Um den Vollzugsrat

Rosa Luxemburg am 11. Dezember 1918

Mitten im Wirrwarr sich überstürzender gegenrevolutionärer Anschläge, Hetzereien und Konspirationen vollzieht sich eine Tatsache von allerhöchster Wichtigkeit für die Geschicke der Revolution: die Ausschaltung des Vollzugsrats der A.- u. S.-Räte und dessen Verurteilung zu völliger Macht- und Bedeutungslosigkeit.

     Erinnern wir uns, wie die Dinge zu Beginn der Revolution lagen. Die Revolution des 9. November ist von Arbeitern und Soldaten gemacht worden. Die Bildung von A.- u. S.-Räten war die erste Tat, das erste bleibende Produkt, der erste sichtbare Sieg der Revolution. Die A.- u. S.-Räte waren allenthalben die Verkörperung der Tatsache, daß die Herrschaft der imperialistischen Bourgeoisie beseitigt und eine neue politische und soziale Ordnung im Sinne der großen Volksmasse, die aus Arbeitern und Soldaten besteht, beginnen sollte.

     Die A.- u. S.-Räte waren also Organe der Revolution, Träger der neugeschaffenen Ordnung, Vollstrecker des Willens der arbeitenden Massen im Arbeitskittel und im Soldatenrock. Vor den A.- u. S.-Räten eröffnete sich ein gewaltiges Feld der Arbeit. Ihnen fiel ja die Aufgabe zu, den Willen der revolutionären Volksmasse erst ins Werk zu setzen und die ganze soziale und politische Maschinerie des Staates in proletarisch-sozialistischem Sinne auszubauen.

     Um diese Arbeit in Angriff zu nehmen, brauchen die A.- u. S.-Räte, die ja über das ganze Reich zerstreut sind, ein Zentralorgan, das ihren Willen und ihre Aktion einheitlich zum Ausdruck bringt, und als ein solches Organ wurde am 10. November im Zirkus Busch der Vollzugsrat der A.- u. S.-Räte gewählt.  

     Freilich, er wurde vorerst nur vom Berliner A.- u. S.-Rat gewählt. Die Einberufung des Reichsparlaments der A.- u. S.-Räte ließ sich nicht sofort bewerkstelligen, so sollte denn der vom Berliner A.- u. S.-Rat gewählte Vollzugsrat provisorisch als das Zentralorgan der deutschen Arbeiter und Soldaten fungieren.

     Demnach sollte der Vollzugsrat bis zum Zusammentritt des Zentralrats der A.- u. S.-Räte die höchste Behörde des Deutschen Reiches sein, der Träger der Souveränität des gesamten arbeitenden Volkes, das oberste Organ der Macht der sozialistischen Republik.

     So lautet auch die erste Kundgebung, womit sich der Vollzugsrat am anderen Tage nach seiner Konstituierung, am 11. November, eingeführt hatte:

                    «An die Einwohner und Soldaten
                                   Groß-Berlins!

     Der von den Arbeiter- und Soldatenräten Groß-Berlins gewählte Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrats hat seine Tätigkeit aufgenommen.

     Alle kommunalen, Landes-, Reichs- und Militärbehörden setzen ihre Tätigkeit fort. Alle Anordnungen dieser Behörden erfolgen im Auftrage des Vollzugsrats des Arbeiter- und Soldatenrats.» [Hervorhebung — R. L.]

     Hier ist klipp und klar, ohne daß der geringste Widerspruch von irgendeiner Seite erfolgt wäre, die selbstverständliche Tatsache ausgesprochen, daß der Vollzugsrat die ganze Fülle der politischen Macht in der Republik darstellt, daß alle anderen Organe und Behörden des Reiches ihm untergeordnet, nur ausführende Organe seines Willens sind.

     Was ist nun aus dieser souveränen Machtposition in den kurzen vier Wochen geworden, die seitdem verflossen sind!

     Neben dem Vollzugsrat ist gleichzeitig von Anfang an ein «Rat der Volksbeauftragten», das «politische Kabinett» der Ebert-Haase, eingesetzt worden.

     Zuerst aus einer paritätischen Abmachung der Abhängigen und der Unabhängigen Partei hervorgegangen, wurde dieser Rat der Volksbeauftragten bekanntlich von derselben Plenarsitzung der Großberliner A.- u. S.-Räte im Zirkus Busch am 10. November bestätigt, die den Vollzugsrat gewählt hat.

     Welches sollte das Verhältnis der beiden Organe sein? Es ist klar, wenn der Vollzugsrat, wie es die A.- u. S.-Räte wünschten und wie die unwidersprochen gebliebene Kundgebung des Vollzugsrats vom 11. November lautete, das höchste Organ der Republik sein sollte, dann war damit ohne weiteres gegeben, daß auch der «Rat der Volksbeauftragten», d. h. die Ebert-Haase, dem Vollzugsrat gleich allen anderen Reichsbehörden untergeordnet sein mußte. Das Ebert-Haase-Kabinett konnte einzig und allein ausführendes Organ des Vollzugsrats und seines Willens sein.

     Dies und nichts anderes war auch die Auffassung auf allen Seiten im ersten Augenblick nach der Entstehung der beiden Körperschaften.

     Die dauerte aber nicht lange. Am anderen Tage bereits begann die sichtbare Bestrebung der Scheidemänner, das Ebertsche Kabinett erst als unabhängiges Organ neben und dann Schritt um Schritt über den Vollzugsrat zu setzen. Der alte Satz Lassalles von der geschriebenen Verfassung und den realen Machtverhältnissen sollte sich wieder einmal bewahrheiten. Das Recht der Souveränität war nach dem Willen der A.- u. S.-Räte auf seiten des Vollzugsrates, die tatsächliche Macht aber haben die Ebert und Co. auf ihre Seite zu bringen gewußt.

     Durch endlose Kommissionssitzungen, Kompetenzberatungen, Verschleppungsmanöver wußten die Leute den Vollzugsrat hinzuhalten und die Frage des gegenseitigen Verhältnisses in Schwebe zu halten. Derweil aber vor den Kulissen debattiert wurde, haben die Ebert-Leute hinter den Kulissen gehandelt. Sie haben die gegenrevolutionären Elemente mobil gemacht, sich auf das reaktionäre Offizierskorps gestützt, sich in der Bourgeoisie und dem Militär Stützpunkte geschaffen und den Vollzugsrat mit skrupellosem Zynismus an die Wand gedrückt.

     Die reife Frucht dieser emsigen Umtriebe, die Aktion, die sie abschließen sollte, war der Putsch des 6. Dezember, der die Ebert-Diktatur zu proklamieren, den Vollzugsrat aber zu beseitigen hatte, und die Vollendung dieser Aktion ist der Einzug der Gardetruppen in Berlin.

     Zur Charakteristik der heutigen Lage des Vollzugsrats genügt es festzustellen, daß ein Akt von so ungeheurer Wichtigkeit wie der Einmarsch der Truppen, wie ihre Nichtentwaffnung ohne die Bewilligung, ja gegen den Protest des Vollzugsrats geschehen ist.  

     Das Ganze krönt der Eid, den die Gardetruppen in die Hand Eberts geleistet haben:

     «Wir geloben, zugleich im Namen der von uns vertretenen Truppenteile, unsere ganze Kraft für die einige deutsche Republik und ihre provisorische Regierung, den Rat der Volksbeauftragten, einzusetzen.»

     Die Gardetruppen wurden also aufgefordert zu schwören, nur für den Rat der Volksbeauftragten einzutreten. Nur das Ebert-Kabinett ist «die Regierung», der Vollzugsrat ist nicht einmal erwähnt, er existiert nicht! Er wird wie Luft behandelt.

     Die ganze Aktion des Empfangs der Truppen, ihrer Nichtentwaffnung, ihrer Vereidigung ist offensichtlich ohne den Vollzugsrat, hinter seinem Rücken gemacht. Wir sind felsenfest überzeugt, daß der Vollzugsrat über den ganzen Vorgang erst wie das übrige Publikum aus den Zeitungen erfahren hat.

     Ja, diese Aktion, dieser Eid, aus dem der Vollzugsrat völlig ausgeschlossen ist, erscheinen eben dadurch als direkt gegen den Vollzugsrat gerichtet! Der Einmarsch der Garde, ihre Bewaffnung, ihr Eid — das war eine Demonstration des Ebertschen Kabinetts, eine Machtentfaltung, eine Drohung und eine Provokation in erster Linie gegen den Vollzugsrat der A.- u. S.-Räte!

     Der Vollzugsrat ist ein Schatten, ein Nichts — das sollte die Ebertsche Demonstration beim Gardeempfang vor aller Welt sagen.

     Und diese Dreistigkeit, dieses Selbstbewußtsein der Gegenrevolution 4 Wochen nach der Revolution, die Arbeiter und Soldaten gemacht haben!

     Es ist klar, daß im Vollzugsrat die A.- u. S.-Räte, in ihnen die Arbeiter-und Soldatenmasse getroffen werden sollten. Ihr Organ, das Organ der proletarischen Revolution, ist zur völligen Ohnmacht verurteilt worden, die Macht ist ihnen aus den Händen gewunden und an die gegenrevolutionäre Bourgeoisie ausgeliefert worden.

     Freilich, kein politischer Machtfaktor läßt sich je die Macht entgleiten, es sei denn durch eigene Schuld. Nur die Aktionsunfähigkeit und die eigene Indolenz des Vollzugsrats hat den Ebert-Scheidemann das Spiel ermöglicht.

     Die Leidtragende ist aber die Arbeitermasse selbst. An ihr liegt es, bei dem bevorstehenden Zusammentritt des Reichsparlaments der A.- u. S.-Räte einen Vollzugsrat zu schaffen, der mehr als ein Schattendasein zu führen imstande ist, und den Ebert und Co. die durch gegenrevolutionäre Umtriebe erschlichene Macht mit starker Faust zu entreißen. Wenn die  A.- u. S.-Räte ganz Deutschlands das Scheidemann-Ebertsche Nest nicht rücksichtslos zerstampfen, werden sie sich sehr bald selbst, genau wie der jetzige Vollzugsrat, ausgeschaltet und schließlich von der siegreichen Gegenrevolution erdrosselt sehen.

 


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 26 vom 11. Dezember 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 435-439.