Politik, die die Leidenschaft der damals aufwachsenden polnischen und russischen Generation war, hatte auch sie früh ergriffen. Zwar, als sie mit 15 Jahren das Gymnasium verließ, schien sie andern Zielen zuzuneigen. Sie hatte ein ausgesprochenes zeichnerisches Talent und beschäftigte sich mit Belletristik. Neben dieser damals mehr spielerischen Betätigung trat sie aber in eins jener politischen »Kränzchen« ein, die damals in Rußland und in Polen aufblühten. Dort las man zwar nicht sozialistische Schriftsteller, sondern die Schriften liberaler Politiker. Aber das genügte damals der russischen Polizei. Ihr »Kränzchen« wurde polizeilich ausgehoben; mit 18 Jahren mußte Rosa Luxemburg über die Grenze ins Ausland fliehen, und sie kam nach jener Stadt, die damals noch eine Asylstätte war für politische Flüchtlinge aller Länder: nach Zürich. Sie begann dort mit einem unregelmäßigen Universitätsstudium und studierte, wofür sie schon als Schülerin eine besondere Neigung und Begabung gezeigt hatte, Mathematik und Naturwissenschaften.

    Dort in Zürich fand sie zuerst die Wege zu den großen Gedanken des Sozialismus. Teils mag es der Verkehr mit polnischen und russischen Freunden gewesen sein, der ihr den Weg zeigte, teils aber vor allem auch der Verkehr mit einer Familie, von der ich glaube ein paar Worte sagen zu müssen: der Familie Lübeck. Die Lübecks waren arm, deutsche Sozialdemokraten, gleichfalls nach Zürich ins Asyl gegangen und von schwerem persönlichem Unheil dort verfolgt. Der Mann war in völliges Siechtum verfallen und lag gelähmt im Bette; er war des Schreibens nicht mehr fähig. Die Frau war in innere Konflikte gestürzt, war dem Familienleben entfremdet, die Familie bot ein Bild der Auflösung und der Zerrüttung. Dazu war noch eine Schar Kinder vorhanden. Da trat Rosa Luxemburg – erst nur als bescheidene Zimmermieterin – in jenen Kreis. Selbst war sie von Hause aus auch nur mit den geringsten Mitteln ausgestattet: Materiell konnte sie die Familie nicht stützen. Aber damals schon das Charakteristischste in ihrem Wesen: Von dem Augenblick ihres Eintritts in diesen Kreis an war sie die moralische Stütze der Familie, sie, die Kleine, war die Stärkste, die starke Seele, an der die andern sich aufrichten. Sie half dem schwerkranken Manne, der am Schreiben verhindert war, indem sie nach seinem Diktat schrieb oder für ihn schrieb, sie stützte die Frau in ihren Konflikten und hielt sie in der Familie, sammelte die Kinder um sich, baute wieder auf, was gefallen war, hielt die Familie wieder zusammen. Sie tat schon damals in kleinem Kreise, was sie später in großen Parteien tat: Ihre Seelenstärke erhob alle Schwankenden und Irrenden zu neuem, stetem, festem Leben.

    In diesem Hause und im Verkehr mit Lübeck fand sie auch den weiteren Weg, der sie zum Sozialismus hinführte. Den Sozialismus vermittelt hat ihr niemand: Sie hat ihn aus den Quellen geschöpft, aus den Werken von Marx und Engels selbst, die sie in jenen Jahren las.

    Die folgenden Jahre, von 1889 bis 1892, verbrachte sie, ohne systematische Universitätsstudien zu treiben, teils in Zürich, teils in Bern und teils in Genf, im wesentlichen mit Studien der sozialistischen und historischen Literatur beschäftigt. In jenen Jahren trat sie auch in Verkehr mit russischen Sozialisten, mit Axelrod und Plechanow zumal. 1892 kehrte sie wieder nach Zürich zurück, und dieses Jahr brachte ihren Eintritt in das politische Leben. Sie schloß sich einem kleinen Kreise polnischer Sozialisten an, Karski, Leo Jogiches und anderen Freunden, die ihr bis zum letzten Tage ihres Lebens treu geblieben sind, und unternahm es mit diesen zusammen, die polnische Bewegung zu beeinflussen, das Werk von Karl Marx in das politische Leben Polens einzuführen.

    Eine eigentliche marxistische Richtung war bis zu jenen Tagen in Polen nicht vorhanden gewesen. Was sich da als Sozialist ausgab, waren kleine terroristisch-konspirative Gruppen; eine auf die Bewegung und das Eigenleben der Massen gestützte Partei war nirgendwo. Vor allem war es eine Richtung unter Führung von Daszynski, die glaubte, auf dem Umwege über die Errichtung eines unabhängigen Polens zur sozialen Revolution in Polen zu kommen.

    Hier begann ihre Arbeit. In ihrem Kreise war sie sofort der geistig überragende Kopf; so erhielt sie den Auftrag, zum 1. Mai 1892 eine Broschüre zu schreiben.

    Diese Mai-Broschüren hatten eine besondere Bedeutung. In dem damaligen russischen Reiche war die Arbeitsruhe und Demonstration am 1. Mai die einzige Möglichkeit, bei der die sozialistischen Parteien ihre Kraft zeigen und entfalten konnten. Das war ein Gradmesser für die Stärke der Bewegung, ähnlich wie man in Deutschland die Reichstagswahlen für einen solchen Gradmesser gehalten hat. Ob dieser seiner Bedeutung wurde der 1. Mai stets mit einer besonderen literarischen Arbeit begrüßt, und diese Arbeit für 1892 sollte Rosa Luxemburg herstellen. Es war ihre erste politisch-literarische Arbeit und zugleich die einzige, die nicht gedruckt werden konnte – als sie das Manuskript ablieferte, stellte sich heraus, daß es, statt in Prosa, in Hexametern geschrieben war.

    Es war ein Kampf gegen eine Welt von Feinden, den Rosa Luxemburg damals begann. Im Jahre 1893 erschien die erste polnisch-sozialistische Zeitung, »Sprawa Robotnicza« ­– »Arbeitersache«. Ihr Erscheinen bedeutete den Beginn der Kämpfe innerhalb der Sozialdemokratie Polens. In Polen herrschend war damals die eben erwähnte Partei Daszynskis, die sich als nächstes Ziel die Aufrichtung eines national-polnischen Staates gesetzt hatte und diesen polnischen Staat als die Voraussetzung für die Befreiung des Proletariats betrachtete. Sie befehdete die neu aufkommende marxistische Richtung aufs bitterste. Und zunächst mit Erfolg. Im Jahre 1893 ward Rosa Luxemburg zum Internationalen Kongreß in Zürich delegiert und erlebte das Schauspiel, daß sie auf Antrag von Daszynski, unter Zustimmung übrigens der damaligen deutschen Delegation, von der Vertretung auf dem Kongresse ausgeschlossen wurde mit der Begründung, ihre Organisation sei eine Spitzelorganisation. Sie ließ sich nicht schrecken. Es mußte der Kampf um den Marxismus in Polen von Grund auf geführt werden. Rosa Luxemburg schrieb die theoretischen und historischen Arbeiten. In tiefgehenden Studien der Geschichte Polens legt sie theoretisch den Grund für eine marxistische Bewegung in Polen. Unter Aufzeigung des gesamten historischen Hintergrundes der polnischen Geschichte, unter Aufzeigung des sozialen Hintergrundes der polnischen Aufstände, unter Aufzeigung aller ökonomischen Entwicklungstendenzen der Gegenwart stellt sie die Frage, ob die Wiederaufrichtung eines polnischen Staates möglich sei, ob das Proletariat die Aufgabe habe, nationale Staaten zu begründen, oder ob nicht das Proletariat im engsten Zusammenhange mit dem russischen Proletariat gegen den Absolutismus und mit diesem zugleich gegen die Bourgeoisie kämpfen müsse. Sie arbeitete damals, 1895, in Paris, studierte dort in der Nationalbibliothek die Quellen über polnische Geschichte, und ihre Arbeiten fanden ihren Abschluß in zwei Schriften, von denen die eine theoretisch von grundlegender Bedeutung ist, die andere, praktisch-agitatorisch, den Abschluß bildet einer jahrelangen polnisch-journalistischen Tätigkeit; die eine: »Die industrielle Entwicklung Polens«, die andere – damals wurde das Wort geprägt: »Der soziale Patriotismus in Polen«, eine Artikelserie in der »Neuen Zeit«. Hier entwickelte sie das marxistische Programm für Polen.

    Der Kampf, der nach außen von Rosa Luxemburg allein geführt wurde, war nicht gering. Denn Daszynski stand nicht allein. Kautsky stand auf seiner Seite. Der deutsche Parteivorstand – damals die Weltmacht in der Internationale – deckte ihn und wandte sich gegen Rosa Luxemburg. Und doch blieb der Erfolg nicht aus. Im Jahre 1896, in drei Jahren, war das Werk der Begründung des marxistischen Sozialismus in Polen beendigt. 1896 erlebte sie bereits in London den Triumph, daß ihr Mandat auf dem Internationalen Kongreß anerkannt wurde, 1896/97 wurde der deutsche Parteivorstand erobert, 1900 erlebte sie in Paris den weiteren Triumph, daß die neue Richtung paritätisch mit der alten anerkannt, als gleichberechtigte Gruppe neben der Daszynskischen zugelassen wurde. Vor allem aber 1905 unter den Schlägen der Revolution fand die neue Richtung ihre Rechtfertigung vor der Geschichte: jene patriotische, nationalistische Richtung in der polnischen Sozialdemokratie wurde in der Revolution zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Unter den Schlägen der Revolution und unter den Schlägen der Agitatorin Rosa Luxemburg spaltete sich der soziale Patriotismus Polens und ist seitdem in Polen in Bedeutungslosigkeit verblieben, bis ihm die »Befreiertätigkeit« von Bethmann Hollweg und Beseler wieder eine um so schneller welkende Blüte brachte. Rosa Luxemburg hat der polnischen Bewegung immer die Treue bewahrt. Bis 1912 in regelmäßigen literarischen Arbeiten, und später noch, auch jetzt noch aus dem Gefängnis heraus, hat sie den polnischen Freunden geholfen. Gewiß, wie überall, so haben sich auch in Polen im Kriege die nationalistischen Schakale des Sozialismus wieder ans Licht gewagt. Aber die kommende Revolution in Polen wird auch dort siegreich sein gegen die Patrioten, sie wird aufmarschieren und siegen unter dem Banner, das Rosa Luxemburg der polnischen Sozialdemokratie gegeben hat.

    Sie selbst hatte, als im Jahre 1896 der schwerste Teil des Kampfes um den Marxismus in Polen gestritten war und als die theoretische Grundlegung vollendet war, sich mit dem Hauptteil ihrer Kraft neuen Aufgaben zugewandt. Sie hatte die Absicht, um der polnischen Bewegung eine größere Stütze zu sein, in die deutsche Partei einzutreten, und so beschloß sie, nach Deutschland zu gehen. Man war in ihrem Kreise in Zürich damals der Meinung: Wenn man in Deutschland in der sozialdemokratischen Partei etwas gelten wolle, müsse man ein Doktor sein. So begann also Rosa Luxemburg im Herbst 1896 regelmäßig das Kolleg zu besuchen, und am 1. Mai 1897 promovierte sie magna cum laude zum Doctor juris. Ihr Professor hatte summa cum laude beantragt, aber die hohe Fakultät war der Meinung, das sei für eine Frau zu viel. Damit war der eine Teil einer Existenz in Deutschland geschaffen. Ein anderer Teil war noch nötig. Um in Deutschland sozialdemokratisch zu wirken, durfte man kein Ausländer sein. Man mußte die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Nichts war leichter als das. In jener Familie Lübeck, von der ich sprach, wuchs eine ganze Schar von Söhnen auf, und Rosa Luxemburg ging mit einem dieser jungen Lübecks eine Scheinehe ein. Damit hatte sie die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Die Ehe wurde sofort wieder geschieden, und am Tage darauf reiste Rosa Luxemburg nach Deutschland ab.

    In Deutschland standen 1898 die Reichstagswahlen vor der Tür. So kam Rosa Luxemburg frisch in die Wahlbewegung hinein; ihre Tätigkeit war zunächst eine agitatorische, sie fand zunächst in Oberschlesien Verwendung im Dienste des polnischen Proletariats. Dann aber begann ihre bestimmende Tätigkeit in der Partei. Die Wahlbewegung ging vorüber, und mit einem Schlage stand sie so eigentlich auf dem Felde, auf dem sie am stärksten war: in der theoretischen Polemik. In diesem Jahre 1898 veröffentlichte Eduard Bernstein zuerst seine Aufsätze: »Probleme des Sozialismus«, die theoretische Begründung des Revisionismus. Das starke Gebäude der deutschen Partei, das bis dahin so mächtig und ohne Sprung zu sein schien, geriet in heftiges Wanken. Kautsky, der damals berufene Theoretiker, wurde unsicher, der Parteivorstand war schwankend geworden. Hier war Rosa Luxemburg im Großen das, was sie schon in dem kleinen Drama in der Familie Lübeck gewesen war: die Stütze aller Wankenden und Schwachen. Sie veröffentlichte in der »Leipziger Volkszeitung« eine Artikelserie »Sozialreform oder Revolution?« Diese Artikel waren eine Tat. Sie hatten einen doppelten Erfolg. Sie hielten die deutschen Parteiinstanzen und Theoretiker äußerlich auf der revolutionären Linie fest und machten die Verfasserin zur anerkannten Führerin einer Richtung. Sie hat damals dem Revisionismus in der Partei das Wasser abgegraben.

    Um jene Zeit wurden die beiden Redakteure der »Dresdener Volkszeitung« ausgewiesen, und Rosa Luxemburg wurde ihre Nachfolgerin. Sie blieb jedoch nur kurze Zeit in dieser Stellung und siedelte dann als freie Schriftstellerin nach Berlin über. Hier konnte sie noch einmal, in gründlicherer Form, die Polemik gegen Bernstein wiederholen, als er sein Buch erscheinen ließ.

    Inzwischen aber war dem Sozialismus eine zweite Gefahr herangewachsen. 1900 war Millerand in das Ministerium Waldeck-Rousseau eingetreten, und damit war in der Internationale die Frage nach dem Ministerialismus aufgerollt. Jaurès; der stärkste Kopf der französischen Sozialdemokratie, verteidigte den Ministerialismus, war für den Eintritt von Sozialisten in bürgerliche Ministerien, und der eben zerschmetterte Opportunismus in allen Ländern sog aus ihm neue Kraft. Vollmar verteidigte ihn ebenfalls in den »Sozialistischen Monatsheften«. Kein Gegner hatte sich in Deutschland gefunden; da trat Rosa Luxemburg auf den Plan. In fünf Artikeln in der »Neuen Zeit« hat sie den Kampf ausgetragen. Mit leichter Gebärde schob sie Vollmar beiseite und suchte den eigentlichen und stärksten Gegner in diesem Kampfe zu treffen: Jean Jaurès. Ihr Erfolg war, daß im Jahre 1904 auf dem Internationalen Kongreß in Amsterdam die Frage des Ministerialismus im revolutionären Sinne entschieden wurde und daß alles Leben, das der Opportunismus aller Länder dem Ministerialismus entnommen hatte, wieder erlosch. Jaurès war unterlegen und hat sich gefügt.

    Das Jahr 1905 bringt die russische Revolution. Sie beginnt mit jenem denkwürdigen Zuge der Petersburger Arbeiter unter Führung des Popen Gapon vor den Zarenpalast in Petersburg. Man stellte liberale Forderungen auf: nach einer Volksvertretung, nach Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit und wie die liberalen Forderungen alle heißen. In einer Artikelserie in der »Neuen Zeit« wirft Rosa Luxemburg die Frage auf: Welches ist die Aufgabe und das Ziel des Proletariats in der Revolution? Und sie hat die Frage so beantwortet, wie sie seitdem in Rußland sowohl wie in den revolutionären Kreisen der ganzen Welt beantwortet wird: Die Teilnahme des Proletariats an der Revolution hat zum Ziel die Diktatur des Proletariats. Sie hat mit dieser Arbeit nicht nur das theoretische Gerippe geschaffen für die russische proletarische Revolution, die im Oktober 1905 einsetzte, sondern theoretisch das Ziel gegeben für die revolutionäre Bewegung, in der wir augenblicklich stehen und durch die das Proletariat der ganzen Welt in diesem Jahre wird hindurchgehen müssen.

    Aber mit der theoretischen Führung wollte sich Rosa Luxemburg nicht begnügen. Trotz des Abratens und der Warnungen ihrer Freunde reiste sie im Dezember 1905 als Frau Matschke nach Warschau, stand dort in der Bewegung und wurde im März 1906 verhaftet. Sie blieb in Haft bis Ende Juni 1906, wo sie gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt wurde. Das Schicksal, das ihr blühte, war klar: Leo Jogiches, mit dem sie zusammen kämpfte, ist in jenen Tagen von den russischen Gerichten zu der höchsten zulässigen Strafe von acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden; das wäre ihr Schicksal gewesen. Sie ging nach Finnland und von dort über Schweden nach Deutschland zurück.

    Es galt, die Lehren auszumünzen, die die russische Revolution ihr und dem deutschen Proletariat gegeben hatte. Das geschah in einer umfangreichen literarischen Tätigkeit. Die erste Frucht war die in Hamburg erschienene Broschüre: »Der Generalstreik und die deutsche Sozialdemokratie«. Rosa Luxemburg brachte aus der russischen Revolution die neue Taktik mit, durch die allein das Proletariat seinen Befreiungskampf durchkämpfen kann: die Taktik der Massenbewegung, der Massenaktion, des Massenstreiks im besonderen. Von diesem Tage an, da sie diese Taktik verlangte, begann ihr gespanntes Verhältnis zu den »Instanzen«. Denn bei den deutschen Partei-Instanzen galt das Wort von Auer: »Generalstreik – Generalunsinn«. Die Partei-Instanzen fühlten, daß in den Massen ein Neues, Größeres, als es Parteisekretariate sind, ins Leben trat, und sie fürchteten das Neue. Sie fühlten, daß mit dem Eintritt der Massen in die Bewegung ein neues Element von so ungezügelter Gewalt käme, daß sie fürchten mußten, jene ungestümen Massen in ihrem instinktiven Wollen, würden das künstliche, aus Paragraphen und Mitgliedsbüchern aufgerichtete Gebäude zertrümmern. Und so bedeutete der Kampf für die Massenaktion zugleich den Kampf gegen die Partei-Instanzen. Sie hat damals trotzdem theoretisch die Partei beherrscht. Karl Kautsky wandte sich ihr zu, der damals sein Buch schrieb: »Der Weg zur Macht«, das einzige seiner Bücher, das heute noch andere lesen und das er schon vollständig vergessen hat. Sie führte den Kampf weiter auf den Parteitagen. Das Jahr 1910 brachte die Krise. Es kam die preußische Wahlrechtsbewegung, und in dieser Bewegung kamen zum ersten Mal in Deutschland die Massen auf die Straße. Herr von Jagow erließ seinen Erlaß: »Die Straße dient lediglich dem Verkehr«, der Parteivorstand kuschte, und alle Energie der Massen verpuffte ins Leere.

    Rosa Luxemburg zog die kritischen Folgerungen daraus, indem sie in einer Frankfurter Rede im Jahre 1911 scharfe Kritik an dem feigen Verhalten des Partei-vorstandes übte, und sie hat dann diese Kritik in drei Artikeln in der »Dortmunder Zeitung« wiederholt und noch verschärft. Von diesem Tage an gingen ihre Wege und die des Parteivorstandes auseinander. Die Geister schieden sich und auch für das theoretische Licht der Partei, für Karl Kautsky, war es eine Entscheidungsstunde. Unter dem Einfluß der russischen Ereignisse hatte er sich dem Standpunkt Rosa Luxemburgs genähert. Nun war er ebenfalls vor die Frage gestellt: für die Revolution mit den Massen, oder für den Parteivorstand mit den Mitgliedsbüchern? Er hat in seinen damaligen Artikeln über die »Angriffs- oder Ermattungsstrategie« die Entscheidung für den Parteivorstand getroffen und damit den Weg beschritten, der ihn mit dem Parteivorstand zum 4. August 1914 führte.

    An dieser Stelle möchte ich ein Wort widmen ihrer Tätigkeit an der von der sozialdemokratischen Partei gegründeten Parteischule. Sie war die beste Lehrerin, sie war der Kopf, der theoretisch führte, und das Temperament, das alle Hörer, alle Schüler hinriß, und ich glaube, es gibt im Leben von Rosa Luxemburg kaum ein schöneres Gedächtnis als das Jahr 1913, als Eduard Bernstein sie auch von diesem Posten zu entfernen suchte. Wie damals die Schüler Mann für Mann – es waren ja keine Knaben mehr, sondern erwachsene Männer –, die, die Anhänger geblieben waren, und die, die aus Schülern wieder Gegner geworden waren, Mann für Mann für ihre Lehrerin Rosa Luxemburg eintraten und so Zeugnis für sie ablegten, daß selbst ein deutscher Parteivorstand davon absehen mußte, sie zu entfernen.

    Es begannen neue Kämpfe. Die Zeit war eine andere geworden. Sie duldete keine Halbheiten und leeren Worte mehr. Am fernen Horizonte stiegen die ersten Wolken des Gewitters auf, das sich in diesem Kriege entladen sollte. Der Imperialismus war zur Frage der sozialistischen Politik überhaupt geworden. Rosa Luxemburg hatte sich als eine der ersten schon im Jahre 1905 mit dieser Frage beschäftigt und sie in ihrer ganzen Bedeutung erkannt. In den Jahren nach 1910 tritt sie in den unmittelbaren Kampf gegen den Krieg ein, der kommen mußte. Theoretisch und praktisch kämpfte sie. Theoretisch geht sie vor, indem sie den Imperialismus zergliedert in ihrem Werke von der »Akkumulation des Kapitals«, und praktisch in ihrem Kampfe gegen den Militarismus. Die eine Tätigkeit zog ihr die Angriffe aller Preßlakaien des Parteivorstandes zu, der den Imperialismus mit seinen Gefahren wegen der unvermeidlichen Folgen auf die Partei und deren politische Führung nicht sehen wollte, die andere die Verfolgung durch preußische Staatsanwälte. Jene endigte in giftigen Zeitungsartikeln, diese in Gefängnisstrafen. Im Herbst 1913 hielt sie wiederum in Frankfurt am Main eine Rede, in der sie den Proletariern die Gefahren zeigte, denen sie entgegengingen, und worin sie die Worte sprach: »Wenn uns zugemutet werden soll, auf unsere französischen Brüder zu schießen, so sagen wir: Nein, das tun wir nicht!« Das war ein Verbrechen, das dann von den Frankfurter Gerichten mit einem Jahr Gefängnis gerächt wurde. Sie ließ sich nicht schrecken. Unmittelbar im Anschluß an dieses Urteil neue Reden: die Reden gegen die Dramen des deutschen Militarismus, die sich Tag für Tag in den Kasernen abspielen. Der Staatsanwalt holt zu neuem Schlage aus, er will zu dem einen Jahr Gefängnis noch weitere hinzufügen. Es findet in Berlin der Prozeß statt, in dem der Staatsanwalt und die Welt die Stimme der Tausende hören sollte, die der Militarismus schon im Frieden zermalmte. Es kam nicht so weit, die politisch so fruchtbare Tätigkeit des Staatsanwalts fand ein frühzeitiges Ende. Der Krieg begann und es kam damit der Augenblick, in dem sich Rosa Luxemburg im Waffenbunde zusammenschloß mit dem zweiten, den wir heute betrauern und der mit ihr in den Tod gegangen ist, mit Karl Liebknecht.

    Karl Liebknecht: Sein Name ist dem deutschen Proletarier vertraut. Der Sohn von Wilhelm Liebknecht – das sagt dem deutschen Proletarier alles. Er ist am 13. August 1871 geboren. Als ihn die Mutter trug, flogen aus den Händen patriotischer Hunnen Steine an die Fenster des Vaters, des »vaterlandslosen Gesellen«, und als er zum Lichte kam, saß der Vater im Gefängnis. Er hat von Mutterleib und Kindesbeinen an das Martyrium für die Sache des Proletariats und der Arbeiterschaft gekannt und gelitten. Er machte die Schule durch, die in Deutschland nötig ist, um zu einem, wie man sagt, honetten Beruf zu kommen, besuchte Gymnasium und Universität, um Anwalt zu werden. Das bedeutete im damaligen Preußen während des langen Studiums Enthaltsamkeit von jeder politischen Betätigung. War es ihm doch als Sohn von Wilhelm Liebknecht schon nicht leicht, auch nur einen Oberlandesgerichtspräsidenten zu finden, der ihn als Referendar beschäftigte. 1899 war er Anwalt in Berlin, und alsbald beginnt seine politische Tätigkeit.

    Er war vielleicht einer der ersten, der erkannte, daß es für die sozialdemokratische Partei und für den Sozialismus gelte, ein ganz neues Feld zu bestellen: die heranwachsende Generation. Diesem Werke hat er sich von 1903 ab gewidmet. Er war es, der das Wort von der Proletarierjugend, der sozialistischen Jugend sprach, die in der Stunde schon, wo die Seele und das Herz sich bilden, nach den Idealen des Sozialismus gebildet werden müsse.

    Im Jahre 1904 wird sein Name zum ersten Mal weiteren Kreisen bekannt im Königsberger Prozeß, in jenem Prozeß, in dem preußische Staatsanwälte diejenigen, die von Deutschland aus gegen den Zarismus kämpften, den Henkern des Zaren auszuliefern und in Deutschland selbst gegen Deutsche das Henkerwerk des Zaren zu verrichten suchten.

    Schon im folgenden Jahre findet er die Note, die ihm eigentümlich war bis zum letzten Tage seines Lebens: der Kampf gegen den Militarismus. 1906 veröffentlichte er seine erste größere literarische Arbeit: »Militarismus und Antimilitarismus«. Das war der Beginn seines Martyriums. Es folgte ein Hochverratsprozeß. Der Reichsanwalt zog ihn vor das Forum des Reichsgerichts und hatte die Kühnheit, eine Zuchthausstrafe von 1½ Jahren gegen ihn zu erkennen. Zehn Jahre später, verehrte Anwesende, war das eine Selbstverständlichkeit und eine Alltäglichkeit; im Jahre 1906 ging bei diesem Antrage ein solcher Sturm des Unwillens durch Deutschland, daß auch ein Reichsgericht nicht den Mut fand, den Mann ins Zuchthaus zu senden, und ihn nur zu 1½ Jahren Festungshaft verurteilte. Jedoch ein preußischer Staatsanwalt ist zähe. War er schon in Festungshaft, sollte er auch noch aus der Anwaltschaft ausgeschlossen werden. Aber das war im preußischen Lande von damals zu viel verlangt. Die Anwaltschaft weigerte sich, dem Wink zu gehorchen, und auch das Reichsgericht wies das Verlangen zurück. Wenn man die Reden liest aus jenen Verhandlungen, so steht der ganze Karl Liebknecht schon so vor uns, wie er auch später vor uns stand, als der unerschrockene Kämpfer, der dem Staatsanwalt den Zuchthausantrag zurückgibt, der Kämpfer, der steht und ficht und keine Folgen fürchtet.

    Als er aus der Festung entlassen wurde und als die Partei in jene große Krise verfiel, die durch die Lehren der russischen Revolution heraufbeschworen ward, ging seine Entwicklung folgerichtig nach links. In den Jahren 1908, 1909, 1910, in den Kämpfen um das preußische Wahlrecht schließt er sich zum ersten Mal vielleicht in Gedanken an seine spätere Mitkämpferin in diesen Kämpfen an, indem er einer von denen war, die die Bedeutung der Massenbewegung, der Massenaktion für den Befreiungskampf des Proletariates erkannten.

    Die Jahre gehen weiter unter Kämpfen. Er tritt mit der Hartnäckigkeit und mit der Zähigkeit, die wir an ihm bewundern, mit unerschütterlicher Geduld und Ausdauer Jahr für Jahr auf den Parteitagen für seine antimilitaristische Propaganda ein. Er hatte ja schon auf dem Bremer Parteitag den Antrag gestellt, den Kampf gegen den Militarismus aufzunehmen. Es war schon bald ein widerliches Schauspiel, wenn die »Instanzen«, die Alten an der Spitze der Partei – man muß selbst den Namen Bebel in diesem Zusammenhange nennen – den Jungen beiseite stießen, weil sie die Macht und Gewalt des Militarismus nicht sehen wollten. Denn sie hatten ihr Parteigebäude auf dem Grundsatz der Legalität aufgebaut und wußten ganz genau: Kampf um den Militarismus, das ist Kampf um den Bestand des preußischen Staates, das ist der Kampf um den Sieg des Sozialismus überhaupt, das ist der Kampf, den man nicht führen kann mit legalen Organisationen und mit Mitgliedsbeiträgen, das ist die Notwendigkeit, alles zu wagen, selbst die »Organisation«; und das wollten sie nicht. Jahr für Jahr stellt Karl Liebknecht seine Anträge, Jahr für Jahr erhebt sich ein Mitglied der Parteiobrigkeit und erklärt, eine Agitation in den Kasernen unter den Soldaten, das sei doch ein gar zu gefährliches Ding, als daß die sozialdemokratische Partei es anfassen dürfte. So fand denn Liebknechts Wirken auch schon in diesem Zeitpunkt schon sein zweites Charakteristikum: Kampf gegen die Instanzen. Mit der Zähigkeit und Unermüdlichkeit hat er den Kampf geführt, Jahr für Jahr hat er die Anträge gestellt, Jahr für Jahr die strengen Verweise der hohen Parteiobrigkeit erhalten: Liebknecht war nicht zu schrecken.

    Im Jahre 1912 ist für Karl Liebknecht der Augenblick gekommen, in dem auch er unmittelbar in den Schattenkreis dieses Krieges eintritt, in dem sein Kampf gegen den großen Krieg begann. Er hat in jenen Tagen die Wege enthüllt, wie man Patriotismus macht und wie man Vaterlandsliebe mit Kapitalprofit verbindet. In der Vorgeschichte dieses Krieges wird der Kruppskandal mit das bedeutendste Kapitel sein. Es ist die Aufdeckung der geheimen Wege, auf denen die großen Rüstungslieferanten in den Ministerien gehen und bestechen; bestechen, um Aufträge zu erhalten, bestechen, um hohe Preise zu erhalten, bestechen, um Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen, bestechen, um Abnahmen zu erzwingen, bestechen und bestechen – Lug und Trug! Man erinnert sich der Enthüllungen Karl Liebknechts, wie das Kapital der großen Presse sich bedient, um Kriegsstimmung zu machen. Man erinnere sich des Briefes der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken an ihren Vertreter in Paris, er möge in die französische Zeitung »Figaro« einen Artikel lanzieren, der zum Kriege gegen Deutschland hetze, damit man in Deutschland Agitationsmaterial für die Wehrvorlage habe, die damals in Aussicht stand. Liebknecht hat den Wucher um Geld und Menschenfleisch aufgedeckt, er war unmittelbar hineingerissen in den Kampf um den Krieg. So kam er im Kampfe um den Krieg schon unmittelbar mit Rosa Luxemburg zusammen, wenn er auch von anderm Wege her kam. Dann, im August 1914, als der Krieg begann, führte der sie beide zusammen auf der Straße, die ja vor unser aller Augen liegt und unser aller Gedächtnis noch offen steht. Es fällt schwer, das Wirken unserer Toten zu schildern in dieser Kriegszeit, da sie uns allen erst recht lebendig geworden sind. Es war das trübste und doch erhebendste Kapitel der deutschen Arbeiterbewegung, das nun begann: die schwerste und, glaube ich, für die, die sie miterlebten, doch die erhebendste Zeit: die Zeit des Kampfes unter dem Kriege und gegen den Krieg.

    Ja, an jenem 4. August ist für uns Sozialisten Unerhörtes geschehen. Die Internationale, der Glaube des Proletariats der ganzen Welt, daß seine Kraft dieses letzte Verbrechen des Kapitalismus verhüten könne, brach auseinander, klirrend wie Glas. Und der sie zerschlagen hat, das war die deutsche Partei. Ja, man muß erkennen, was die deutsche Partei war, um die Größe ihres Verbrechens zu erkennen. Der deutsche Parteivorstand, was war er gewesen! Die deutsche Partei, was war sie gewesen, was bedeutete sie in der Internationale! Sie war die größte Partei. Sie galt als die Lehrmeisterin des Proletariats in der Welt. Ihre Organisation galt als mustergültig, sie hatte die größte Presse, sie hatte die umfassendste Agitation, sie hatte die meisten Stimmen, die Zahl ihrer Parlamentssitze war unerreicht, sie hatte den ungeheuren Apparat und sie galt als die Trägerin der reinen Lehre, sie galt als die sichere Führerin des Proletariats im Kampfe gegen die Schrecken des Imperialismus. Ihre Mitgliederzahl überbot jeden Vergleich. Sie war der Hort des Glaubens aller Proletarier an die nahe Befreiung. Sie bestimmte die internationalen Kongresse. Sie hatte tausendmal dem Staate die Todfeindschaft geschworen. Ihr Kampf gegen den Krieg galt als beispiellos. Hatte doch Herr Scheidemann noch im Jahre 1913 in der Salle Wagram in Paris erklärt: Die deutschen Arbeiter werden auf ihre französischen Brüder nicht schießen, und war es doch noch am 1. August 1914, daß Herr Hermann Müller in Paris erklärte: Die deutsche sozialdemokratische Fraktion denkt nicht daran, die Kredite zu bewilligen.

    Und dann geschah das Unerhörte: Mit einer Skrupellosigkeit und Frivolität ohnegleichen brach die deutsche Regierung einen Krieg vom Zaun, und die deutsche Sozialdemokratie brachte das Ungeheuerliche fertig: den schmählichsten Angriffskrieg, den blutigsten Eroberungskrieg, das gemeinste Verbrechen, das die Weltgeschichte je gesehen hat, die deutsche Sozialdemokratie nimmt es auf, die deutsche Sozialdemokratie lügt den schamlosen Raub- und Angriffskrieg um in einen Verteidigungskrieg, in einen Krieg zur Verteidigung der heiligsten Güter des deutschen Proletariats, sie stellt sich hinter die deutschen Imperialisten, – und das deutsche Proletariat, zum Teil befangen von dem Taumel jener Tage, zum Teil weil es der Führung der Sozialdemokratie vertraute, es folgt.

    An jenem Tage war eine Welt zerschlagen. In jenen Tagen brach die zweite Internationale zusammen. Sie zersprang mit allen ihren Beschlüssen und Konferenzen, und das Proletariat der Welt war um eine Illusion ärmer.

    In jenen Tagen, verehrte Anwesende, begannen die ersten Sozialisten in Deutschland sich wieder zu sammeln. Sozialisten mußte man in der Tat suchen, sie waren spärlich geworden in Deutschland, und in der Welt draußen wußte man kaum von ihnen. Der deutsche Parteivorstand bekam die Schamlosigkeit fertig, seine Mitglieder in die Schweiz zu delegieren, um dort für die »gerechte« deutsche Sache zu werben, um mit den Weißbüchern der deutschen Regierung in der Hand den »Überfall« auf Deutschland zu beweisen, um mit dem »nahen deutschen Sieg« in der Welt herumzurenommieren, um dem internationalen Proletariat zu beweisen, daß es für die Internationale nur eine Pflicht und einen Segen gebe, den Sieg Wilhelms des Zweiten von Hohenzollern so rasch wie möglich herbeizuführen.

    Damals erfolgte gegen diese Arbeit dieses Parteivorstandes der erste Protest in der »Berner Tagwacht«. Dieser Protest zeigte der Welt zum ersten Male, daß es noch Sozialisten gab in Deutschland. Der Protest war mitunterzeichnet von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Sie beide waren wieder die Führer vom ersten Tage an. Rosa Luxemburg war die Seele, die führte, und Karl Liebknecht war der Hammer, der schlug. Sie war der Gedanke und er der starke Arm.

    In dieser Zusammenarbeit sind sie weiter gegangen, zunächst zum 2. Dezember 1914. Das ist der Tag, an dem Karl Liebknecht sich die Unsterblichkeit erworben hat. Es war der Tag, an dem er im Deutschen Reichstage aufstand und nichts anderes sagte als: Nein. Was ist dagegen alle Größe von Bekennermut, die wir in der Geschichte finden! Was war ein Luther, der einst sprach: Hier stehe ich – der mit sicherem Geleit auf einen ruhigen Kongreß gekommen war zu einer Disputation und wußte, daß er wieder nach Hause käme! Wenn ich ein Maler wäre, so würde ich Karl Liebknecht malen, wie er an diesem Tage stand: Mutterseelenallein in einem kleinen Kahn auf hoher See und um ihn her die tosenden Gewitter, das Heulen des Sturmes und die brechenden Wogen – und in all der Wüste und all dem Lärm und Geheul der eine Mann, der sich nicht fürchtet und sagt: Nein! Wo ward je in der Geschichte solche Stärke des Glaubens, solche Unerschrockenheit und solche Unbeugsamkeit des Willens gesehen, wie an jenem Tage, da Karl Liebknecht dies eine Wort sprach! Es war eine Tat, ungeheuer an Mut und ungeheuer an Wirkung. Er hat mit diesem Worte eine Welt neu geschaffen. Denn, verehrte Anwesende, die Welt, die gebildet gewesen war von dem Glauben des Proletariats an seine Kraft und seinen Sieg, diese Welt, die am 4. August in Trümmer ging, ist am 2. Dezember wieder erstanden; an jenem Tage hat Karl Liebknecht in den Proletariern der Welt den Glauben wieder erweckt, daß über allem Gemetzel, über allem Blut und allen Leichen es ein Höchstes gebe, das aller Not und allem Leid ein Ende machen würde: die Verbrüderung aller Proletarier der Welt.

    Der Kampf ging weiter, und es begann die Sammlung der Anhänger im Reiche. Es war im Februar 1915, da trafen sich hier in Berlin zum ersten Male die Vertreter jener kleinen Gruppen, die draußen im Lande noch dem Ideal des Sozialismus treu geblieben waren. Gleichfalls im Februar 1915 war es, als Rosa Luxemburg zum ersten Mal auf ein Jahr ins Gefängnis gesteckt wurde. Schon vorher hatte sie den Plan gefaßt, eine neue Zeitschrift, »Die Internationale«, herauszugeben. Aus dem Gefängnis heraus hat sie die letzte Hand an das Werk gelegt, das erschien und am Tage des Erscheinens verboten wurde. Zwei Monate später schon sandte sie aus dem Gefängnis die unter dem Pseudonym Junius erschienene Broschüre: »Die Krise innerhalb der deutschen Sozialdemokratie«. War Karl Liebknechts »Nein« die Tat des Willens, so war dies Buch die Tat des Geistes zur Wiedererweckung des Sozialismus. Wie das Buch, das während des ganzen Krieges die propagandistische Grundlage für unsere Tätigkeit gewesen ist, so wird es unter den kühnsten Streitschriften aller Zeiten und Länder als ein Juwel bleiben.

    Karl Liebknecht ist weiter in der Agitation tätig, von geheimer Versammlung zu geheimer Versammlung, bis er zum Militär eingezogen wird, selbst dann die Urlaubszeiten während der Einberufung des Reichstags ausnutzend zu neuer Agitation, Flugblätter und wieder Flugblätter hinaussendend – und neben ihm Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis heraus unermüdlich schreibend, bis die Tage ihrer ersten Haft vorüber waren. Im Februar 1916 ward sie zum ersten Male aus dem Gefängnis wieder entlassen.

    Es kam der 1. Mai 1916, die erste Massendemonstration während des Krieges. Es war der Tag, da Karl Liebknecht mit seinem Mut, den Mächtigen des Tages sein: Nieder die Regierung, nieder den Krieg! entgegenrief. Es war der Tag, auf den die Bourgeoisie gelauert hatte. Er war ihr so furchtbar geworden, der eine Mann im Reichstag, der in Zwischenrufen schärfste Kritik übte an all den Verbrechen der Regierung, der Mann, der in kleinen Anfragen immer wieder die Zange ansetzte, der immer wieder bohrte, immer von neuem versuchte, den Keil in jenes starre Gebäude des Zwanges zu treiben, das aufgerichtet war, der Mann, der sich nicht schrecken ließ, war er gleich verfolgt verlästert, nicht nur im Reichstage, selbst in der eigenen Fraktion, wo er beschimpft wird als »Schuft« und »Landesverräter« und wo man gerade durch Beschimpfung dieses Mannes der Regierung das eigene Renegatentum gefällig machen will. Es war der Tag, auf den die Bourgeoisie gelauert hatte, um dieses Mannes ledig zu werden. Er wird am Abend des 1. Mai verhaftet, und Sie kennen die Geschichte, wie sie endigte: 4½ Jahre Zuchthaus und die üblichen Nebenstrafen, Ehrverlust und alles andere. Die Akten aber jenes Prozesses werden Sie in diesen Tagen erst kennenlernen, und diese zahllosen Eingaben, sie werden Zeugnis ablegen von allem Mut und allem Stolz, aller Kühnheit und Unentwegtheit, die in jenen Tagen hinter den Mauern des Gefängnisses verschlossen ward.

    Rosa Luxemburg arbeitet weiter. Sie wird im Juli 1916 von neuem verhaftet, in Schutzhaft genommen auf unbestimmte Dauer; sie arbeitet aus dem Gefängnis weiter. Es war die Zeit, da die Spartakus-Briefe geschrieben wurden, die ja zum überwiegenden Teile aus ihrer Feder stammen und die selbst durch die dünnen Ritzen der preußischen Gefängnisse hindurch ans Licht kommen konnten. Unermüdliche Arbeit: die Ausarbeitung der Leitsätze für die neue Internationale, neue Wirkung für die Agitation, neue Gedanken, neue Worte, neue Analysen der Situation, ungeheure Arbeit, geleistet unter dem Druck des preußischen Belagerungszustandes und geleistet aus preußischen Gefängnissen heraus!

    Die Revolution brachte beiden die Freiheit. Karl Liebknecht ward noch von der alten Regierung »begnadigt«; Rosa Luxemburg kommt wieder zurück, als der Tag der Revolution angebrochen war. Und dann beginnt das Wirken jener allerletzten Zeit: Rosa Luxemburg theoretisch führend und wegweisend vom ersten Tage an; der leitende Gedanke, ausgesprochen einst von ihr in der russischen Revolution, ist: Das Ziel dieser Revolution kann nur sein und muß sein die Diktatur des Proletariats.

    Und Karl Liebknecht, unermüdlich tätig in der Agitation, von Versammlung zu Versammlung, von Demonstration zu Demonstration, keine Ruhe, bei Tag nicht und bei Nacht. Die »Rote Fahne« erscheint, und wir, die wir mit diesen beiden zusammen an diesem Blatte wirken durften, können nur Worte des Dankes aussprechen, die schwache Abbilder alles dessen sind, was wir empfinden. Sie haben uns Unendliches gegeben, uns persönlich und unserer Sache, und wir wissen nicht, wie wir das Werk, das sie geschaffen, mit unsern schwachen Händen weiter führen werden. – Die Revolution zieht weiter ihre Straße, die Straße, die gesäumt ist von Meilensteinen; und jene Meilensteine sind die Leichenhügel. Leichenhügel, die die Bourgeoisie aufwirft, die aufgehäuft worden sind am 6. Dezember, am 23. Dezember und in der Spartakuswoche des Januar 1919, und die weitergehäuft werden, so lange es nach dem Willen der Ebert-Scheidemann und ihrer Herren geht.

    An Menschen haben uns in jenen Tagen die Mörder das Beste geraubt, was sie uns rauben konnten; aber unsere Sache ruht nicht auf Menschenhänden und Menschenaugen. Die Gedanken, für die jene lebten und für die sie starben, sie kommen aus dem Urgrund alles Menschentums und sie können nicht besiegt und können nicht unterdrückt werden, auch nicht von Ebert, Scheidemann und Noske, auch nicht von Kanonen und Maschinengewehren.

    Die Bourgeoisie konnte nur das Verbrechen verüben; sie hat die Welt hineingeführt in diese Qual, in dieses Chaos, in diese Anarchie. Wir werden herausmarschieren – aufrecht, mit flatternden Fahnen, wenn der, der das Verbrechen verübt hat, kraftlos am Boden liegt. Wir werden herausmarschieren stolzen Schrittes, denn wir wissen: das Heil und die Zukunft der Menschheit ruht in dem Siege unserer Fahnen.

    Und in jener Stunde des Sieges werden wir noch einmal zurücksehen müssen auf alle die, die für uns gelebt haben, die für uns gestorben sind. Sie starben ja alle im Gedanken an jene Stunde. Ich weiß es, sie liebten beide, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, eine hehre Gestalt in der Geschichte: jenen Ritter Ulrich von Hutten, den Mann, der die beginnende neue Zeit erfocht mit seinen scharfen Schlägen, mit seinen scharfen Worten: so, wie er, bald scheidend, seine Kampfgenossen rief, so würden die Toten, könnten sie noch zu uns sprechen, uns Mut und Kraft in die Seele senken zum neuen Kampfe mit seinen Worten:

Ob dann mir nach tut denken

Der Curtisanen List:

Ein Herz läßt sich nicht kränken,

Das rechter Meinung ist.

Ich weiß, noch viel woll’n auch ins Spiel,

Und solltens drüber sterben.

Auf, Landsknecht gut und Reuters Mut,

Laßt nimmer uns verderben!1


1             Ein neu Lied Herr Ulrichs von Hutten (1521).

 


Hier zitiert nach: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Gedächtnis. Rede, gehalten von Paul Levi, bei der Trauerfeier am 2. Februar 1919 im Lehrer-Vereinshaus zu Berlin. Herausgegeben von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) [Berlin 1919].