Rede gegen eine wirtschaftlich-politische Einheitsorganisation der Arbeiterbewegung

Rosa Luxemburg am 31. Dezember 1918 vormittags

Genossen! Ich bedauere nicht nur [nicht], daß in der heutigen Debatte eine sogenannte Gewerkschaftsdebatte sich entwickelt, sondern ich begrüße es. Es verstand sich von selbst, daß in dem Moment, wo wir an die Aufgabe herantreten, die wirtschaftlichen Aufgaben zu behandeln, wir sofort stolpern über den großen Wall, der in den Gewerkschaften vor uns aufgerichtet ist. Die Frage des Kampfes für die Befreiung ist identisch mit der Frage der Bekämpfung der Gewerkschaften. Wir haben dazu in Deutschland zehnmal mehr Grund als in anderen Ländern. Denn Deutschland ist das einzige Land, in dem während der vier Jahre des Weltkrieges keine Lohnbewegungen stattgefunden haben, und zwar durch Parole der Gewerkschaften. Wenn die Gewerkschaften nichts anderes getan hätten, so wären sie zehnmal wert, daß sie zugrunde gehen. Die offiziellen Gewerkschaften haben sich im Verlaufe des Krieges und in der Revolution bis zum heutigen Tage als eine Organisation des bürgerlichen Staates und der kapitalistischen Klassenherrschaft gezeigt. Deshalb ist es selbstverständlich, daß der Kampf um die Sozialisierung in Deutschland sich in erster Linie befassen muß mit der Liquidierung dieser Hindernisse, die die Gewerkschaften der Sozialisierung entgegenstellen. In welcher Weise ist diese Liquidierung durchzusetzen? Welches positive Gebilde ist an die Stelle der Gewerkschaften zu setzen?

     Ich muß mich entschieden gegen die Anregung der Genossen aussprechen, die hier in einem Bremer Antrag1 die sogenannte Einheitsorganisation vorschlagen. Sie haben eins nicht bemerkt. Wir sind daran, die Arbeiter- und Soldatenrate zu Trägern sämtlicher politischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse und Machtmittel der Arbeiterklasse auszugestalten. Dieser Gesichtspunkt in erster Linie hat maßgebend zu sein für die Organe für den wirtschaftlichen Kampf.

     In den Leitsätzen2 ist ein leitender Gedanke ausgeführt: Die Arbeiterräte sind berufen, die wirtschaftlichen Kämpfe zu leiten und zu beaufsichtigen, und zwar von ihren Betrieben aus. Betriebsräte, gewählt durch Betriebsobleute, im Zusammenhang mit Arbeiterräten, die gleichfalls aus den Betrieben herauskommen, in die Spitze der Reichswirtschaftsräte zusammenlaufend. Sie werden sehen, daß die Leitsätze auf nichts anderes herauskommen als auf eine vollständige Aushöhlung aller Funktionen der Gewerkschaften. (Beifall.) Wir expropriieren die Gewerkschaften aus den Funktionen, die sie von den Arbeitern anvertraut bekamen und veruntreut haben. Wir ersetzen die Gewerkschaften durch ein neues System auf ganz neuer Grundlage. Die Genossen, die die Einheitsorganisation propagieren, scheinen befangen in den Gedanken …

     Das waren Mittel und Wege, die man ergreifen konnte vor der Revolution. Heute müssen wir uns auf das System der Arbeiterräte konzentrieren, müssen die Organisationen nicht durch Kombination der alten Formen, Gewerkschaft und Partei, zusammengeschlossen, sondern auf ganz neue Basis gestellt werden. Betriebsräte, Arbeiterräte, und weiter aufsteigend, ein ganz neuer Aufbau, der nichts mit den alten, überkommenen Traditionen gemein hat.

     Es geht nicht an, zwischen Tür und Angel einen solchen Antrag von Bremen und Berlin3 anzunehmen. Auch die Parole des Austritts aus den Gewerkschaften hat einen kleinen Haken für mich. Wo bleiben die kolossalen Mittel in den Händen jener Herren? Das ist nur eine kleine praktische Frage. Ich möchte nicht, daß man alle Gesichtspunkte vergißt bei der Liquidierung der Gewerkschaften, und ich möchte nicht eine Trennung, bei der vielleicht noch ein Teil der Machtmittel in jenen Händen bleibt.

     Ich schließe mit dem Antrag: Ich möchte Sie bitten, die hier eingebrachten Anträge zu überweisen derselben Wirtschaftskommission, die hier diese Leitsätze ausgearbeitet hat. Sie ist gewählt von den Arbeiter- und Soldatenräten, die auf dem Boden des Spartakusbundes stehen, und sie arbeitet unter Hinzuziehung von Mitgliedern der Spartakus-Zentrale. Sie fühlt sich nicht befugt, endgültige Beschlüsse zu fassen, sondern hat die Leitsätze ausgearbeitet, um sie den Genossen im Lande vorzulegen. Die Mitgliedschaften sollen sich damit befassen, damit alles auf die breiteste demokratische Grundlage gestellt wird, damit jeder einzelne teilnimmt. Dann werden wir sicher sein, daß das, was geschaffen ist, eine reife Frucht des Kampfes ist. Ich bitte Sie, die Anregungen nur als Anregungen zu betrachten, sie der wirtschaftlichen Kommission zu überweisen und die Richtlinien den Mitgliedschaften vorzulegen.


1 Gemeint ist ein Antrag von Felix Schmidt (Hannover) und Genossen, durch den die Mitglieder der KPD verpflichtet werden sollten, aus den Gewerkschaften auszutreten und die KPD als wirtschaftlich-politische Einheitsorganisation aufzubauen. Dieser Antrag wurde zurückgezogen.

2 Gemeint sind «Wirtschaftliche Übergangsforderungen für die Industrie- und Handelsarbeiter», die zum Teil in der «Freiheit» (Berlin), Nr. 83 vom 31. Dezember 1918 und in der «Deutschen Allgemeinen Zeitung» (Berlin), Nr. 664 vom 31. Dezember 1918 abgedruckt worden waren und auf dem Parteitag verteilt wurden.

3 Gemeint ist der Antrag von Felix Schmidt (Hannover) und Genossen sowie ein Antrag von Ernst Ringer (Berlin), in dem die Zugehörigkeit zu den Gewerkschaftsverbänden als mit den Zielen und Aufgaben der KPD unvereinbar abgelehnt und zur Durchführung der wirtschaftlichen Kämpfe und zur Übernahme der Produktion nach dem Sieg der Revolution die Bildung revolutionärer örtlich begrenzter Arbeiterorganisationen, sog. Einheitsorganisationen, gefordert wurde.


Zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 483-485.