Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zum Gedächtnis

Paul Levi 15. Januar 1929

Das sind nun zehn Jahre her, das folgendes geschah. An einem trüben Januartage ward ich von ein paar Uniformierten – »Ordnungsträger« genannt – verhaftet, erst in das Reichstagsgebäude und dann in das Moabiter Untersuchungsgefängnis geschleppt. Dort saß ich ein paar Tage und bat um meine Uhr. Die sollte ich bekommen. Eines Abends, es war dunkel und furchtbar kalt in der Zelle, kam ein Inspektor, um mit mir zu reden. Ich wußte nicht, was der Mann wollte; er redete, wie wenn er nur wissen wollte, ob ich noch Antwort gäbe. Ich solle unbesorgt sein, im Moabiter Untersuchungsgefängnis sei ich sicher. Ich wußte nicht, was er wollte: Draußen marschierte ein uniformierter Ordnungsgardist mit dem Schießprügel den Gefängnisflügel auf und ab. Wie das mit meiner Uhr sei, frug ich zum Abschied. Morgen solle ich sie bekommen.

     Am nächsten Morgen, so gegen elf, wurde ich ins Bureau geführt, um meine Uhr in Empfang zu nehmen. Drüben über der Barre lagen Zeitungen: darüber in dicker Balkenschrift geschrieben »Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von der Volksmenge erschlagen«. Das war die Form, in der die Banditen das Ereignis bekanntgaben, das war die Form, in der ich die Nachricht erfuhr. Es gibt Minuten, die ein langes Leben aufwiegen: Die zwei Minuten nach dem Lesen dieser Zeilen sind solche Minuten gewesen.

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     Wer damals die Dinge nur flüchtig übersah, der mußte erkennen, daß dieser Mord an den beiden von einer geschichtlichen Bedeutung sei wie etwa der Mord an den beiden Gracchen.1 An der Spitze einer kurzen, jähen Volksbewegung waren beide, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, ins scharfe Licht der Weltgeschichte getreten; neben den wenigen Wochen an der Spitze der »Spartakusbewegung« wird all ihr übriges Wirken versinken. Die glänzende Rednerin, die geistvolle Schriftstellerin, die tiefe Forscherin und Denkerin, die in Liebe zu Tieren und Pflanzen ergebene Rosa Luxemburg, der volle Mensch wird hinter dem Licht dieser wenigen Wochen verschwinden so, wie auch Karl Liebknecht geschichtlich erst wird geboren werden mit dem Dezember 1914, als er gegen die Kriegskredite stimmte, sich öffentlich bekannte zu den Gedanken, die er von Rosa Luxemburg empfing. So viel Leben und so viel Leistung wird verschwinden hinter der Geschichte eines »Straßenaufstandes« von wenig Wochen, und das aus dem Grunde: Wie der Straßenaufstand der Gracchen, wie der Aufstand des Catilina2 war die Spartakusbewegung der Weheschrei einer geschändeten Menschheit; in ihrer Wildheit und Unvermitteltheit, aber auch in der Tiefe ihres Gefühls war sie die leidenschaftlichste Reaktion gegen das Verbrechen des Krieges; mit dieser Leidenschaft der Anklage verband sie den eifrigen Willen zum Sozialismus. In dieser Leidenschaft und diesem Willen hat sie aus revolutionärem Tun das Höchste gegeben, was die deutsche Arbeiterklasse bisher geleistet hat. Dieser Ruhm wird der Spartakusbewegung bleiben auch gegen alle Redereien; auch wenn eine bewegte Ministersgattin in der »Vossischen Zeitung« heute wimmert, wie sie damals eine Nacht um ihr Männchen bangen mußte vor Spartakus.3 Die Ärmste übersieht nur eines: Bei »Spartakus« waren Frauen, die vier Jahre lang, nicht eine Nacht, um ihre Männer bangen mußten.

     Die Schwäche der Spartakusbewegung war – das sieht heute jeder –, daß sie sich zum Straßenaufstand herabdrücken ließ. Das haben Rosa Luxemburg und Leo Jogiches schon damals gesehen. Daß das trotzdem geschah, das beruhte auf einer sachlichen und einer persönlichen Schwäche. Die sachliche Schwäche beruhte in einem Mangel jeder Organisation. So in den Reden von damals und auch noch in manchen Betrachtungen von jetzt stellt sich »Spartakus« dar: als Dachschützen, als Plünderer, als angeworbene Meuterer für 10 Mark den Tag, für russisches Geld natürlich; wie phantasielos sind doch die deutschen Ordnungsmänner, daß sie am Schluß ihrer vierjährigen Bescherung wieder auf die russischen Geldsendungen zurückkommen, mit denen sie 1914 begonnen hatten. In Wirklichkeit war es eine kleine Propagandagruppe, geführt von dem Kopfe von Rosa Luxemburg, zusammengehalten von dem Willen von Leo Jogiches, mit keiner anderen Waffe als mit einem Blättchen während des Krieges, hinter dem schnaufend eine Schar von Kriminalbeamten, ein Reichsanwalt und ein Reichsgerichtssenat her waren. Wie aber eine kleine Gruppe unter Umständen rasch an Einfluß sich weiten kann: Im Januarstreik 1918, den geführt zu haben Ebert als Beleidigung weit von sich wies, gewann diese Gruppe durch ihre Flugblättchen rasch Bedeutung. Dazu der Name Liebknecht. Keiner hat es schon während des Krieges schöner bekannt, was es war, daß ein Mann, ein einziger, offen aufstand gegen das Gemetzel, als Barbusse, der Franzose, in seinem Roman.4 Das alles, gruppiert um die Idee des Sozialismus, war der Nimbus von Spartakus. Was ihm fehlte, war die Organisation. Und so ward sein Nimbus des Spartakus Schaden. Denn auf dieses Licht flogen alle Motten. Als auf dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei alle wildgewordenen Spießbürger Deutschlands, genannt Anarchisten, zusammenliefen und gegen die klare Einsicht von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches die entstehende Partei ins Unglück stimmten, wollte Jogiches gleich die ganze Gesellschaft »wieder auseinanderhauen«. Er hatte recht. Denn durch nichts ist das wirkliche Gesicht von Spartakus so entstellt worden als durch die radikalen Maulaufreißer, die damals zusammenliefen. Sie sind übrigens inzwischen alle still geworden und haben den Mund wieder zusammen bekommen. Aber Rosa Luxemburg, Leo Jogiches und Karl Liebknecht sind tot.

     Spartakus hatte auch eine persönliche Schwäche. Karl Liebknecht hat diesen Abweg, auf den Spartakus von den Anarchisten gezogen, von rechts gedrängt wurde, nicht erkannt. Keiner der Anwesenden wird die Szene vergessen, als Rosa Luxemburg Karl Liebknecht das Dokument vorhielt, das gezeichnet war: »Die provisorische Regierung, Ledebour, Liebknecht, Scholze«. Sie frug ihn nur: »Karl, ist das unser Programm?!« Der Rest war Schweigen.

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     Das alles ist auch der Grund, weswegen die sichtbaren Spuren der Spartakusbewegung gering geblieben sind. Es gibt heute in Deutschland eine Kommunistische Partei; sie behauptet, mit dem Werke von Rosa Luxemburg in einem Zusammenhang zu stehen. Das hat aber, beispielsweise, nicht verhindert, daß einer der vielen – gekommenen, gegangenen, gewesenen – Führer und Führerinnen dieser Partei auf dem Grabe von Rosa Luxemburg unter jubelndem Zuruf der Menge die Notdurft sozusagen verrichten durfte.5 Das, was Rosa Luxemburg im Jahre 1918 über die russische Revolution schrieb und was so grausam-bitter Wahrheit geworden ist, ist die herbste Kritik an dieser Kommunistischen Partei, die kritiklos »Rußland« lallt. Man kann nicht sagen, daß die Ideen der Kommunistischen Partei denen von Rosa Luxemburg entgegenstehen. Jene Partei hat diese Ideen verloren, und neue hat sie nicht dazu bekommen. So muß man nach zehn Jahren den Namen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht reinigen von dem Schmutz, den »ihre« Partei ihnen aufgehängt. Diese Freunde versuchen, ihre Namen zu schänden; das wird ihnen nicht gelingen. Denn die Feinde von Rosa Luxemburg, Leo Jogiches und Karl Liebknecht haben ihnen den Tod des Martyriums gegeben und damit die Namen in die Sterne erhoben. »Die aber, die wir beweinen, werden lebendig bleiben in aller Herz und aller Mund. Ihre Namen werden verzeichnet stehen auf dem großen Altar, den einst eine freie Menschheit ihren Helden bauen wird.«12


1             Zu Levis Zeiten galt der Versuch einer Landreform, den die Brüder Tiberius Sempronius Gracchus und Gaius Sempronius Gracchus im Rom des 2. Jahrhunderts v. u. Z. unternahmen, als revolutionäre Tat. Heute wird darin eher eine Auseinandersetzung innerhalb der Nobiltät denn ein revolutionäres Geschehen gesehen.

2             Heute ist es umstritten, ob es den Umsturzversuch des Senators Lucius Sergius Catilina im Jahr 63 v. u. Z. so überhaupt gegeben hat.

3             Eine Quelle konnte nicht ermittelt werden. Die einzige »Ministersgattin«, die in dieser Zeit in der »Vossischen Zeitung« über den Januar 1919 schrieb, war die Ehefrau des ehemaligen württembergischen Ministerpräsidenten Wilhelm Blos, Anna Blos, 1919 Abgeordnete der Nationalversammlung, die jedoch Spartakus mit keinem Wort erwähnte. Vgl. dies.: Die Frau im Parlament. Nach zehn Jahren, in: Vossische Zeitung, 10. Januar 1929, Morgenausgabe. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Wilhelm Blos hatte dem Kommunisten Levi am 21. Februar 1919 in Stuttgart Redefreiheit zugesichert, ihn nach einer friedlich und erfolgreich verlaufenen Veranstaltung aber nachts aus dem Hotel holen und Levi, der württembergischen Staatsbürger war, aus Württemberg ausweisen lassen. Möglicherweise beging Blos diesen Wortbruch unter dem Einfluß seiner Frau; nach den Januarkämpfen in Berlin tobte in Deutschland gegenüber der KPD eine allgemeine Hysterie. An Levis Ausweisung schloß sich ein zwei Jahre langer Rechtsstreit an, den Levi letztlich verlor.

4             Gemeint ist Henri Barbusse: Das Feuer, 1916.

5             Gemeint ist Ruth Fischer.

 


Hier zitiert nach: Der Klassenkampf. Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 3, Nr. 2, 15. Januar 1929.