Rede von Paul Levi am Grab von Rosa Luxemburg

13.06.1919

Liebe Genossen und Genossinnen!

Nach fünf Monaten bringen wir hier zur Erde, was von Rosa Luxemburg zur Erde gehört. Fünf Monate treibt der Körper auf der Welt umher, gehasst noch im Tode, geschändet noch im Tode, verflucht noch im Tode von denen, die sie gemordet haben.

     Aber der tote Körper steht auf, und auf steht mit ihm der Fluch, der dreifache Fluch für die, die das getan haben. Der Fluch, nicht für die, die vorgeschoben sind, nicht für die Henker, der dreifache Fluch gilt denen, die den Mord veranlasst haben und heute noch in den Ministersesseln sitzen. Der dreifache Fluch gilt denen, die nach der Schande eines Krieges von fünf Jahren noch eine tausendfach größere Schande verübt haben.

     Der tote Leib steht auf und richtet über die, die das getan haben. Der tote Leib, er wird zum Rächer werden, denn er wird aufrufen die Geister, die das Werk der Rache vollziehen werden.

     Sie haben den Leib getötet, aber der Geist ist nicht tot geworden!

     Der Geist ist nicht tot geworden, mit denen, die neben Rosa Luxemburg erschlagen wurden. Er ist nicht tot geworden mit dem Morde von Karl Liebknecht, mit dem Tod des Leo Jogiches. Der Geist ist nicht gemordet worden durch die Schüsse, die heute noch herüberhallen aus München. Der Geist ist nicht tot geworden mit Leviné, der Geist wird nicht sterben, wenn wir alle im Grabe liegen werden. Der Geist, er lebt, er lebt heute mehr denn je.

     Liebe Genossen und Genossinnen!

     Denken Sie an Deutschland nur, denken Sie an dieses Deutschland, in dem die Gegenrevolution heute triumphiert. In diesem Deutschland haben sie die Revolution erschlagen. Denken Sie daran, was in diesem Lande die Proletarier gelernt haben in den letzten fünf Monaten. Wie sie trotz materieller Schwäche groß und stark geworden sind im Geiste. Denken Sie daran, wie das deutsche Proletariat heute dasteht, geschlossener und aufrechter denn je. Wenn es so gestanden hätte im Januar, die Tote würde heute noch leben.

     Ihr Geist ist lebendig geworden allerorten. Drüben aus dem Westen kommt ein dumpfer Schall, die Tiefen rühren sich, man spürt den Vulkan, der heute oder morgen kann ausbrechen.

     Es ist der Geist Rosa Luxemburgs, des besten Kopfes der Internationale, der dort umgeht. Und so sage ich euch, liebe Genossen und Genossinnen, eine Beerdigung, eine Leichenfeier, so wie diese hat die Welt noch nicht gesehen. Überall, wo proletarische Herzen schlagen, da ruhen heute die Hände. Es ruhet eine halbe Welt, diese Tote zu ehren. Im gewaltigen Russland und in Ungarn feiern heute unsere Brüder um dieser Toten willen. Und wir wissen, in Frankreich und Italien und in England mögen die Proletarier heute so weit sein, dass sie die Arbeit ruhen lassen, oder mögen sie es nicht sein, heute sind ihre Gedanken hier an diesem stillen Ort.

     Hier ist heute die Welt!

     Liebe Genossen und Genossinnen!

     Von diesem Orte aus wird gehen die Erneuerung der Welt. Die Gedanken Rosa Luxemburgs werden lebendig und stark werden, und wenn einst der Tag kommen wird, wo die Völker ihr Heil im Kommunismus erkennen, mögen wir noch hier stehen oder mögen wir drunten liegen, die Völker werden wallfahren nach diesem Ort, und die Väter werden ihren Kindern sagen, tuet eure Schuhe aus, denn der Ort, auf dem ihr stehet, ist heiliger Boden.

     Die Völker, die sich geschändet und besudelt haben, werden dann wieder Menschenantlitz gewinnen, und das erste Lächeln wird Rosa Luxemburg gelten.

     So wird ihr Geist nicht ruhen. Er wird schaffen und zeugen, er wird der Welt leuchten wie eine Feuersäule durch die Nacht.

     Liebe Genossen und Genossinnen!

      Wir können heute an diesem Grabe nicht kundtun, das, was menschlich uns bewegt, wir können nicht an diesem Grabe kundtun, all das, was wir kundtun möchten, was wir an persönlicher Liebe, an Treue und Anhänglichkeit dieser Toten zu geben haben, denn Rosa Luxemburg, sie starb als die Kämpferin.

     So können wir heute nicht Abschied nehmen, so wie es uns um das Herz ist, wir klagen nicht, wir zagen nicht.

      Nicht mit gedämpftem Trommelschall können wir die Tote zur Erde betten. Wie über dem Reitergrab als letzter Gruß der Klang der Retraite erklingt, so müssen wir der Toten heute zurufen den Gruß, von dem wir wissen, Millionen und Abermillionen auf der weiten Welt werden ihn aufnehmen.

     Wir senden heute dieser Toten als letzten Gruß den Gruß der proletarischen Welt, den Gruß der Internationale, den Gruß vom Leben, den Ruf: »Es lebe die Weltrevolution.«



Zuerst veröffentlicht als »Grabrede für Rosa Luxemburg. ›Hier ist heute die Welt!‹« in: Die Zeit, 4. Juni 2009.

Hier zitiert nach Paul Levi: Spartakus, Bd. 2,  An der Spitze der deutschen Kommunisten 1919/20, Berlin, S. 1106-1107.